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Full text of "The source of the drug Dioscorea, with a consideration of the Dioscoreae found in the United States"

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DER 


SKEPTIZISMUS IN DER PHILOSOPHIE 


VON 


RAOUL RICHTER 

PRTVATDOZENT AN DER UNIVERSITAT LEIPZIG 


ERSTER BAND 





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Drack der Buchdrnckerei des Waisenhausei in Halle a. S 



Motto: 

,, Im allgemeinen wd dn for allemal Folgendes bemerkt. Es handelt 
sick bier wie auch Im gasmen Verlanf dieter Untersuchungen nm typiscbe 
Gedanken; und es wSre ein starker Irrtom , zn glauben , die Dinge, von 
denen wir reden, seien Qberwundene, verakete, etwa nor ans kultnrhistorisckem 
Gesichtspunkt als Denkmkler der Vergangenbeit interessant bleibende Meinongen 
and Ansichten eines weit hinter ans liegenden Zeitalters. Typiscbe Gedanken 
sind es , von denen wir sprechen , von jeder Zeitstrdmung and voxUbergebenden 
Geistesmode an&bhlngige Problems, typiscbe Denkmfiglicbkeiten and typiscbe 
Denkwege , die der konsequent denkende , von keiner Autoritat and Schul- 
Qberlieferang voreingenommene Ventand jederseit and allerorten einschlagen 
kann ; heate so gat wie vor fBnfundzwanxig Jabrbanderten , im christlichen 
Earopa so got wie an den Kiisten des ionachen Kleinasien oder im Delta 
des Nils oder an den Ufern des Ganges. “ 

(Liebmann, Gedanken nnd Thatsachen II, S. 1x8.) 


Vorwort. 

Ob eine skeptische Philosophic moglich sei, ist ein Problem; 
dafi es einen philosophischen Skeptizismus gibt, ist Tatsache. Der 
Skeptizismus spielt in der Philosophic eine doppelte Roller er ist 
die Anschauung, in die gewisse Grundrichtungen des philosophischen 
Denkens, wenn sie auch noch so zuversichtlich beginnen , rettungslos 
einmunden als in die letzte Konsequenz der eigenen Voraus- 
setzungen; so ist er ein Ende und eine Auflosung. Er ist aber 
auch die Anschauung, deren Bekimpfung und Oberwindung anderen 
philosophischen Denkrichtungen erst die Aufgabe, das Ziel, ja das 
Leben gibt; so ist er ein Anfang und eine Auslosung. 

Mit der Darstellung und der Kritik des philosophischen 
Skeptizismus besch&ftigt sich die vorliegende Arbeit, deren erster 
Band hier erscheint. Ihr Ziel ist ein durchaus philosophisches. 
Von den Gedanken der geschichtlich aufgetretenen Skeptiker sollen 
nur die philosophisch wertvollen berucksichdgt, in der Beurteilung 
derselben nur philosophisch haltbare Gesichtspunkte angewandt 
werden. Aus dem Netzwerk der antiken Skepsis gibt es noch 
mehrere breite Auswege in das freie Land der Erkenntnis; wenn aber 
im Lauf der Geschichte der grundsatzliche Zweifel immer weitere 
Opfer fordert und auch diese Auswege versperrt, verengt sich die 
Moglichkeit, ihm zu entgehen, in steigendem Mafie. Schliefilich 



IV 


Vorwort 


wird die Kritik, die sich ihm nicht ergibt, auf einen schmalen und 
schwierigen Weg gedrangt, den nun noch allein ubrig bleibenden 
Pfad, der zur Wahrheit heranfuhrt. Mit diesem Ergebnis findet 
die Kritik einen systematischen AbschluG. 

Durch den Zweck sind die Mittel vorgezeichnet. Da das 
Historische sich dem Philosophischen hier unterzuordnen hat und 
nur als dessen klassische Representation benutzt werden soil, durfte 
dies Buch nicht zu einer fortlaufenden Liste werden, in welche die 
Ansichten aller, die irgendwie eine skeptische Geisteshaltung ein- 
genommen haben, erst dargestellt, dann beurteilt, einzutragen 
waren. Vielmehr ist nach den philosophischen Grundmoglichkeiten, 
den Skeptizismus zu vertreten, die Einteilung getroffen worden. 
So wird das erste Buch von dem total en Skeptizismus handeln, 
der seine Zweifel uber alle Gebiete erstreckt; es soli die extrem- 
realistische Skepsis der Antike (Pyrrhoniker und Akademiker), die 
naturalistische Skepsis der Renaissance (Montaigne u. a.), die em- 
piristische Skepsis der neueren (Hume) und die biologische der 
neuesten Zeit (Mach, Nietzsche etc.) in besonderen Abschnitten 
besprechen. Das zweite Buch hat den partiellen Skeptizismus 
zum Gegenstand, der nur die Erkenntnismdglichkeit fur grofie 
Teilgebiete bezweifelt, und der den immanenten Skeptizismus bei 
transzendentem Dogmatismus (Pascal und die Mystiker), sowie den 
transzendenten Skeptizismus bei immanentem Dogmatismus (Kant) 
unter sich befafit 

Da die antike Skepsis infolge ihrer jahrhundertelangen Ge- 
schichte und ihrer Vertretung durch hervorragende philosophische 
Kopfe einen immer weiteren Gesichtskreis und immer tiefere Be- 
grundung gewann, deshalb auch bereits die Entwicklung fast aller 
grundsatzlichen Richtungen in der Erkenntnistheorie zu ihrer Beur- 
teilung erfordert — denn mit dialektischer Zersetzung einiger 
dialektischer Behauptungen ist hier nichts getan — , so macht die 
Besprechung der griechischen Skepsis den alleinigen Inhalt dieses 
ersten Bandes aus. Dazu kommt, dafi eine Fulle von Fragen, 
Leben und Lehre der einzelnen Skeptiker betreffend, historisch 



Vorwort. 


y 


und philologisch noch der endgiiltigen Klarung harren und die 
Ausfuhrung anschwellen liefien. Der Text gibt die Darstellung im 
Sinne der Annahmen , die nach des Verfassers Ansicht die grofite 
Wahrscheinlichkeit beanspruchen; Ober die Griinde dafiir und den 
augenblicldichen Stand der Forschung geben die Anmerkungen 
hinter dem Text Rechenschaft Wahrend die Anmerkungen zum 
. ersten und zweiten Kapitel nur den Fachmann interessieren konnen, 
wird gerade der philosophisch nicht geschulte Leser darauf hin- 
ge wiesen, daB die Einsicht in die Anmerkungen zum dritten Kapitel, 
zur Kritik der skeptischen Lehren, besonders in die kleinen ter- 
minologischen Exkurse, ihm das Verstandnis dieser Partien im Text 
erleichtem diirfte. — Endlich bemerke ich noch, dafi die Ergebnisse 
meiner Studie iiber „die erkenntnistheoretischen Voraussetzungen 
des griechischen Skeptizismus" (Phil. Studien Bd. XX) stellenweise 
in den vorliegenden Band eingearbeitet worden sind. 

Der zweite und letzte Band, der in nicht langer Zeit 
folgen sqII, wird die iibrigen Formen des totalen und die Haupt- 
gruppen des partiellen Skeptizismus zu behandeln haben. Da er 
die Vorarbeiten schon zum grofien Teil durch diesen Band geleistet 
findet, vermag er die grofiere Masse auf entsprechend kleinerem 
Raum zu bewaltigen. 


Raoul Richter. 





INHALTSVERZEICHNIS. 


Seite 

Einleitung IX 

Erstes Buoh: Der totale Skeptizismus. 

Erster Abschnitt: Die griechische Skepsis. 

(Der extrem - realistische und der eudaimonistische Skeptizismus.) 

Erstes Kapitel: Vorgeschichte und Verlauf der griechischen 

Skepsis 3 

I. Die Vorgeschichte der griechischen Skepsis 3 

II. Der geschichtliche Verlauf der griechischen Skepsis ... 21 

1. Der Pyrrhonismus 21 

2. Die akademische Skepsis 34 

Zweites Kapitel: Die Darstellung des griechischen Skeptizismus 42 

I. Das allgemeine Prinzip der Isosthenie 42 

II. Die sensuale Skepsis 47 

III. Die rationale Skepsis . . 58 

IV. Die Skepsis gegen einzelne Wissensinhalte (Naturzusammen- 

hang — Gott — Werte) 79 

V. Negative und positive Konsequenzen des Skeptizismus ... 95 

Drittes Kapitel: Die Kritik der griechischen Skepsis . . . . 121 

I. Das allgemeine Prinzip der Isosthenie 121 

II. Die sensuale Skepsis 127 

III. Die rationale Skepsis 222 

IV. Die Skepsis gegen einzelne Wissensinhalte (Naturzusammen- 

hang — Gott — Werte) 268 

V. Negative und positive Konsequenzen des Skeptizismus . . . 287 


A 




Einleitung. 


Der abschliefiende Begriff, den man sich von dem philo- 
sophischen Skeptizismus zu bilden hat nach seinem eigentumlichen 
Inhalt und in alien seinen Einzelheiten , wird sich erst dann genau 
bestimmen lassen, wenn wir die verschiedenen skeptischen An- 
schauungen selbst kennen gelemt und kritisch betrachtet haben 
werden — also am Schlufi, nicht zu Beginn dieser Untersuchung. 
Aber ein vorlaufiger und allgemeiner Begriff muB jeder Arbeit, 
die von dieser Denkart handelt, vorangehen, ein Begriff, der iiber 
den Gegenstand orientiert, dessen Ergriindung zur Aufgabe gestellt 
ist. Philosophischer Skeptizismus lafit sich durch philosophische 
Zweifellehre wiedergeben; ihm steht der philosophische Dogmatis- 
mus als philosophische Meinungslehre gegeniiber. Das griechische 
Wort 6xiitre<Qat bedeutet ursprunglich: um sich schauen, spahen; 
auf geistige Objekte angewandt: erwagen, priifen, unentschieden 
sein. An dieser skeptischen Geisteshaltung, die immer spaht, pruft, 
erwagt, hat die deutsche Sprache als die bezeichnendste Eigen- 
tiimlichkeit das zwischen zwei Seiten Schwanken festgehalten und 
die Unentschiedenheit der Meinung: zweifeln genannt Der gleiche 
Vorgang wiederholt sich in der lateinischen Terminologie, wo das 
dubitare (douter, doubt) den Stamm duo deutlich erkennen laBt. 
Auf der andem Seite aber ist Soy/jia (von Soxeiv) durch Ansicht, 
Meinung, SoypiariZetY durch: eine Meinung, Ansicht aufstellen zu 
iibersetzen; wobei das Meinen nicht etwa einen schwacheren Grad 
des Wissens, vielmehr den geraden Gegensatz zum Nichtwissen und 
Keiner- Meinung -sein bedeuten soli. Demnach ist der Skeptiker 
ein Zweifelnder und Unentschiedener, der Dogmatiker ein Dber- 
zeugter und Entschiedener; der philosophische Dogmatiker ein 
Mensch, der philosophische Oberzeugungen hat oder eine philo- 
sophische Lehransicht vertritt; der philosophische Skeptiker sein 

Richter, Skeptiasmee, ft 



X 


Eraleitunp. 


Widerpart. In diesemSinne linden sich die Ausdriicke als stehende 
Bezeichnung fur die genannten Richtungen bei Galen, Gellius, Sextus, 
Diogenes Laertius; wann sie aber zum festen Bestandteil des philo- 
sophischen Sprachschatzes geworden sind, ist nicht genau ermittelt 
Der allgemeine Be griff des philosophischen Skeptizismus ge- 
winnt sich aus der Beantwortung zweier Fragen: Was bezweifelt 
der philosophische Skeptiker? Warutn zweifelt der philosophische 
Skeptiker? Um von den allgemeinen Objekten und von den all- 
gemeinen Griinden seines Zweifels eine Vorstellung zu erhalten, 
gehen wir nicht von den in der Geschichte der Philosophie als 
Skeptiker aufgefiihrten Typen aus und untersuchen, was bezweifelten, 
warum zweifelten diese Manner? Wir beginnen vielmehr bei dem 
Kreis der uns alien zuganglichen und nachprufbaren Lebenserfah- 
rungen, um, eingedenk der Aufgabe wahrer Philosophie, die Be- 
griffe des gewohnlichen Lebens zu vertiefen und zu klaren, den 
popularen Begriff des Skeptizismus zum philosophischen Begriff 
zu steigem. Auf diese Weise kommt gleich hier zum Ausdruck, 
dafi nicht ein rein geschichtliches, sondem ein systematisches 
Interesse das Thema gestellt hat Nicht diejenige Anschauung 
gilt es zu prufen, welche von sich selbst oder von andern 1 ) das 
Bei wort „skeptisch“ erhielt, sondern die Anschauung, welche aus 
systematischen Motiven dies Beiwort verdient. Ihre geschichtlichen 
Formen sind nur die konkreten Beispiele, an welchen sich der In- 
halt des philosophischen Skeptizismus am klarsten entwickeln lafit 
Was verstehen wir nun aber im gewohnlichen Leben unter 
einem Skeptiker oder einem Zweifler? Einen, der an irgend etwas 
zweifelt? Etwa, ob die Zahl der Sterne gerade oder ungerade ist, 
ob er den um 5 Uhr abgehenden Eisenbahnzug noch erreichen, 
ob das aufziehende Gewitter sich noch vor Abend entladen wird? 
Ersichtlich ist eine solche Erklarung viel zu weit gegriffen. An 
diesem Begriff des Skeptizismus gemessen waren uberhaupt alle 
Menschen Skeptiker. Solche Zweifel und solche Bedenken sind 
nur das Gestandnis allgemein menschlicher Unvollkommenheit, 
das Gestandnis, dafi menschliche Voraussicht und menschliche 
Berechnung nicht jedes beliebige Ereignis zu erkennen, nicht 
jede beliebige einzelne Frage zu beantworten vermogen. Hier 


1) Daher folgt die Besprechung der einzelnen Definitionen des Skepti- 
zismus, mit denen St&udlin, Geschichte und Geist des Skeptizismus, Leipzig 
1794, beginnt, am Ende dieses Buches. 



Einleitung. 


XI 


steht der Erzskeptiker noch auf demselben Boden mit dem ent- 
schlossensten Dogmatiker. Die Sphare des Begriffs mufi also ver- 
engert werden. Der Zweifel eines Menschen darf nicht am Ein- 
zelnen haften bleiben, er mufi sich zum Allgemeinen steigern, mufi 
sich uber ganze Gebiete ausdehnen, um ihm den Titel eines Skep- 
tikers einzutragen. 

Das hervorragendste Gebiet zur Betatigung des Skeptizismus 
im taglichen Leben ist ohne Zweifel die Religion. Aber hier 
gleich zeigt sich so recht das Fliefiende und Schwankende der 
gewohnlichen Begriffe und ihre Bediirftigkeit, zum wissenschaft- 
lichen Gebrauch kritisch gelautert zu werden. Denn wo fangt die 
religiose Skepsis an, wo hort sie auf? In streng orthodoxen Kreisen 
wird schon als Skeptiker gebrandmarkt, wer die Satze der Landes- 
kirche oder gar die Grunddogmen einer Religion in ihrer Wahr- 
heit bezweifelt. Den mecklenburgischen Bauem gilt der harmlose 
Spott des Onkel Brasig bereits als Skepsis. Freiere Geister werden 
den religiosen Skeptizismus erst mit dem Zweifel am Dasein eines 
personlichen, ja vielleicht eines unpersonlichen Gottes beginnen 
lassen. Der religiose Skeptiker wird oft schlechthin als Skeptiker 
bezeichnet, wie der religiose Dogmatiker schlechthin als Dogma- 
tiker. Denn dem Durchschnittsmenschen galten lange Zeit die 
religiosen Objekte fur die einzigen, fiber deren Existenz und Be- 
schaffenheit ein Gesamtzweifel moglich sei. Aber noch andere 
Gebiete gibt es, iiber die sich der Zweifel erstrecken kann und 
erstreckt Auch von einem ethischen, auch von einem astheti- 
schen Skeptizismus reden wir im taglichen Leben. Es gibt heut- 
zutage viele Menschen, ja ganze Kreise, die nicht mehr recht zu 
wissen meinen, was gut und bose, schon und hafilich zu nennen 
sei und ob moralische und asthetische Werte von verbindlicher 
Kraft bestehen oder nicht; und zu diesen Unglaubigen, wie zu den 
religiosen Zweiflem, gehort nicht nur die Schar jener Ehrlichen 
und Offenen, die so handeln und reden, wie sie denken, sondem 
auch alle die, welche versteckt und im Herzen dem Skeptizismus, 
mit Reden und Taten der offentlichen Meinung, den Vorgesetzten, 
der Lebensbehaglichkeit ihren Tribut zollen. Aber auch hier sagt 
uns die gewohnliche Ausdrucksweise nicht, ob von ethischem oder 
asthetischem Skeptizismus schon bei seinen milderen Formen, den 
Zweifeln an der Richtigkeit einer bestimmten moralischen oder 
Kunstanschauung, oder erst bei radikaleren Gestaltungen die Rede 
sein diirfe. Neben dem religiosen, moralischen und asthetischen 



xn 


Einleitung. 


lauft der Skeptizismus gegen die Wissenschaft als besondere 
Richtung einher. Wem waren nicht Leute bekannt, die sicb den 
Ergebnissen der Wissenschaft gegeniiber aufierst skeptiscb ver- 
halten? Gerade der glanzende Aufschwung der Medizin und der 
Naturwissenschaften im 19. Jahrbundert hat nicht nur iiberschweng- 
liche Bewunderung und kiihne Hoffnungen, sondem auch schwere 
Zweifel an der Art der Naturgesetzlichkeit und ihrer praktischen 
Verwendbarkeit fur das Leben und manche Enttauschung sogar 
in Kreisen der Fachmanner erregt. Das Ignoramus, ignorabimus 
ist zuerst von einem Naturforscher gesprochen und von unzahligen 
Laien spater nachgesprochen worden. Aber auch der wissenschaft- 
liche Skeptizismus, wo er sich im Alltagsleben verkorpert, kennt 
keine fest umrissenen Grenzen. Endlicb konnen alle diese ver- - 
schiedenen Formen der Skepsis zu einem allgemeinen Skeptizis- 
mus zusammenschmelzen. Dafiir fehlt es heute weniger an Bei- 
spielen denn je: Menschen, die auf alien Gebieten des Daseins, 
in den religiosen, sittlichen und kftnstlerischen Fragen, in ihrer 
Stellung zur Wissenschaft, in der Beurteilung des Allgemeinen wie 
des Einzelnen, eine skeptische Haltung einnehmen, sind keine 
Seltenheit mehr. Noch darf nicht unerwahnt bleiben, dafi diese 
Spielarten des Skeptizismus einander ebensogut zu befordem, wie 
durch Kontrast auszuschliefien vermogen. ,,Wer den Zunder des 
Zweifels anziindet", sagt Feuerbach einmal, „der gibt die Ursache 
zu einem allgemeinen Brande, wenn er auch gleich zunachst das 
Feuer nur an bestimmte Gegenstande bringt und bringen will”. 1 ) 
Gewifl kann die Skepsis so wirken ; aber sie wirkt nicht notwendig 
so. Oft scheinen gewisse Formen des Skeptizismus einander form- 
lich abzustofien: um so ernster und heftiger auf einem Punkte ge- 
zweifelt wird, um so fester und unentwegter wird auf anderen 
Punkten geglaubt und gewufit So ist es eine allgemein zugclng- 
liche Beobachtung, dafi sich der Skeptizismus in religiosen Dingen 
mit einem Wissenschaftsdogmatismus zu verbinden liebt, dafi um- 
gekehrt der religiose Dogmatismus sich mit einem Skeptizismus 
gegen alle wissenschaftliche und theoretische Erkenntnis gut ver- 
tragt, ja aus diesem geradezu Saft und Nahrung saugt. 

Lafit sich nun der Gesichtspunkt, der sich der Frage: was 
wird bezweifelt? entnimmt, auch zur naheren Bestimmung des 
philosophischen Skeptizismus verwenden? Ich dachte, gewifi. Auch 


1) Feuerbach, Werke VI, Leipzig 1848, S. 291. 


Einleitung. 


xrn 


in der Philosophic kann im grofien gezweifelt werden, ist gezweifelt 
worden und wird gezweifelt Auch in der Philosophic kann sich 
der Zweifel fiber verschiedene Gebiete erstrecken , hat es getan 
und tut es noch. Aber die Gebiete des philosophischen Zweifels 
mfissen logisch wohl gegeneinander abgegrenzte Bezirke sein, ihr 
Machtbereich mufi durch die innere Natur, das We sen der zu 
erkennenden Objekte bestimmt sein. Nicht aber darf ihr Da- 
sein aus den triiben Quellen der zufalligen Einteilung der Wissens- 
gebiete fliefien, wie sie sich im gewohnlichen Leben eingebiirgert 
hat Man wird also gut tun, in die vorhergenannten Zweifelsformen 
etwasEinheit,Ordnung und logischenZusammenhang hineinzubringen. 

Da erhalt man denn gleich zwei grundsatzlich voneinander 
getrennte Gruppen. Der Zweifel, der sich auf alles erstreckt, d',r 
total e Skeptizismus, wird scharf gegen denjenigen, welcher nur 
bestimmte Teilgebiete betrifft, gegen den partiellen Skeptizismus 
abzugrenzen sein. 

Der totale Skeptizismus kann seine Totalitat dadurch be- 
wahren, dafi er die Gesamtheit materialer Aussagen in Zweifel 
zieht, oder dafi er auch die formalen Aussagen in ihrer ganzen 
Ausdehnung mitbegreift. Nicht zufrieden, keine gegenstandliche 
Wahrheit gelten zu lassen, sucht er manchmal in tollkfihner Steige- 
rung selbst das Wissen zu verdachtigen, welches vollig inhaltleer 
gar keine objektive Wirklichkeit erkennen und nur die Form unsrer 
Denkoperationen selbst zum Ausdruck bringen will, sucht er Satze 
zu bezweifeln von der Art „wenn A gleich B, B gleich C, so ist 
A gleich C“. Dieser subjektiv- form ale Skeptizismus zieht not- 
gedrungen den objektiv-materialen Skeptizismus nach sich. Denn 
all unser Wissen um irgend welche Objekte hangt von der Gfiltig- 
keit der subjektiven Denkgesetze ab. Da sich der formate Skepti- 
zismus aber als contradictio in adjecto entpuppt — denn nur ver- 
mittelst der bezweifelten Denkformen zweifelt er — , da er auch 
keinem Philosophen bisher gentigt hat, auf ihn hin fiber die ge- 
samte Wirklichkeit seine Zweifel auszudehnen — ob er schon den- 
jenigen, dem es emst mit ihm ist, logisch zwingend dahin fiihren 
mfifite, — so empfiehlt es sich, den nur materialen Skeptizismus 
zum totalen zu schlagen, wenn er seine Zweifel auf die Totalitat 
der Objekte erstreckt, auch ohne die Formen unsres Denkens in 
Mitleidenschaft zu ziehen. 

Der partielle Skeptizismus greift mit seinen Zweifeln nur in 
begrenzte Objektgebiete ein. Innerhalb dieser Gattung aber stehen 



Efnleitung. 


die Formen: religiose, wissenschaftliche, moralische, asthetische 
Skepsis nicht logischen Forderungen, sondem praktischen Bedurf- 
nissen gemafi nebeneinander. Der Grad der Gewifiheit, der diesen 
Gebieten zukommt, ist dem Leben von der hdchsten Wichtigkeit; 
hier zweifelt, glaubt oder weifi es. Der philosophische Skeptizis- 
mus wird eine solche, aus den Lebensbedurfnissen entnommene 
Einteilung nicht iibemehmen. Dennoch lafit sich von ihr aus auch 
fur die Gliederung des partiellen philosophischen Skepdzismus ein 
fruchtbarer Gesichtspunkt gewinnen. Der Gegeniiberstellung von 
Religion und Wissenschaft liegt dunkel geffihlt der Unterschied 
zwischen einer iibersinnlichen und einer sinnlichen, einer unerfahr- 
baren und einer erfahrbaren Welt zugrunde. Mit der Deutung der 
sinnlichen Welt, so meint man, hat es die Wissenschaft zu tun, 
das Obersinnliche sei Gegenstand des religiosen Bewufitseins. Die 
ethischen und asthetischen Begriffe pflegen in der populsiren Auf- 
fassungsweise eine vermittelnde Rolle zu spielen; halb himmlisch 
und halb irdisch, werden sie aus gottlichen Geboten oder uber- 
naturlichen Gesetzen abgeleitet, gewinnen aber doch wieder in den 
Bestimmungen von Recht und Sitte, Stil und Geschmack, bis zu 
den Polizeiverordnungen und Modejoumalen herab, eine sehr greif- 
bare Gestalt. In der Tat ist es fur den philosophischen Skepti- 
zistnus von grundlegender Bedeutung, ob von seinen Zweifeln nur 
die Objekte einer iibersinnlichen Welt oder nur diejenigen der sinn- 
lichen Welt oder beide zugleich getroffen werden. Hier ist, was 
die Gebiete des Zweifelns und Oberzeugtseins anlangt, eine wohl- 
begriindete Einteilung geschafien. Denn alle Objekte, deren Existenz 
man zugibt, sind entweder erfahrbar oder unerfahrbar, fallen in das 
Bereich unsrer moglichen Erlebnisse oder grundsatzlich aus diesem 
heraus. Ob ein Komet zum vorausberechneten Termin erscheint, 
ein neues medizinischcs Heilmittel sich als wirkungsvoll erweist, 
konnen wir erleben und erfahren. Der Anfang und das Ende der 
Welt, Gott als der Inbegriff der Welt, der Zustand der Seelen 
nach dem Tode, der Korpcr unabhangig von unserem Bewufit- 
sein , konnen niemals Gegenstand der Erfahrung und des Erlebens 
werden. Wie verschieden man auch die Art und den Kreis 
des Erfahrbaren und Unerfahrbaren (oder des Sinnlichen und 
Obersinnlichen, wie manche vorziehen) bestimmt hat und be- 
stimmen kann 1 ), — die Tatsache, dafl, wenn es erfahrbare und 

i) Mit den verschiedenen Bestimmungen werden wir uns im zweiten 
Hauptabschnitt dieser Untersuchung vorzuglich zu besch&ftigen haben. 



Euile&tang. 


XV 


unerfahrbare Objekte gibt, diese Einteilung zugleich die allgemeinste 

ist, weil jedes Objekt ihr verfallt, und dafi also der partielle Zweifel 

seinen allgemeinsten Formen nach sich auf diese oder jene Objekt- 

gruppe beziehen mufi, wird keinen Widerspruch zu iiberwinden 

haben. Das populare Bewufitsein wiirde vermutlich auch nicht viel 

dagegen einwenden , dafi wir den Skeptizismus gegen die Religion 

und gegen die Wissenschaft durcb ein Nichtwissen um die Beschaffen- 

heit ubersinnlicher und sinnlicher, transzendenter und immanenter 

Objekte erlautert haben. Das bedeutet nicht, dafi populares und 

philosophisches Bewufitsein hier vollig zur Deckung gebracht waren. 

Die Religion ist zwar die weitverbreitetste, aber keineswegs die 

einzige Form, in welcher uns eine AufTassung vom Obersinnlichen 

und Unerfahrbaren vermittelt wird. Sie ist nicht die einzige Form 

« 

— weder ihrem Gegenstand noch ibrer Erkenntnisart nach. Ihr 
Gegenstand ist wesentlich Gott, ihre Erkenntnisart wesentlicb der 
Glaube. Nun hat es aber zu alien Zeiten Manner gegeben, die 
sich auch fiber das Obersinnliche und prinzipiell Unerfahrbare Ge- 
danken gemacht haben, und deren Oberzeugungen doch niemals 
in religidse Vorstellungen eingemfindet sind. Und ihre Erkenntnis- 
art verglichen sie mit Vorliebe der mathematischen, die mit ihrer 
exakten Beweismethode vom religiosen Glauben am weitesten ab- 
gerfickt ist. Diese Manner waren die grofien philosophischen Meta- 
physiker. Denn welcher unter den zahllosen Erklarungen von Ziel, 
Methode, Ergebnis der Metaphysik man auch zustimmen mag, 
die eigentfimlichen Objekte der Metaphysik sind unsinnlich und 
unerfahrbar. Es wird sich also der transzendente Skeptizismus, 
welcher auf dem Gebiete zweifelt, das unsre Erfahrung fibersteigt, 
wo er als philosophischer Skeptizismus auftritt, in gleicher Weise 
auf Metaphysik und Religion zu erstrecken, seine Grfinde also auch 
gegen beide zu ricbten haben. Der immanente, im Erfahrungs- 
bereich verharrende Skeptizismus fallt dementsprechend mit dem 
popularen Zweifel an der wissenschaftlichen Erkenntnis auch nur 
zum Teil seinem Gegenstande nach zusammen. Denn einmal ist 
die Wissenschaft der Metaphysik schon von dem immanenten Skep- 
tizismus abgetrennt und dem transzendenten zugewiesen worden; 
dann aber verfallt die Summe der Erfahrungsobjekte nicht allein 
den fibrigen Wissenschaften, sondern ein Teil wird bereits in den 
gewohnlichen Anschauungen des taglichen Lebens verarbeitet. 
Der ethische und asthetische Skeptizismus wird, je nach der Auf- 
fassung, die man vom Wesen der sittlichen und kunstlerischen 



XVI 


EbMtang. 


Objekte hat, seinen Platz entweder innerhalb des immanenten Oder 
des religids-metaphysischen Skeptizismus zu linden haben. Die 
eigentumliche Feindschaft zwischen gewissen Zweifelsformen , auf 
welche schon gelegentlich der gewohnlichen Skeptikertypen hin- 
gewiesen wurde, kommt hier In der Weise zum Ausdruck, dafi 
sich ein transzendenter Skeptizismus besonders gem mit einem 
intensiven Dogmatismus fur die Immanenz, und ein immanenter 
Skeptizismus mit einem intensiven Dogmatismus fur die Transzen- 
denz zu vermahlen liebt. 

Noch ist zu betonen, dafi eine Philosophic, die das Dasein 
gewisser Objekte, etwa der Korper aufier uns oder der moralischen 
Werte leugnet, iiber die Beschaffenheit dieser Objekte nicht im 
Zweifel, und also auf diesem Gebiete auch keine skeptische Philo- 
sophic sein kann. Sie geht in ihrer Aufstellung negierender Be- 
hauptungen genau so zuversichtlich und dogmatisch vor, wie der 
positive Dogmatismus und kann, da der Inhalt ihrer Dogmen ver- 
neinende Urteile sind, in dieser Hinsicht negativer Dogmatis- 
mus heifien. 

Aber mehr noch als in der Frage nach dem Was des Zweifels 
trennt sich der philosophische vom gewohnlichen Skeptiker in der 
Art, wie und warum er zweifelt. Wie zweifeln denn jene Skep- 
tiker, denen wir so oft am Biertisch, im Salon oder auch in der 
Literatur begegnen? Warum zweifeln sie? Geht man dem naher 
nach und sammelt auch nur einige Erfahrungen darfiber, so zeigt 
sich, dafi die Zweifel solcher Leute nicht in einer straffen und 
methodischen Gedankenarbeit, sondem in jenem sonderbaren Ge- 
misch aus logischen Griinden und individuellen Lebenserfahrungen 
ihren Ursprung nehmen, auf dem sich die Weltanschauung des 
unwissenschaftlichen Menschen aufzubauen pflegt. Ein junger Mensch 
wachst in einer streng ldrchlich denkenden Familie auf. Die religidsen 
Dogmen werden ihm als sichere Wahrheiten vorgetragen. Gute 
und sittlicher Wert werden als die Begleiter der Frommigkeit, Ver- 
worfenheit und lasterhaftes Leben als Folgeerscheinungen der Gott- 
losigkeit gelehrt. Nun gelangt er in das Alter, in dem die Kritik 
sich zu regen beginnt. Ihm werden edle und reine Menschen be- 
kannt, die an keinen Gott glauben; und er sieht Niedrigkeit und 
Heuchelei bei manchem kirchlich gesinnten Manne. Die religiose 
Skepsis beginnt zu keimen. Unter dem Einflufi Gleichdenkender, 
dem verfiihrerischen Zauber einer glanzenden freigeistigen Literatur, 
vielleicht auch durch einige ganz personliche Erlebnisse, in denen 



Emleitung. 


xvn 


der Glaube an eine Vorsehung Fiasko machte , gestalten sie sich 
kraftiger aus. Ein paar ganz allgemeine Beweisgriinde meist sehr 
billiger Art werden ersonnen oder erborgt, einige Fetzen aus der 
sogenannten wissenschafilichen Weltanschauung zusammengerafft, 
um den logischen Bediirfnissen Geniige zu tun. Die religiose 
Skepsis ist vollendet. Mit den Zweifeln der Moral, der Kunst, der 
Wissenschaft gegenuber steht es fur gewohnlich nicht anders. Der 
ethische, der asthetische Skeptiker, wie er uns im gewohnlichen 
Leben entgegentritt, hat die sittlichen und kunstlerischen Probleme 
nach ihrem Umfang und ihrer Tiefe nicht durchdacht. Sein Skepti- 
zismus hat ganz andere Ursachen. Blofl das Einatmen der geistigen 
Atmosphare zu einer Zeit, in der die sittlichen und kunstlerischen 
Werte in starker Wandlung begriffen sind, geniigt, um ihn hervor- 
zutreiben. Ratios gegenuber dem Chaos einander widerstreitender 
Meinungen, erschopft vielleicht vom heftigen Durchleben und ent- 
tauschten Aufgeben der bedeutendsten unter ihnen, zuckt man nur 
noch matt die Achseln, wenn die eigene Seele fragend an die Tore 
dieser Reiche pocht. Bei andem mogen schmerzliche Erfahrungen, 
der Trug eines Freundes, das Versagen der Kunst als Trosterin, 
als Erloserin, den Ausbruch skeptischer Stimmungen veranlassen. 
Noch andere bekennen sich zu ihnen , weil es zum guten Ton einer 
schlechten Koterie gehort. Der Skeptizismus gegen die Wissen- 
schaft hat nun ganz besonders reich verzweigte Quellen. Auch 
hier konnen triibe personliche Erlebnisse, in denen etwa die Medizin 

• 

ihren Dienst versagte, auch hier kann der Meinungstreit in Grenz- 
fragen, der zu gewissen Zeiten mehr als die Einigkeit innerhalb 
der Grenzen nach aufien dringt, die Hauptrolle spielen. Dazu 
kommt die Abneigung gegen alles Harte, Herbe, Nuchteme, Be- 
sonnene, Bedachtige. Man erwsige, dafl es haupts&chlich die Frauen 
sind, welche sich zur Wissenschaft skeptisch verhalten. 

Dieser gesamte Stimmungskeptizismus hat nun aber mit 
dem philosophischen Skeptizismus, den Hegel einmal „ein gebil- 
detes BewuGtsein" genannt hat, in der Art, wie und warum er 
zweifelt, kaum einen Verwandtschaftspunkt. Dieser verh&lt sich zu 
jenem wie Schopenhauers tiefsinnig begrundeter Pessimismus zu 
dem Pessimismus eines Menschen, der in der Fiille des Reichtums 
das Genieflen verlemte, oder zu der triiben Lebensauffassung eines 
Mannes, der uberall Schiffbruch gelitten hat. Zwei Punkte sind 
es vomehmlich, die hier den Gegensatz bezeichnen. Erstens hat 
es die Philosophie, insofem sie Wissenschaft ist, nicht mit dem 



xvm 


Einleitung. 


Individuell- und Einzelgfiltigen, sondem mit dem Gattungsmfifiig - 
und Allgemeingfiltigen zu tun. Ihre Ergebnisse wollen sich die 
allgemeine Zustimmung, nicht die Anerkennung einzelner erzwingen. 
Und selbst da, wo die Mdglichkeit allgemeingiil tiger Ergebnisse 
bezweifelt wird, bedient sie sich einzig, wie gerade das Vorgehen 
der Skeptiker beweist, solcher Satze, die fur allgemeingfiltig gelten, 
zur Begriindung. Es interessiert den philosophischen Skeptiker so 
wenig, ob ein bestimmter Mensch dem Zweifel verfallen mufi, 
wie es den Mathematiker interessiert, ob ein bestimmter Mensch 
den Inhalt eines spharischen Dreiecks ausrechnen kann oder nicht! 
Der philosophische Skeptiker kann seine Zweifellehre demnach nicht 
uber den individuellen Lebenserfahrungen eines einzelnen 
Subjekts, die immer nur einem individuellen Zweifel zur Basis 
dienen konnen, er mufi sie fiber allgemein-menschlichen oder fur 
allgemein - menschlich geltenden Eigenschaften aufbauen. Nun ist 
Zweifeln, Unentschiedensein, Nichtwissen eine Betatigung unseres 
Erkenntnisvermogens. Um also die Frage nach der Berechtigung, 
dem Gebiet, dem Umfange des Zweifelns zu entscheiden, mufi der 
Philosoph die alien gemeinsamen Erkenntnisfunktionen auf ihre 
Leistungsfahigkeit bin untersuchen. Diese aber sind nichts anderes 
als die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis, der Er- 
kenntnis durch die Sinne, durch die logischen Axiome, durch das 
Selbstbewufitsein usw. Sie allein sind unabhangig von individuellen 
Lebenserfahrungen, von Ort und Zeit, von Temperamentsanlage, 
von Begabung. Bezweifelt somit der philosophische Skeptizismus 
im Gegensatz zum Stimmungskeptizismus grundsatzlich die 
Moglichkeit alter oder bestimmter Erkenntnisse, so trennt er sich 
auf dem zweiten Punkt von jenem in dem Anspruch, notwendig 
oder doch wiederum durch Mittel, die fur notwendig gelten, zu 
seinen Ergebnissen gelangt zu sein. Notwendig aber ist seine 
Zweifellehre nur dann erwachsen, wenn sie sich als die logische 
Folge aus triftigen Grunden erweist. Das heifit: der philosophische 
Skeptiker zweifelt im Gegensatz zum popularen, der rhapsodisch 
und aphoristisch verfahrt, systematisch und methodisch. So 
verschieden ist der philosophische Zweifler vom Stimmungskeptiker, 
dafi die beiden Typen trotz ihrer Obereinstimmung in den End- 
resultatcn sich kaum verstehen wfirden ; ich glaube nicht, dafi ein 
Mann wie David Hume und ein Vertreter der modernen Stimmungs- 
skepsis einander viel zu sagen batten. 



Einlatung. 


Demnach wire der allgemeine Begriff des philosophischen 
Skeptizismus dahin zu bestimmen: der philosophische Skepti- 
zismus ist die Verkiindigung eines grundsatzlichen und 
methodischen Zweifeis an der Moglichkeit menschlicher 
Erkenntnis; sei es nun, daG er als totalerSkeptizismus diese 
Moglichkeit fur alle Gebiete bezweifelt, oder als partieller 
(immanenter, transzendenter) Skeptizismus nur auf gro&e 
Hauptgruppen seine Zweifel einschrankt. 

Doch ist der philosophische Skeptizismus auch in einer Form 
aufgetreten, die sich den strengen Grenzen dieses Begriffs nicht 
durchaus fiigt. Skeptische Denker namlich haben, statt die Mog- 
lichkeit der Erkenntnis zu bezweifeln, gelegentlich die Unmoglich- 
keit der Erkenntnis behauptet. Dieser Agnostizismus oder dog- 
matische Negativismus, der den Verzicht auf Erkenntnis oder 
die absolute Negation zu seinem einzigen Dogma macht, dessen 
Dogmen nicht negierende Urteile iiber bestimmte objektive Ver- 
haltnisse, sondem dessen einziges Urteil die Negation aller Dogmen 
ist, steht dem Skeptizismus unendlich viel naher als dem Dogma- 
tismus und verfallt damit gleichfalls einer dem Skeptizismus gewid- 
meten Untersuchung. Wahrend der reine Skeptizismus die Wahrheit 
(Falschheit) aller oder gewisser Behauptungen bezweifelt, der reine 
Dogmatismus die Wahrheit (Falschheit) aller oder gewisser Behaup- 
tungen anerkennt, bezweifelt der dogmatische Negativismus die Wahr- 
heit (F alschheit) aller oder gewisser Behauptungen bis auf eine; er steht 
also dem Skeptizismus noch weit naher als die Eins der Null ndher 
steht als der Tausend. Denn wenn die dogmatisch geauGerte Nega- 
tion nur die Moglichkeit der Erkenntnis iiberhaupt betrifft, so ist die 
Wahrheit (Falschheit) jeder bestimmten Aussage (formaler, mate- 
rialer Art) in Zweifel zu ziehen. Kant, der die Moglichkeit meta- 
physischer Erkenntnis gleichfalls dogmadsch vemeinte, hat in seiner 
dritten und vierten Antinomie von solchen Zweifeln, die eine Be- 
schaffenheit metaphysischer Objekte betreffen, das klassische Bei- 
spiel gegeben. Und so wird der dogmatische Negativismus dem 
philosophischen Skeptizismus ebenso entschieden einzugliedem sein, 
wie der negative Dogmatismus, aus dem irgend welche Zweifel uber- 
haupt nicht folgen, die entgegengesetzte Behandlung erheischte. 1 ) 

i) Der eigentliche Pyrrhonismus war andrer Meinung. Er stellte skep- 
tische, dogmatische, agnostische (die er nach ihren damaligen Vertretem 
akademische nannte) als drei gleichwertige Hauptgattungen der Philosophie 
auf. Das ist eine durchaus berechtigte Einteilung, wenn man allein die 



Einleituiig. 


Der dogmatische Negativismus vemeint die Erkenntnismoglich- 
keit, der negative Dogmatismus, soweit er uberfaaupt f&r uns in 
Betracht komrat, d. h. mit der Skepsis verwechselt worden ist, die 
E x i s t e n z moglichkeit einer bestimmten Sphare. Das Entspringen 
grundsatzlicher Zweifel an jeder bestimmten Aussage uber diese 
Sphare ist das eine Mai eine Notwendigkeit, das andre Mai eine 
Dnmoglichkeit 

Obrigens ist der dogmatische Negativismus in seiner dogma- 
tischen Negation des Dogmatismus zwar erkenntnismutiger, f&r alle 
anderen Urteile aber weit hoffnungsloser als der reine Skeptizismus. 
Dieser traut allerdings unseren Erkenntnisfunktionen gegenwartig 
nicht einmal die Kraft zu, ein einziges wahres negatives Urteil zu 
fallen: der Mensch kann nichts erkennen; lafit aber wenigstens da- 
durch die Moglichkeit offen , in Zukunft jede beliebige Anzahl posi- 
tiver wie negativer Dogmen zu erarbeiten. Der Agnostizismus also, 
auf einem Punkte dogmatisch, ist damit auf alien ubrigen prinzipiell 
skeptisch; der reine Skeptizismus, auch in der Frage nach der 
Erkenntnismoglichkeit oder -Unmoglichkeit skeptisch, versperrt 
gerade dadurch einem zukunftigen Dogmatismus nicht grundsatz- 
lich den Weg. 

Endlich ist noch von Wichtigkeit, dafi Intensitatsunter- 
schiede des philosophischen Zweifels dadurch entstehen konnen, 
dafi nur die Moglichkeit vdllig gewisser Erkenntnis oder auch die 
Moglichkeit wahrscheinlicher Erkenntnis bezweifelt wird. Der radi- 
kale wie der gemifiigte Zweifel geht nun nicht etwa mit dem 
totalen oder partiellen Hand in Hand, so dafi die Extensitats- 
und Intensitatstufen einander entsprachen; sondem jede Art von 

Stellungnahme zu einem einzigen, formalen, allgemeinen Satze (die Wahrheit 
ist erkennbar) im Auge hat. Dann stehen die drei Thesen: sie ist erkenn- 
bar, sie ist unerkennbar, es ist zweifelhaft , ob sie erkennbar oder unerkenn- 
bar, als die Devisen dreier mbglicher Parteien einander gegenfiber. Gruppiert 
man aber nach der Entscheidung aller Qbrigen, einzelnen, materialen Fragen, 
in der die Meinung uber jeden beliebigen Erkenntnisstoff niedergelegt ist 
(gibt es kausales Wirken in der Natur, ist Gott mit der Welt identisch? usw.), 
so bilden sich nur zwei Lager, von denen das eine (positive oder negative) 
Behauptungen fiber die Existenz , die Beschaffenheit der Dinge aufstellt, das 
andre (aus agnostischen oder rein skeptischen Motiven) im Zweifel verhant. 
Dazu kommt, dafi reine Skeptiker und Agnostiker in der Begrfindung ihrer 
Standpunkte ganz zusammengehen , bis schliefilich der eine noch hinter das 
ganze System seiner Argumente ein Fragezeichen setzt, was der andre zu 
tun verabsfiumt Demnach ubersehen sie in bekannter Philosophenweise fiber 
dieser kleinen Verschiedenheit die grofien Gemeinsamkeiten. 



Einleitung. 


XXX 


Mischung ist hier denkbar und geschichtlich auch wirklich auf- 
getreten. Man kann also nur einen Unterschied seiner Einteilung 
zugrunde legen, den objektiven nach Zweifelsgebieten oder den 
subjektiven nach Zweifelsgraden, und hat dann die Pflicht, das 
andere Merkmal innerhalb des gewahlten Rahmens zu beriick- 
sichtigen. Wenn wir der objektiven Gliederung den Vorzug geben, 
so geschieht es erstens, weil sie systematisch als die wichtigere 
erscheint — das Was der Erkenntnis , nicht deren Grad, ist fur 
ein philosophisches Weltbild entscheidend — ; und dann, weil sie 
der historischen Entwicklung besser entspricht Der totale und 
der partielle Skeptizismus sind durch lange Zeitintervalle von* 
einander getrennt; der radikale und der gemafiigte entwickeln 
sich schon friih (in der pyrrhonischen und der akademischen 
Skepsis) durcheinander und miteinander. 

Das wissenschaftlich-philosophische Interesse gebot, den 
philosophischen Skeptizismus gegen die Zweifelsarten des gewohn- 
lichen Lebens scharf abzugrenzen. Damit ist nicht gesagt, dafi 
man auf den gewohnlichen Stimmungskeptizismus verachtlich herab- 
zusehen, noch dafi eine andere, der Philosophic ebenbtirtige Er* 
kenntnissphare ihn gleichfalls von ihren Kreisen femzuhalten babe. 
Gewifi gibt es Skeptikertypen , denen man noch zu viel Ehre an- 
tut, wenn man sie verachtet. Die Skepsis der frivolen, erfahrungs* 
reichen Lebewelt, welche als imfafibare Atmosphare die Salons, 
die Theater und Schaustellungen, ja, man mochte sagen, selbst die 
Strafien der grofien Stadte durchzittert und in so manches Haus 
der besitzenden Klassen verfuhrerisch hineinspielt — ist eine 
der widerwartigsten und zugleich gefahrlichsten Errungenschaften 
steigenden Wohlstands und sich verbreitender Aufklarung. Aber 
es gibt auch eine emste und emstzunehmende Stimmungskepsis; 
und sie ist in unserer Zeit nicht selten. Es sind nicht die geistig 
Minderwertigen, die vor deni Streit der Meinungen, der heute auf 
alien Gebieten und gerade in alien grundsatzlichen Fragen herrscht, 
hilflos ihre eigenen Erkenntniskrafte zusammenbrechen fuhlen. Wer 
von alien, denen ein scharfer Verstand die Probleme weist, ein 
feines theoretisches Gewissen die Losungen priift — wer von ihnen 
mochte in den grofien Fragen der Ethik, der Kunst, der Meta- 
physik eine entscheidende Ansicht wagen aufier dem gottbegnadeten 
Genie? Nur wenige haben Mufie und Fahigkeit, methodische Er- 
kenntniskritik zu treiben und zu untersuchen, ob die Gebiete, die 
dem einzelnen heute verschlossen sind, der Gattung ewig ver-< 


Einleituog. 


scblossen bleiben werden. In Wenigen auch ist der Sinn fur die 
Menschheit und die Zukunft so stark entwickelt, daft bei Ver- 
neinung dieser Frage ihnen der Glaube ein Trost ware: die Zweifel, 
die das Wissen meiner Zeit nicht zu losen vermag, werden heller - 
sehende Menscben in fortgeschritteneren Zeiten zu klaren versteben. 
Und wie die Stimmungskepsis aus dem Willen- und Gefuhlsleben 
zum guten Teil entsprang, so wirkt sie auch wieder auf dasselbe 
bedeutsam zuriick. Der frivole Zweifel fuhrt zu Leichtsinn und 
zur regellosen Entfesselung allerTriebe; der emste meist zu Schwer- 
mut und Willenslahmung. Indem auch das letzte Ziel, gegen das 
alle einzelnen Zwecke sich abstufen konnten, fehlt, weil es nicht 
erkennbar scheint, bewegt den Willen nichts Hoheres mehr, das 
die Vemunft guthiefie. Sie kann dem Willen keine Motive bieten, 
noch ein Lustgefuhl, durch das ein Erstrebenswertes reizte, oder 
das auf Erreichtes folgte, sanktionieren. Von dem strebenden 
Willen, der nach Zielen reiner Lust oder der Pflicht verlangt, 
wendet sich der skeptische Intellekt trauernd ab, machtlos, den 
Wunsch zu erfullen. So entsteht jene tiefe skeptische Nieder- 
geschlagenheit und Zerrissenheit, welche man unter der Jugend 
der europaischen Kulturlander in erschreckendem Mafie beobachten 
kann. Von den Wissenschaften ist es die Kulturgeschicbte, die 
einen solchen Vorgang in der sozialen Psyche zu behandeln hat, 
und es ist nicht wahrscheinlich, daft ein feinsinniger Kulturhisto- 
riker die skeptische Stimmungsbewegung am Ende des 19. Jhdts. 
wird umgehen konnen. 1 ) Weiter ist es vor allem die Kunst, welche 
sich dieser Erscheinungen liebevoll annimmt. Mit ihren Mitteln 
der Gefuhls- und Stimmungschilderung ist sie der geeignete Spiegel 
auch fur die skeptische Seelendisposition des Individuums: die 
russischen und franzosischen Romanciers vor alien, seit einigen 
Jahren auch die Schriftsteller Italiens und Deutschlands, haben 
hier bereits in reichlichem Mafie ihres Amtes gewaltet; es geniigt, 


1) Els ist merkwOrdig, wie in dieser Beziehung der Ausgang des 18. 
und i9.Jahrhdts. einander gleichen. Wenn man die Schilderung der damaligen 
Stimmungskepsis bei St&udlin (a. a. O. I, S. 64 ff; 82/83) liest und von dem 
zeitlichen Kolorit der Ausdrucksweise absieht, so hat man eine anschau- 
liche Illustration von dieser Verwandtschaft. Die Vorrede St&udlins beginnt 
mit dem Satze: „Der Skeptizismus f&ngt an, eine Krankheit des Zeitalters 
zu werden, und — was eine seltene Erscheinung in der Geschichte ist — 
sich unter mehrere St&nde zu verbreiten und seine Wirkungen im grofien 
zu iuflern." Klingt das nicht, als wenn es heute geschrieben wire? 



Einleitung. 


XXIII 


an die Namen Dostojewski, Tolstoi, Bourget, Maupassant, d’Annunzio 
sowie an die jungdeutschen und dsterreichischen literarischen Schulen 
zu erinnern. Was fur eine zeitliche Bewegung eine zeitliche Kunst, 
das hat fur die allgemeinmenschiichen Aufierungen des Stimmung- 
zweifels die grofie klassische Kunst geleistet Goethes Faust und 
Shakespeares Hamlet steigen vor uns auf. Beidemal ist die Stim- 
mungskepsis zum tragisch-pathetischen Charakter gesteigert. 
Fausts Skepsis, wie sie uns aus dem grofien Anfangsmonolog ent- 
gegentont, ist eine totale und er verbrennt an ihr: 

Da steh’ ich nun, ich armer Tor, 

Und bin so klug als wie zuvor — 

Und sehe, daft wir nichts wissen kdnnen, 

Das will mir schier das Hers verbrennen. 

Dieser Skeptizismus ist die Frucht reicher Erfahrungen eines langen 
Lebens; dafi Faust „auch Philosophic “ studiert hat, macht seinen 
Skeptizismus nicht zu einem philosophischen. Die faustischen Zweifel 
haben den heifien Lebensdrang und Tatendurst wohl zu verdrangen, 
aber nicht zu vemichten vermocht So findet er noch die Kraft 
zur Verzweiflung. Wohl niemals hat sich skeptische Verzweiflung 
in solch grauenvoll erschuttemder Art, in solch drohnenden Ak- 
korden entladcn, wie in dem gewaltigen Fluch, mit welchem Faust 
die Werte der Welt zerschmettert: 

„ Fluch sei der HofTnung, Fluch dem Glauben, 

Und Fluch vor alien der Geduld. <( 

Das sind nur die Ausklange davon. So beschaflfen ist der Stim- 
mungskeptizismus, in dem man sich dem Teufel verschreibt Als 
aber Faust „die kleine, dann die grofie Welt“ in ihrer ganzen 
Fiille ausgekostet, hat er ein gut Teil seines Skeptizismus ver- 
loren. Er beginnt als totaler Skeptiker und endet als partieller, 
namlich (wenn es erlaubt ist, trockene BegrifTsschemata an ein 
lebendiges Kunstwerk heranzutragen) als immanenter Dogmatiker 
und transzendenter Skeptiker: 

„Der Erdenkreis ist mir genug bekannt, 

Nach druben ist die Aussicht uns verrannt, 

Tor, wer dorthin die Augen blinzelnd richtet, 

Sich \lber Wolken seinesgleichen dichtet 
Er stehe fest und sehe hier sich um, 

Dem Tuchtigen ist diese Welt nicht stumm. 

Was braucht er in die Ewigkeit zu schweifen? 

Was er erkennt, l&ftt sich ergreifen u usw. 


XXIV 


Einleitung. 


Ganz anders Hamlet In Hamlet wirkt die Stimmungskepsis 
wie ein schleichcndes Gift, das langsam aber stetig auf alle auf- 
keimenden Willensentschlusse herabtraufelt. Man hat diesen ratsel- 
haften Charakter durch geistvolle Hypothesen uns naher zu bringen 
versucht — man hat ihn als Pessimisten, als Neurastheniker, als* 
Genie dargestellt — wir wollen keinen dieser Gesichtspunkte ganz 
verwerfen; aber vor allem ist Hamlet ein Skeptiker, dessen Zweifel 
nicht blofie Oberzeugungen bleiben, sondem ihre lahmende Wir- 
kung bis in die GefQhle und Wollungen, ja bis ins elementare 
Triebleben hinab erstrecken: „ich habe keine Lust am Weibe". — 
Hamlet fuhlt und will sowenig eindeutig wie er weifi und erkennt. 
Ein solcher Charakter hat an sich noch keine tragische Grofle. 
Aber nun tritt die Aufgabe an ihn heran: Hamlet soli wollen, 
Hamlet soli handeln. Er soli morden, soil den Vatermord rachen. 

„ Die Zeit ist aus den Fugen: Schmach und Gram 

Dafi ich zur Welt, sie einzurichten , kam.“ 

Schmach und Graml Wir verstehen es jetzt. Seine Skepsis ist 
Hamlets tragische Schuld. Der franzosische Schriftsteller Paul 
Bourget hat tief gesehen, wenn er in einer Novelle die skep- 
tische Stromung der heutigen Zeit als „Haml6tisme sentimental “ 
bezeichnet. 1 ) 

Wenn wir nun auch dem Stimmungskeptizismus in den fol- 
genden Seiten keine weitere Beriicksichtigung mehr schenken durfen, 
so waren diese doch niemals ohne jene Bewegung geschrieben 
worden. Denn wie die Philosophic ihre Probleme immer wieder 
am Leben zu revidieren und zum Teil aus diesem zu entnehmen 
hat, so fordert auch der jetzige Stimmungskeptizismus als eine 
Kulturgewalt der eigenen Zeit die Philosophic dazu auf, die theo- 
retische Skepsis emeut durchzudenken und durchzuprufen. Das 
Ergebnis ihrer stillen Untersuchungen, die durch die Bediirfnisse 
des Lebens zwar angeregt, aber unabhangig von ihnen ausgeiibt 
wurden, mag dann wieder vom Leben selbst irgendwie aufgenommen 
und zu veranderter Gemiits- und Handlungsweise verarbeitet werden. 
Das Problem ist einem groflen Lebenskreise entnommen; moge 
seine Bearbeitung wenigstens dureh einen kleinen Kreis auf das 
Leben zuriickwirken! 

i) Bourget, Un Scrupule, Vorrede: la maladie morale . . . cet Ham- 
l£tisme sentimental, qui rend incapable d’une passion complete, d’une 
volont^ suivie, d'un talent definitif. 



Erstes Bueh. 

Der totale Skeptizismus. 




Erster Absehnitt 


Die griechische Skepsis. 

(Der extrem-realistische und eud&monistische Skeptizismus.) 


Erstes Kapitel. 

Vorgeschichte und Verlauf der griechischen Skepsis. 

L Die Vorgeschichte der griechischen Skepsis. 

Fragen wir uns, wo ist der totale Skeptizismus als geschlos- 
sene Weltanschauung zum ersten Male in der Geschichte der Mensch- 
heit aufgetreten? so unterliegt die Antwort: in Griechenland 
keinem Zweifel. In Griechenland ist die Geburtstatte der gesamten 
Philosophic im Sinn einer selbstandigen, von der Volksreligion 
losgelosten Welt- und Lebensdeutung zu suchen; in Griechenland 
sind fast samtliche philosophischen Grundrichtungen zum ersten 
Male ausgesprochen und in kuhner Grofiziigigkeit ausgefuhrt worden; 
in Griechenland auch erhebt der totale Skeptizismus zum ersten 
Male sein Haupt und zieht gleich seine eigenen Konsequenzen mit 
einer Folgerichtigkeit, wie es spatere Zeiten nie wieder gewagt 
haben. 1 ) Nicht nur die Worte Skeptiker und Dogmatiker, auch 
deren Typen sind in Griechenland gepr&gt worden. 2 ) Ober all dies 
herrscht Einverstandnis. Nicht mehr ganz so selbstverst&ndlich ist 
die Antwort, wenn wir dem wo? noch das wann? hinzufugen. 
Zwar sind die neueren Gelehrten wohl alle der Meinung, dafi der 
philosophische Skeptizismus, der mit Recht diesen Namen fiihre, 
erst mit Pyrrho aus* Elis gegen Ende des IV. Jhd. nach Chr. auf- 
getreten sei; aber die Alten selbst, besonders die skeptischen 
Denker unter ihnen, schoben mit Vorliebe den Anfang des Skepti- 
zismus noch hoher hinauf. Diogenes von Laerte (der im III: Jhd. 
nach Chr. lebte, und dessen Bucher eine wichtige Quelle fiir unsere 
Kenntnis derjenigen griechischen Philosophen bilden, von denen 
keine Schriften erhalten sind), berichtet, dafi viele Skeptiker dfen 



4 


Enter Abschnitt. Die griechische Skepsis. 


Homer als Begriinder ihrer Richtung ansehen, und dafi sie die 
sieben Weisen, sowie einen grofien Teil der vorplatonischen Philo- 
sophen zu ihrer Partei gerechnet haben. 8 ) Auch Cicero, der 
selbst zum Skeptizismus neigte, zahlt Demokrit und Empedo- 
kies, auch Sokrates, ja selbst den Plato zu den skeptischen 
Denkern. 4 ) Ahnlich, zum Teil sogar viel ubertriebener, sprechen 
sich Montaigne, Huet und Bayle aus 6 ) — alles Manner, die 
uns noch im weiteren Verlauf dieser Untersuchungen beschaftigen 
werden. Aber wenn man auf die Begriindung sieht, die hier 
fur einen so friihen Ursprung der skeptischen Theorie gegeben 
wird, so kann man den Wert dieser Aussagen nicht allzuhoch 
veranschlagen. Den Homer z. B. beschuldigt man des Skeptizis- 
mus wegen einzelner Verse wie: 

Denn so &ndert der Sinn sich der sterblichen Erdebewohner 

So wie die Tag' herfhhrt der waltende Vater vom Himmel. 6 ) 

Die Ausspriiche der Weisen: ptfSkr ay ay (nichts zuviel) und 
lyyva napa 6’ ara (neben der Burgschaft lauert das Verderben) 
sollen skeptische Aufierungen sein. 7 ) Sokrates wird auf sein be- 
riihmtes Bekenntnis hin: Ich weifi nur, dafi ich nichts weifi, fur 
einen Skeptiker erklart. 8 ) Die Atomenlehre Epikurs, die Ideen- 
metaphysik Platos, die Zahlenphilosophie des Pythagoras sind nicht 
erast gemeint und nur dogmatische Masken skeptischer Autoren. 9 ) 
Auf diese Weise, mit Hilfe aus dem Zusammenhang gerissener, 
nicht einmal auf die Grundprinzipien der Erkenntnis gerichteter 
Sentenzen oder gelegentlicher poetischer Aufierungen eines Stim- 
mungskeptizismus, oder gar durch willkurliche Konstruktion ge- 
heimer Motive war es leicht, den Anfang des philosophischen 
Skeptizismus beliebig weit in der Menschheitsgeschichte hinauf- 
zurucken. Dafi dies aber ein natiirliches Bedurfnis der Skeptiker 
war, ist leicht erklarlich. Gerade der emste Mensch liebt es, sich 
in seinen Ansichten auf grofie Vorganger zu berufen; und leicht 
geschieht es ihm, dafs er seine eigenen Meinungen nicht aus den 
Werken anderer heraus-, sondem in diese hineinliest. Vorziiglich 
aber war der Homer fur das ganze Altertum eine Art von Bibel, 
und in ihm seine Sanktion zu finden, mufite von hohem Wert 
sein. Wir werden gleich sehen, wie noch die ersten wirklichen 
Skeptiker mit Vorliebe homerische Verse oder Varianten derselben 
im Munde fiihren. Tritt uns nun aber der Skeptizismus nicht als 
eine fertige Erscheinung in uralten Zeiten entgegen, fallt er nicht 
einmal mit dem Beginn der Philosophic zusammen, sondem macht 



Erstes Kapitel. Vorgeschichte und VerUnf der griechischen Skepsis. 


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sich erst verhaltnismafiig spat in derselben geltend , so wird er 
geschichtliche Vorbedingungen haben, aus denen heraus er ver- 
standen sein will. Welches sind nun diese historischen Voraus- 
setzungen der griechischen Skepsis? 

Oberblickt man die Geschichte der griechischen Philosophic 
bis zu dem Punkte, an dem der entschiedene Skeptizismus ein- 
setzt, so kann man eine steigende Schwangerung der geistigen 
Atmosphare mit Zweifelselementen wahrnehmen, die aus den 
verschiedensten Quellen zusammenstromen. In der Wahl der 
Probleme freilich, mit denen sich die ersten griechischen Philo- 
sophen beschaftigen, zeigt sich zunachst noch nicht der geringste 
Grad von Zweifel an der Leistungsfahigkeit der menschlichen Er- 
kenntnis. An dem umfassendsten aller Probleme, dem kosmo- 
logischen oder dem Weltproblem, an den Fragen: was ist die Welt, 
woraus besteht sie, woraus ist sie entstanden, wohin vergeht sie, 
erprobt sich zuversichtlich das kraftige junge, neuerwachte grie- 
chische Denken. Die alten religios - mythologischen Kosmogonien 
und Theogonien eines Hesiod und Pherekydes geniigen nicht 
mehr. Man will das Wesen der Welt und der Gotter nicht in 
der Form von Mythen und Mysterien, nicht phantastisch und sym- 
bolisch, sondem klar und verstandesmafiig begreifen. Nicht ein 
Schatten von Zweifel bei diesen Naturphilosophen, ob so etwas 
nicht die Grenzen menschlicher Erkenntnis iibersteige! Zunachst 
gingen diese ersten griechischen Gelehrten (ihr Wirken fallt in 
das VI. Jhd. vor Chr.) von dem einseitig qualitativen Standpunkt 
aus und strengten alles Denken an , um den StofT, aus dem 
die Welt bestunde, zu ergriinden. Die beruhmte Antwort des 
Thales, mit dessen Lehren man die griechische Philosophic 
beginnen laflt, dieser StofT sei das Wasser, ist bekannt; andere 
Ansichten lauteten dahin, dafl der UrstofT das Unbegrenzte, das 
itTteiqov sei; aus ihm entstehe alles, in es kehre alles zuruck; 
noch andere gaben die Luft als diesen UrstofT an. Da all diese 
Denker der ionischen Kolonie Milet entstammten, pflegt man sie 
gemeinsam als die ionischen Naturphilosophen (Physiker, 
Physiologen) zu bezeichnen. — Aber die Welt ist nicht chaotischer 
StofT, ungeordnete Materie, sie ist geformter und geordneter StofT. 
Die ionischen Physiker hatten das Weltprinzip stoftlich gefafit; 
einer unter ihnen, Anaximander, hatte sogar den UrstofT aus- 
drucklich bereits Prinzip , apxrj, genannt. Man konnte nun aber auch 
— eine geordnete Welt und einen geformten StofT vor Augen — 


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Erster Abschnitt Die griechische Skepsis. 


in der Form das Prinzip der Wei erblickten. Dies ist der Stand- 
punkt des Pythagoras (um 540 vor Chr.) und seiner Schule. Pytha- 
goras ist noch mehr religioser Reformator als philosophischer 
Denker. Er stellt sich, dem dorischen Stamme angehdrig, den 
ionischen Physikem entgegen auf den einseitig quantitativen 
Standpunkt 10 ): das Wesen der Dinge ist die Zahl. Hier dammert 
zum ersten Male die Ahnung von einer rein mathematischen Be- 
handlung der ganzen Welt auf, die ihr Ideal in einer Welt- 
formel fande. Die Zahl ist das Wesen der Dinge: die Zahl ist 
das Wesen der musikalischen Harmonie, der Quinte, der Terz, 
der Oktave usw. Pythagoras ist der Entdecker dieser Wahrheit 
Aber die Zahl ist auch das Wesen der astronomischen Harmonie, 
der Harmonie der Spharen; und die pythagoreische Schule hat 
sich um die Forderung der Astronomie im Altertum verdient ge- 
macht. Ja die Zahl ist das Wesen des StofTes, der Korper selbst; 
es sind die Korper nichts anderes als Zusammensetzungen kleinster 
Teilchen, die aus strengen Zahlenverhaltnissen bestehen, wie 
der Kubus, das Tetraeder, das Oktaeder usw. Diese sind die 
Grundformen aller Elemente. Aber in Pythagoras iiberbietet der 
Seher den Denker. Die exakte mathematische Tendenz der Welt- 
betrachtung wird von einer tollen Zahlenmystik verdrangt; die 
Seele, die einzelnen Tugenden, werden zu Zahlen gemacht Bei 
der Vierzahl wird geschworen, die Zehnzahl als der Inbegriff der 
Vollendung gepriesen. 

Halten wir einen Augenblick inne. Bei diesen ionischen und 
dorischen Denkem ist noch nicht ein Schimmer von skeptischer 
Geisteshaltung zu spiiren. Mit naivem Vertrauen, ohne natur- 
wissenschaftliche, ohne mathematische Kenntnisse, gehen sie daran, 
das Weltbild naturwissenschaftlich und mathematisch zu erklaren. 
Und doch, die Keime fur eine spatere Skepsis entdeckt der feiner 
Blickende sofortl Zunachst die Entfernung von der Volks- 
religion und Volksmythologie; nicht mehr „aus Zeus ist alles 
entstanden“ (Aio% 6 ' lx navra ritvxtat ), wie es in einem uralten 
Verse heifit 11 ), sondern aus Wasser oder Luft oder dem antipo/v. 
Darum durfen wir uns diese friihen griechischen Naturphilosophen 
nicht als irreligios vorstellen; im Gegenteil. Aber sie lassen in 
ihren philosophischen Spekulationen entweder die religiosen Ele- 
mente geflissentlich beiseite, oder sie treten als religiose Refor- 
matoren, als „Protestanten“ auf. Hierin liegt ein skeptischer Keim 
verschlossen, welcher nicht verfehlen wird, weiter zu treiben. Der 



Erstes Kapitel. Vorgeschichte und Verlauf der griechischen Skepsis. 


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Katholizismus, sagt Raynal, strebt unaufhorlich zum Protestantismus; 
der Protestantismus zum Sozinianismus ; der Sozinianismus zum 
Deismus , der Deismus zum Skeptizismus. 12 ) Auf diesem Punkte 
ist der Weg der heidnischen und der christlichen Religionsphilo- 
sophie der gleiche. Und weiter: mit dem qualitativ stofflichen 
Standpunkt, den die ionischen Physiker, und dem quantitativ- 
formalen, den der Dorier Pythagoras und seine Schule ein- 
nahmen, war ein gegensatzliches Begriffspaar, waren zwei 
sich gegeniiberstehende Weltauffassungsweisen geschaffen. Und 
beide waren, dem griechischen Denken in dieser Periode gemafi, 
mit einer grofiartigen Rucksichtslosigkeit ausgesprochen worden, 
die ihre Unvereinbarkeit noch besonders hervorkehren mufite. 
Hatte Pythagoras doch nicht die Zahl als das Wesen der Ver- 
haltnisse zwischen den Dingen oder als das Symbol fur die sitt- 
lichen Begriffe, sondem geradezu die Dinge und die Tugenden 
selbst als Zahlen bezeichnet! In der Tat war der Gegensatz beider 
Richtungen so grofi, dafi es erst viel spater der Kraft des aristo- 
telischen Geistes gelang, beides, stoffliche und formale Welt- 
betrachtung, zu einem einheitlichen Ganzen zusammenzuzwingen. 
Lag es da nicht nahe, dafi ein kritischer Zuschauer, der dies Spiel 
der ersten Denkarbeit uber das Weltproblem sinnend betrachtete, 
gegen das Denken selbst Verdacht schopfte? 

Aber noch war der griechische Geist ungebrochen in seiner 
Kraft; statt zu zweifeln, sucht er nach neuen Losungen. Die 

Welt zeigt sich heute nicht mehr als die gleiche wie gestem, 

> _ _ 

morgen als eine andere wie heute. Die Dinge scheinen in steter 
Veranderung begriffen, der Mensch sich mit ihnen zu verandem. 
Alle Veranderung aber ist ein Werden, ein Werden eines seienden 
aus einem nichtseienden Zustand, das Hervorgehen des Etwas aus 
dem Nichts. Ein solcher Prozefi ist eine Denkunmoglichkeit; es ist 
ganz undenkbar, dafi Etwas aus Nichts entsteht. Also ist alles 
Werden, Entstehen, Vergehen, sich Verandern, alle Vielheit, die 
ohne Entstehen nicht zu begreifen ist, nur Tauschung. Das einzig 
klar zu Denkende, und darum allein Wirkliche, ist das Sein, das 
starre, unbewegliche, unbegrenzte, unwandelbare, beharrliche, Eine 
Sein. Dies Eine ist das All, und dieses Alleine ist — Gott. Die 
Reprasentanten dieser Weltanschauung sind die Philosophen aus 
der suditalienischen Kolonie Elea, die Eleaten Xenophanes 
(540 vor Chr.) und Parmenides (um 470 vor Chr.). Ihre Schuler 
Zeno und Melissus zeigten insbesondere mit einer seltenen Scharfe 



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Enter Abtchnitt. Die griechische Skepsi*. 


der Dialektik, dafi Vielheit und Veranderung, vor allem die Be* 
wegung, unmoglich sei: Achilles kann eine Schildkrdte niemals 
einholen; denn er mufi dazu eine Unendlichkeit unendlich kleiner 
Teilstrecken durchlaufen, so dafi die Schildkrdte immer schon 
den Ort verlassen hat, wenn Achilles an demselben eintrifft; eine 
Bewegung kann unmoglich beginnen; denn ein Korper kann gar 
nicht an einen anderen Ort gelangen, ohne eine Unendlichkeit 
von Zwischenorten vorher passiert zu haben. Dafi in diesen schein- 
bar naiven Argumentationen schwierige metaphysische, erkenntnis- 
theoretische und mathematische Probleme (den Begriff des Unendlich* 
kleinen betreffend) enthalten sind, ist ersichtlich. — In allem der 
Philosophie der Eleaten entgegengesetzt ist diejenige des Heraklit, 
des Dunlden von Ephesus (um 500 vor Chr.). Er ldste die Frage 
nach dem Werden, Entstehen und Vergehen so, dafi alles im 
ewigen Wechsel begriffen, dafi die ganze Welt nur ein ununter- 
brochener Weltprozefi sei, eine Reihe von Veranderungen von 
Ewigkeit zu Ewigkeit Alles ist im Flufi; it arta /Set] Ruhe und 
Stillstand gibt es nicht; es gibt kein Sein, nur ein Werden. Also 
die gerade Umkehrung der eleatischen Gedankenreihen. Hatten 
Parmenides und Xenophanes ihr Weltprinzip, das starre, unbeweg- 
liche Sein, in plastischer Weise als in sich abgeschlossene, ruhende 
Kugel erklart, so ist bei Heraklit umgekehrt das rastlos sich ver* 
zehrende Feuer, die wabemde Lohe, das Urwesen der Welt. Das 
Feuer ist zugleich der gottliche Geist, die Weltvemunft, der Xoyog. 
Aus Feuer ist alles geworden, in Feuer kehrt alles zuriick: „der 
Weg auf und ab ist ein und derselbe"; 18 ) in dem Urwesen der 
Welt fallen alle Gegensatze zusammen. Heraklit lehrt die Identitat 
der Gegensatze. 

Sind Heraklit und die Eleaten nun Skepdker? Gewifi nicht; 
sondern als echte Dogmatiker spekulieren sie uber den Urgrund 
der Welt und glauben zuversichtlich, ihn durch ihr reines Denken 
erfafit zu haben. Aber durch diesen Dogmatismus ist dem kom* 
menden Skeptizismus wieder gewaltig vorgearbeitet worden. Der 
Bruch mit der Volksreligion, auf dessen skeptische Konsequenzen 
schon vorher hingewiesen wurde, ist hier noch weit entschiedener 
als bei den ersten ionischen Naturphilosophen und bei Pythagoras. 
Xenophanes bekampft mit aller Wucht die anthropomorphistischen 
Gotter eines Hesiod und Homer, die Hande haben und sprechen, 
die stehlen, ehebrechen und sich betrfigen. 14 ) Und Heraklit 
setzt mit den Eleaten gemeinsam dem Polytheismus den Mono* 



Erstes Kapitel. Vorgeschichte and VerUuf der griechischen Sktpsii. 


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theismus entgegen. 15 ) Auf der anderen Seite stehen sich in den 
Lehren dieser Manner wiederum zwei entgegengesetzte Anschau- 
ungen schroff gegeniiber; zu dem gegensatzlichen Begriffspaar: 
Stoff — Form tritt nun jenes zweite: Sein — Werden hinzu; und 
wiederum sind beide Weltbilder in einer Weise geradlinig und 
unbeirrt zu Ende gedacht, weisen alle Vermittelungsversuche, 
die ein reicheres Erfahrungswissen spateren Zeiten aufnotigte, 
so weit von sich, dafi ihre Gegensatzlichkeit bis zum Aufiersten 
angespannt wird. Mufi da unser kritischer Zuschauer nicht zum 
zweiten Male und in verstarktem Mafie Verdacht schopfen gegen 
die Macht der menschlichen Erkenntnis? Es war Plato vorbehalten, 
das Sein im Werden zu schauen und den ruhenden Pol in der 
Erscheinungen Flucht nachzuweisen. — Aber auch in den ein- 
zelnen Lehren des Heraklit und der Eleaten finden wir reiche 
Ansatze zum Skeptizismus. Die Eleaten leugneten Vielheit, Ver- 
anderung und Bewegung. Aber wo unser Auge hinblickt, wo 
unsere Hand tastet, stofien unsere Sinne auf Vielheit, Veranderung 
und Bewegung. So wird die sinnliche Erkenntnis fur trugerisch 
erklart, und zwar nicht in jener relativ harmlosen Art, in der wir 
auch heute noch von Sinnestauschungen reden, sondem in ihrer 
ganzen Ausdehnung und in jedem ihrer Teile. Die Welt der Sinne 
ist die Welt des' Schemes und des Irrtums, und sie steht in 
geradem Gegensatz zu den Ergebnissen der Vemunft. Nur das 
ruhende Sein ist logisch denkbar. Diese Zweifel in die sinnliche 
Erkenntnis und die Betonung ihres Gegensatzes zur Vemunft ein- 
sicht kehren auch in fast alien skeptischen Theorien wieder. — 
Mit ihren zahlreichen , auf den subtilsten und verzwicktesten 
Schliissen aufgebauten Beweisen von der Unmoglichkeit eines 
scheinbar Selbstverstandlichen, wie der Bewegung und der Vielheit, 
legte die eleatische Schule ferner den Grund zu der sogenannten 
Dialektik; diese Kunst hat fur die Skeptiker stets eine will- 
kommene Waffe abgegeben, das vor aller Augen Liegende hinweg 
zu disputieren oder auch fur die namliche Behauptung das Ja und 
das Nein im antithetischen Verfahren mit gleich star ken Griinden 
zu erweisen. 16 ) Dafi in der Tat diese skeptischen Ziige in die 
eleatische Philosophic nicht hineingedeutet wurden, sondem wirklich 
in ihr liegen, beweist der Umstand, dafi einer der Grofiten der 
Sophisten, Gorgias, seine skeptischen Behauptungen aus elea- 
tischen Grundgedanken ableitet, und dafi in den Spottgedichten 
des Tim on, eines Hauptes der skeptischen Schule, in denen 



IO 


Erster Abschnitt. Die griechische Skepsis. 


alle Philosophen l&cherlich gemacht werden, nur Pyrrho, der 
eigentliche Begriinder der Skepsis, und die Eleaten emst genommen 
und bewundert werden. 17 ) — Nicht minder drangt die herakliteische 
Weltansicht zu skeptischen Folgerungen. Nur nebenbei sei ein 
die Sinneserkenntnis bezweifelnder Ausspruch Heraklits erwahnt: 
„Schlimme Zeugen sind Augen und Ohren den Menschen, wenn 
sie Barbarenseelen haben u18 ) (d. h. wenn sie Seelen haben, die die 
Sprache von Auge und Ohr nicht zu deuten vermogen). Wenn 
aber alles im ewigen Wechsel kreist, wie es Heraklit verkundete, 
wie ist dann uberhaupt eine Erkenntnis der Dinge noch moglich? 
Wenn man nicht zweimal, ja nicht einmal (Kratylus) in den gleichen 
Flufi hinabsteigen kann, weil es dann nicht mehr der gleiche ist, 19 ) 
wie kann man da von einem bestimmten Flufi uberhaupt sprechen? 
In noch naiver Weise kehrt der namliche Kratylus, ein Schuler 
des Heraklit, die Unmdglichkeit der Erkenntnis und der Mitteilung 
unter solchen Bedingungen dadurch hervor, dafi er kein Ding 
mehr mit Namen benannte, sondem nur rasch mit dem Finger 
danach wies, weil es sonst inzwischen schon ein anderes geworden 
sein konne; 20 ) aber vollbewuflt sehen wir wiederum ein Haupt 
der Sophisten, und gerade den bahnbrechendsten Vorlaufer der 
Skepsis, Protagoras, dem herakliteischen Prinzip vom Flufi aller 
Dinge anhangen ; und unter den erklarten Skeptikem scheint einer 
der radikalsten, Aenesidem, (eine Frage, die uns spater noch 
beschaftigen wird) die herakliteische Philosophic unter alien Welt- 
deutungen fur die relativ wahrscheinlichste gehalten zu haben. 

Aber noch ist die Zeit fur den Skeptizismus nicht reif. Immer 
schiefien neue Systeme auf dem griechischen Geistesboden auf; 
immer noch steht das kosmologische Problem, die Welterklarung, 
im Vordergrund des Interesses. Man geht jetzt nicht mehr so 
allgemein und radikal vor, dringt defer ins Einzelne und sucht 
die grofien Entweder — Oder in ein Sowohl — Als auch zu ver- 
wandeln. Einige, wie Empedokles (um 450 vor Chr.), erklaren 
die Weltvorgange als eine Verbindung und Trennung von vier 
Elementen und sehen die bindenden und trennenden Krafte in 
der Liebe und im Hafi; andere, wie Anaxagoras, nehmen ein Chaos 
unzahliger solcher Elemente an und lassen erst durch das Hinzu- 
treten einer Weltvemunft, des vovs, Ordnung und Harmonie er- 
wachsen. Durch solche Versuche werden neue Widerspriiche dem 
griechischen Geist als Ratsel hingeworfen, der naive Glaube an 
die Volksreligion immer tiefer in den Hintergrund gedrangt. 



Erstes Kapitel. Vorgeschichte und Verlauf der griechischen Skepsis. 


II 


Anaxagoras wurde bereits wegen Gottlosigkeit aus Athen ver- 
bannt; den Empedokles scheint in Italien ein gleiches Schicksal 
getroffen zu haben. In direkter Beziehung zum Skeptizismus aber 
steht das reifste Erzeugnis und die eigentliche Frucht dieser ersten 
naturphilosophischen Periode der griechischen Philosophic: das 
grofie materialistische System des Demokrit (um 420 vor Chr.). 
Leider ist es nur in elenden Bruchstiicken auf uns gekommen. 
Die Welt besteht aus zahllosen Elementen im Raume, deren einzige 
Eigenschaften Grofie und Figur sind; sie sind ungeteilt und unteilbar, 
ato/ia. A lies, was ist, besteht aus solchen Atomen; alles Ent- 
stehen ist nur Verbindung, alles Vergehen nur Trennung der 
Atome; alles Wirken geschieht mechanisch, durch Druck und 
Stofi der Atome. Zufall gibt es nicht. Die Seele besteht aus 
den glattesten Atomen; Denken ist Bewegung der Gehimatome. 
Wie steht es nun aber mit der menschlichen Erkenntnis? Wenn 
die Atome und der Raum allein wirklich, an sich, bestehen, so 
ist die Erkenntnis allein wahr, welche diese erfafit. Die Atome 
aber sind nichts Sichtbares, sondern nur Denkbares, votftd . Allein 
die Vemunflerkenntnis also besitzt die Wahrheit; 21 ) die sinnliche 
Erkenntnis, die uns die Qualitaten der Dinge, wie Farbe, Ge- 
ruch, Geschmack aqzeigt, ist subjektiv, je nach der Beschaffen- 
heit unserer Sinnesorgane verschiedcn, und ihr entspricht keine 
objektive Wirklichkeit. 22 ) Der Honig ist weder sufi noch bitter, 
sondern ein Komplex qualitatsloser Atome; er ist — schon Demokrit 
gebraucht diese skeptische Formel, wenn auch in etwas anderem 
Sinn wie die spateren Skeptiker — „um nichts mehr“ (ovfiir paXXov) 
dies als jenes. 23 ) Auch aus den ethischen Aufierungen, die wir von 
Demokrit besitzen, scheint hervorzugehen, dafi er das namliche 
Lebensideal wie die Skeptiker, die Unerschiitterlichkeit des Gemiites, 
die arapaiUa empfohlen habe. 24 ) Demokrits Schuler (Metrodorus 
von Chios 26 ) und Anaxarch 26 ) bildeten die skeptischen Elemente 
des Meisters in scharferer Zuspitzung aus. Eine tatsachliche, alien 
Vermutungen entriickte Verbindung des Demokritismus mit dem 
Skeptizismus besteht darin, dafi der Demokriteer Anaxarch der 
Lehrer und Begleiter Pyrrhos, des Griinders der skeptischen 
Schule, gewesen ist. Der Zusammenflufi all dieser und noch 
anderer Umstande hat es veranlafit, dafi Forscher unserer Tage 
den alleinigen Ursprung der pyrrhoneischen Skepsis in Demokrits 
Lehre erblicken wollen. Das aber ist einseitig. 27 ) Denn wie wir 
schon vor Demokrit mannigfache zur Skepsis hindrangende 



12 


Erster Abschnitt. Die griechische Skepsis. 


Gedankenstrdme aufzeigen konnten, so wird nun in erhdhtem 
Mafie der gewaltige Problemumschwung , der sich zu Demokrits 
Zeit in der griechischen Philosophic vollzieht, fur die Entstehung 
des Skeptizismus bedeutungsvoll. 

Dieser Umschwung in den Problemen eroflnet die zweite 
grofie Epoche der griechischen Philosophic. Worin besteht er? 
Von der Betrachtung der Welt und der Natur, mude geworden 
durch die zahlreichen vergeblichen Losungsversuche , wendet sich 
das Interesse dem Menschen zu. Es ist das anthropologische 
Problem, welches das kosmologische ablost. Man fragt sich: 
stammt denn der ganze Streit der philosophischen Meinungen 
nicht vielleicht daher, dafi dem menschlichen Erkennen gewisse 
Grenzen gesetzt sind? Liegt die ganze Schwierigkeit vielleicht nicht 
im Objekt sondem im Subjekt ? So kam man auf das Erkenntnis- 
problem. Aber der Mensch besteht nicht nur aus einem erkennenden, 
sondem auch aus einem wollendenTeil; aus diesem entspringen seine 
Handlungen. Nun richtet sich der Blick der Denker in dieser anthro- 
pologischen Stromung vorwiegend auf das Erkennen und das Handeln. 
Erkenntnistheorie und Ethik stehen jetzt im Mittelpunkt des Interesses. 
Die Zuriickschraubung des philosophischen Standpunkts von der Be- 
trachtung des allumfassenden Objekts, der Welt, auf die Analyse 
des philosophierenden Subjekts, des Menschen, geschah durch die 
Sophisten. LJnd zwar gleich in der radikalsten Weise. Die So- 
phisten waren Wanderlehrer, die fur Geld philosophischen Unter- 
richt erteilten — im damaligen Griechenland etwas Unerhortes. Die 
vornehm strenge Art eines Heraklit und Parmenides, sich sinnend 
in das All zu versenken, und was sie dort erschaut, nach Pro- 
pheten weise zu verkiinden , der lebenabgewandte grofie Denker- 
stil dieser Manner war den Sophisten fremd. Sie schauen nicht 
und verkunden nicht; sie kliigeln und lehren fur Geld; sie suchen 
die Theorie unmittelbar fur die Praxis zu verwerten. Rhetorik 
und Politik sind ihre vomehmsten Kiinste. Diese Ziige scheinen 
alien Sophisten gemeinsam gewesen zu sein. Gegen eine ein- 
gehendere Gesamtcharakteristik dieser Richtung hat man mit Recht 
die gewaltigen Unterschiede zwischen den einzelnen Vertretem 
gcltend gemacht, die, nur durch den gemeinsamen Beruf zusammen- 
hangend, keine besondere Schule oder Klasse innerhalb der grie- 
chischen Denker bilden* 8 ). Aber mit Sicherheit diirfen wir unter 
den Sophisten zwei Typen feststellen, denen man in jedem Beruf 
und in jedem Stande zu begegnen pflegt: die seichten und die 



Erstes Kapitel. Vorgcschichte und Verlauf der griechischen Skepsis. 1 3 

tiefen, die Ernst- und die „ Spafiphilosophen", um mit Schopen- 
hauer zu reden. Und auch das laflt sich noch getrost behaupten, 
dafi man bei beiden Gattungen gelegentlich auf skeptische Ge- 
dankengange stofit. Wenn auch der Durchschnittsophist keines- 
wegs immer ein Aufklarer und noch viel weniger jeder Aufklarer 
damals immer ein Sophist gewesen zu sein braucht, 29 ) so segelte 
doch zweifellos die Menge der Sophisten in einem Fahrwasser, 
das iiberkommene Werte und Oberzeugungen unterspiilte und an 
deren alten Pfeilern und Pfosten hinaufleckte. Im Kritisieren und 
Widerlegen sind sie Meister, die Dial ektik uben sie als Sport. Kunst- 
stiickchen, wie sie uns Plato von dem sophistischen Bruderpaar 
Eutydemus und Dionysidorus vor Augen fuhrt, mogen an der 
Tagesordnung gewesen sein. Wenn solche Manner dann eine 
skeptische Geisteshaltung annahmen, so stand dieselbe theoretisch 
wohl meist auf schwachen Stiitzen. Sie iibersprangen die Theorie, 
um sich ganz der Praxis zuzuwenden und technisch gut geschulte 
Redner, Politiker, Advokaten zu erziehen. Aber dieser Verzicht 
auf Theorie und systematische Begriindung war kein Akt der 
Entsagung, sondern sie nahmen umgekehrt den theoretischen 
Standort volliger Negation zum willkommenen philosophischen 
Ausgangspunkt, ihre eigentliche Liebhaberei, die dialektische, 
im Leben verwendbare Ausbildung ihrer Schuler zu betreiben. 
Denn von der Basis des Zweifels aus, ob es allgemeingiiltige 
Wahrheiten, ob es allgemeinverbindliche sittliche Gesetze gabe, 
war es leicht, von dem gleichen Satze das Ja und das Nein, von 
der gleichen Handlung das Gut und das Schlecht zu erweisen (ein 
bekanntes Kunststiick der Sophisten), und dies wiederum war ja ein 
brauchbares Mittel, die schwachere These zur starkeren zu machen, 
den Gegner im Prozefi ad absurdum zu fuhren, dem Streitenden 
in der Diskussion den Mund zu schliefien; vielleicht auch war es 
fur manche der geeignete Standpunkt, unter kluger Benutzung der 
beginnenden Decadence viel Geld zu verdienen. 

So frivol und lappisch aber auch die minderwertigen Exem- 
plare dieser Gruppe zumal in spateren Zeiten gewesen sein mogen, 
so liegt doch selbst bei ihnen dieser hohen Virtuositat, das Feste 
schwankend und das Schwankende fest zu machen, etwas sehr 
Emstes und emst zu Nehmendes zugrunde. Es ist die Einsicht, 
die die Ernsten unter den skeptisch gearteten Sophisten sich 
zu eigen machen, die Einsicht: dafi die Wahrheit eines Urteils, 
die erkennbare Natur eines Dinges von der Beschaffenheit des 



14 


Enter Abschnitt. Die griechiache Skepsis. 


urteilenden und wahrnehmenden Subjekts abhangen, dafi es somit 
keine Wahrheit „an sich u gibt, und dafi die „ absolute “ Natur 
eines Dinges nicht erkannt werden kann. So etwa wird man in 
modemer Ausdrucksweise die Summe der Lehren zusammenfassen 
dfirfen, die die grofien Haupter der Sophisten, Protagoras 
und Gorgias (beide um 440 vorChr.) verkfindeten. Der klassische 
Satz des Protagoras „der Mensch ist das Mafi aller Dinge, der 
seienden, dafi sie sind, der nichtseienden, dafi sie nicht sind“, ist 
der monumentale Ausdruck dieser Auffassungsweise. Seine 
Deutung ist nicht unumstritten ; aber wir neigen der Ansicht zu, 
dafi Protagoras hier unter dem Menschen den Einzelnen, nicht die 
Gattung verstanden , der Satz individuelle, nicht generelle Be- 
deutung habe 30 ) und also besagen wolle, dafi (nicht die alien 
Menschen gemeinsamen , sondern) die Erkenntnisbedingungen des 
Einzelnen der Mafistab zur Feststellung der Wirklichkeit alles 
Dinglichen sei. 81 ) Durch die Anwendung der herakliteischen Lehre 
vom Flufi und der Bewegung aller Dinge, deren Anhanger Prota- 
goras war, 88 ) auf die speziellen Vorg&nge der sinnlichen Wahr- 
nehmung scheint der Sophist zu seinen skeptischen Grundansichten 
gelangt zu sein. Auch die sinnliche Wahrnehmung kommt nur 
durch den Zusammenflufi zweier Bewegungen, einer vom Objekt 
und einer vom Subjekt ausgehenden, zustande; ihr Produkt ist 
die jeweilige Empfindung. 88 ) Da diese aber naturgemafi von dem 
augenblicklichen Zustand des wahrnehmenden Organs abhangig ist, 
so ist der Erkenntniswert jeder Empfindung nur ein augenblick- 
licher und individueller. Fur mich ist die Empfindung wahr — 
aber auch an sich? 84 ) Indem Protagoras nun jede andere Erkennt- 
nisquelle aufier der sensualistischen leugnet, 85 ) mufi er bei diesem 
relativen Wahrheitsbegriflf stehen bleiben. Tat er das wiederum, 
so ist nur die natfirliche Folge: wenn man die absolute Wahrheit 
einer Behauptung im Auge hat (d. h. deren Giiltigkeit fur das 
Objekt und Verbindlichkeit fur andere Subjekte), so herrscht der 
vollstandige Zweifel, und es lafit sich von jedem Satz das Ja und 
das Nein mit gleich guten Grunden beweisen. 

Das Prinzip der Isosthenie, das spater in der griechischen 
Skepsis eine so grofie Rolle spielt, hat Protagoras zuerst ver- 
kfindet 88 ) Ganz damit in Obereinstimmung steht seine erldarte 
Unwissenheit fiber die Gotter, 87 ) die freilich eine Verehrung der- 
selben — aus welch psych ologischen Grunden auch immer — 
ebensowenig wie bei den spateren Skeptikern, ausgeschlossen 



Erstes Kapitel. Vorgeschichte und Verlauf der griecbischen Skepsis. 


15 


haben mag. „In betreff der Gotter vermag ich nicht zu wissen, 
nicht, dafi sie sind, und nicht, dafi sie nicht sind; denn vieles 
hindert, dies zu wissen, zumal die Dunkelheit der Sache und das 
menschliche Leben, dafi es so kurz ist. <<88 ) 

Gorgias aber huldigte einem volligen Nihilismus, den er 
zum Teil mit eleatischen Gedankenreihen stfitzte, in seinen drei 
Thesen: es ist nichts; gabe es etwas, so ware es unerkennbar; 
ware es erkennbar, so ware es nicht mitteilbar. Aber die Beweise, 
die wir dafur zu horen bekommen, sind teils von so rein formal - 
dialektischer Art, teils treffen sie fiberhaupt einzig die Moglichkeit 
eines Irrtums und nicht die Unmoglichkeit der Erkenntnis, dafi 
nur ein uns fremdes, rein geschichtliches Interesse mit seiner 
Versenkung in alles tatsachlich Dagewesene, nicht aber die Ab- 
sicht, nur wichtige systematische Elemente des Skeptizismus zu 
berficksichtigen, ihre Besprechung an diesem Ort rechtfertigen 
wiirde. 

Dagegen darf man die uns fiberlieferten moralphilosophischen 
Ausspruche der Sophisten in keinem Fall als ethische Skepsis 
gelten lassen. Wenn man, wie wir es tun und es im Interesse 
reinlicher Sonderung der Standpunkte geboten erscheint, unter 
philosophischem Skeptizismus den Zweifel aus grundsatzlichen Er- 
wagungen an der Erkennbarkeit der Wahrheit auf dem Gebiet der 
Werte oder der Wirklichkeit versteht, so kann von einer sophisti- 
schen Moralskepsis nicht die Rede sein; denn entweder bewegten 
sich diese Manner ganz in den Gleisen der landlaufigen Moral- 
anschauung, wie Prodikus, Protagoras und andere, oder aber sie 
vertreten, wie Thrasymachus und Kallikles (in der platonischen 
Darstellung) rein anarchistische Grundsatze. Diese gipfeln in 
den Gedanken, dafi die herrschenden Begriffe fiber Recht und 
Unrecht, Gut und Schlecht, wie die Verschiedenheit der sittlichen 
Gebrauche und Anschauungen bei den einzelnen Volkern beweise, 89 ) 
nicht unveranderlich in der Natur der Dinge liegen, sondem auf 
willkurlicher Satzung der Menschen beruhen, nicht <pv6et sondem 
nur S i6si bestehen. 40 ) Diesem positiven Recht steht das natfir- 
liche Recht gegenfiber; es lehrt, dafi, wer die Kraft in sich fuhle, 
die Gesetze zu fiberspringen, dies auch ruhig tun dfirfe. Denn 
der Natur nach sei Kraft: Recht und die rficksichtslose Verfolgung 
des eigenen Vorteils: Sittlichkeit Man erkennt sofort an diesen 
Gedankengangen die Vorlaufer der Moralphilosopbie eines Hobbes, 
Helvetius, Stiiner t Aber von irgend einem Zweifel an der Er- 


i6 


Enter Abschnitt. Die griechische Skepsit. 


kennbarkeit sittlicher Werte ist so wenig wie bei ihren Nach- 
folgem die Rede ; denn sowohl das jeweilig positive Recht wie das 
Recht der Natur liegt ofTen vor aller Augen. 41 ) — 

Aus diesen sophistischen Bruchstucken kann man soviel ent- 
nehmen, daft wir es hier mit dem ersten emstlichen skeptischen 
Gegenstofi gegen den alten Dogmatismus der Naturphilosophen zu 
tun haben. Aber der eigentliche und ausgebildete philosophische 
Skeptizismus liegt noch nicht vor. Protagoras sagte gewisser- 
mafien: alles ist wahr; 4 *) Gorgias: nichts ist wahr; 48 ) der Skeptiker 
sagt: ich weifi nicht, ob etwas oder nichts wahr ist. 44 ) Protagoras 
glaubte an die Wahrheit der herakliteischen Metaphysik, 45 ) was 
mit dem skeptischen Standpunkt unvertraglich ist Vor allem aber, 
bei der gesamten Sophistik linden wir das skeptische Weltbild 
weder durch methodische Denkarbeit noch durch in die Tiefe 
gehende Griinde gestutzt. Bei den Durchschnittsophisten wird 
das an der praktischen Hauptabsicht ihres Philosophierens ge- 
legen haben; bei Mannem wie Protagoras und Gorgias vielleicht 
an der Oberzeugung, mit der Entdeckung, daft alle Erkenntnisse 
von der Natur des erkennenden Subjekts abhangen, sei auch die 
extreme Konsequenz gegeben, daft die subjektive Willkur uber 
Wahr und Falsch zu entscheiden habe und es also eine eigentlich 
theoretische Wissenschaft von der Erkenntnis nicht geben konne. 
Vielleicht ist auch nur die elende Beschaffenheit der auf uns ge- 
kommenen Fragmente daran schuld, daft wir in der Skepsis der 
Sophisten nicht mehr als Rudimente einer philosophischen Zweifels- 
lehre zu erblicken vermogen. Aber da uns andere Quellen nicht 
fliefien, so mussen wir sagen, die Sophisten bleiben mit die ge- 
waltigsten Vorlaufer, aber sie bleiben Vorlaufer des philo- 
sophischen Skeptizismus. 46 ) 

Und noch vermogen diese sophistischen Bahnbrecher dem 
Skeptizismus den Weg nicht freizulegen. Ihr skeptischer Vor- 
stofi wird pariert, — pariert von keinem Geringeren als Sokrates 
(469 — 399 vor Chr.). Aber die Abwehr geschieht unter Opfem, 
unter Hinnahme des subjektiven Standpunkts. Auch fur Sokrates 
ist der Mensch das Mafi der Wahrheit, doch nicht jeder Mensch, 
sondern der Mensch. Wahr ist, was alien Menschen wahr er- 
scheint, und dies nicht nur im Sinne einer subjektiv-, sondern 
einer objektiv-allgemeingultigen Wahrheit. Wahr sind darum allein 
die Begriffe. 47 ) Die Begriffe in den einzelnen Menschen zur Klar- 
heit zu entwickeln, in ihnen frei zu machen, zu „entbinden w , ist 



Erstes Kapitel. Vorgeschichte and Verlauf der griechischen Skepsis. 


17 


dem Sokrates innerster Beruf. Aber diese Erarbeitung der wahren 
Begriffe ist auch unerlafilich; nur der oberflachliche und seichte 
Geist ist davon iiberzeugt, in seinen Alltagsvorstellungen die Wahr- 
heit zu besitzen. Dieser bescheidene Ausgangspunkt alter Forschung 
und derTrieb, immer mehr, immer griindlicher wissen zu wollen, 
kommen in des Sokrates Ausspruch: ich weifi nur, dafi ich nichts 
weifi 48 ), zum Ausdruck. Dieser Satz ist nichts weniger als eine 
skeptische Formel; er ist nur der Ausdruck der sokratischen 
Methode. Denn diese bewegt sich in dem stets wiederkehren- 
den Zirkel: Selbstprufung, die Sokrates gar nicht warm genug 
empfehlen kann; aus dieser ergibt sich der Einblick in die eigene 
Unwissenheit, daraus die Verpilichtung, mit andern gemeinsam nach 
der Wahrheit zu forschen; die gemeinsame Arbeit erzeugt ein ver- 
tieftes Selbstverstandnis, das wiederum die eigene Unwissenheit an 
andern Punkten enthiillen wird usf. Im ubrigen glaubt Sokrates 
fest, dafi es fur alle Gebiete allgemeingiiltige Wahrheiten gabe und 
dafi der Mensch diese — auf einigen wenigstens — zu erkennen 
vermoge 49 ) (namlich auf dem der Moral, nicht aber auf dem der 
Naturphilosophie), dafi diese Erkenntnis aber nur emstester Arbeit 
vorbehalten sei. Einzig dem, der von seinem Nichtwissen durch- 
drungen ist, kann das Wissen zu teil werden 60 ). 

Aber die Zeit der unschuldvollen, zweifelfreien Forschung 
konnte auch ein Sokrates nicht zuriickbringen. Mehr als ein Ele- 
ment hat er mit den Sophisten gemein: Sophistische Problem- 
stellung, sophistische Kritik und die sophistische Kunst der sub- 
tilen Begriffsdistinktionen. Und wenn er mit solchen Mitteln fur 
den Bestand des Alten eintritt, so ist das nur der Ausdruck dafiir, 
dafi sich in ihm der Ernst und die Strenge der alten Zeit mit dem 
kritischen und beweglichen Geist der neuen Zeit kreuzen. In der 
Moral, der eigensten Heimat der sokratischen Philosophic, zeigtesich 
dieser neue Geist darin, dafi er die ethischen Fragen als Probleme 
fafite, sich nicht mit der Sanktion durch Autoritat begnugte, sondem 
Grunde verlangte, sich nicht mit der Ausubung sittlicher Hand- 
lungen aus Instinkt und Gewohnheit zufrieden gab, sondem ein 
vollbewufites, auf heller Erkenntnis beruhendes Handeln forderte. 
Der altgriechische Geist aber lebte in Sokrates, insofem dieser, 
entgegen der kritischen Zersetzung und Negation der Sophisten, 
an der Verbindlichkeit der staatlichen Gesetze, an der Verehrung 
der Staatsgotter bis zu Orakelbefragung und Opfer herab, im 
wesentlichen festhielt. So blieb der Inhalt der sokratischen 


Richter, Skiytiikima. 


a 


i8 


Enter Abachnitt Die griechucbe Skepsis. 


Lebensanschauung im allgemeinen deijenige der Vergangenheit. 
Aber dafi er gerechtfertigt wurde durch logische Grfinde, dafi cr 
zum wissenschaftlichen Problem gemacht wurde, das war das Neue 
und, das darf man sich nicht verhehlen, das Wirksamere und 
„Gefahrliche“. Kritik alter Gebrauche , eingewurzelter Werturteile, 
religioser Grundbegriffe, wenn sie auch zur Rechtfertigung der- 
selben untemommen wird, setzt von vornherein diese Norm- 
vorstellungen auf einen exponierten Platz, dem Ansturm freier 
Geister preisgegeben; und man kann nie wissen, ob das Ende 
nicht die Zerstdrung der Oberkommenen sein wird. Wer hierin 
ein Unglfick, besonders fur die Masse, sahe, der mfifite auch die- 
jenigen bekampfen, welche die traditionellen Werte lcritisch stutzen 
wollen, weil sie die aufklarende Macht der Vemunft an Gebiete 
herantragen, die besser mit dem Schleier ewiger Nacht bedeckt 
blieben. So meinten auch die Anklager des Sokrates; mit seiner 
Verurteilung glaubten sie den Geist der neuen Zeit, den Geist 
der Kritik zu treffen und zu ertoten; und sie hatten so unrecht 
nicht gehabt, wenn die Kritik und Reflexion, ist die Zeit fur 
sie reif, durch die Vemichtung eines Individuums sich mit ver- 
nichten liefie. 

Die skeptischen Keime in des Sokrates Lehre wurden von 
einem Teil seiner Schuler, den Vertretem der megarischen und 
elischen Schule (nach ihren Begrundem Euklid von Megara und 
Phaedon aus Elis so genannt), durch die Pflege dialektisch-so- 
phistischer Fangschlfisse weitergebildet. 61 ) Der berfihmte 6cop{r^ } 
der Komhaufe, ein scheinbar harmloses Spiel, aber voll versteckten 
Tiefsinns, stammt von diesen Mannern: ein Korn gibt keinen 
Haufen; zwei, drei, vier usw. auch nicht; wo f&ngt der Haufen 
an? 63 ) Mit den Ansichten der eristischen Schule in Elis ist Pyrrho, 
selbst in Elis gebfirtig, frfih bekannt geworden. 

Aber mag der Einflufi des Sokrates auf diesem indirekten 
Wege auch die Skepsis mit haben befordem helfen, die wesent- 
lichere Leistung war: dafi er den skeptischen Strom, der sich von 
den Sophisten herleitete, noch auf hundert Jahre zuruckdammte. 
Die Gefahr, die in dem subjektiven Standpunkt lag, das indi- 
viduelle Subjekt zum Richter fiber wahr und nichtwahr zu machen, 
wie es die Sophisten auch taten, lenkte er durch seine Lehre ab: 
nur das ist wahr, was alien Menschen, was dem Menschen wahr 
erscheint; so schuf er fur einen emeuerten Dogmatismus freie 
Bahn. Der subjektiv-anthropologische und der objektiv - kosmo- 



Entes KapiteL Vorgeschichte und Verlaof der griechischen Skepsis. 19 


logische Standpunkt wurden zu einem groGen System der Philo- 
sophic verschmolzen, in dem Erkenntnistheorie und Ethik, Natyr- 
philosophie und Metaphysik gleichmaGig ihre Rechnung finden. 
Die Schopfer solcher Systeme waren Plato (427 — 347 vor Chr.) 
und Aristoteles (384 — 322 vor Chr.). Bei diesen Mannem findei 
sich keine Spur von Skeptdzismus; mit dogmatischer Zuversicht 
glauben sie nicht nur die Welt der Erscheinungen und ihre Ge- 
setze, sondem auch das innerste Was dieser Erscheinungen er- 
fassen zu konnen. Dem Plato sind die Urbilder oder die Ideen 
der Dipge das wahrhaft Seiende; sie allein sind wandellos, ewig, 
unverganglich. Indem sie sich mit der triibenden Materie verbinden, 
werden sie dem Wechsel unterworfen, in den Flufi des Geschehens 
gerissen. Platos System ist ein System des Spiritualismus; denn 
etwas Geistiges, Spirituelles, wird hier zum Wesen der Welt 
und des Menschen gemacht Aristoteles dagegen versetzt diese 
„Ideen“ Platos von dem Himmel auf die Erde; die „Formen“ 
(wie er sie nennt) existieren nicht ohne den StofT; nur der ge- 
formte StofT, die geistig - korperlichen Dinge, wie sie uns umgeben, 
sind das Wirkliche. Aristoteles ist Materio- Spiritualist 68 ). Auch 
die groGten Denker Griechenlands sind also nicht miteinander 
einig. Ein neues gegensatzliches Begriffspaar, das des Spiritualis- 
mus und Materio -Spiritualismus, tritt zu den bereits ausgebildeten 
hinzu, und die Wirkung dieses Kontrastes wird eine gewaltige 
sein, gemafi der ungeheuren Denkarbeit, die hier nach Tiefe und 
Umfang die Standpunkte bis ins Einzelste ausgestaltete. Der un- 
parteiische Zuschauer wird noch einmal in verstarktem Zweifel 
die Achseln zucken iiber die Grenzen der menschlichen Erkenntnis. 

Aber diesmal bleibt es nicht beim Zuschauen; diesmal ist 
die Zeit gekommen, wo der Skeptizismus wirklich auf die Buhne 
tritt Die Saat ist reif: die zunehmende Entfemung von der Volks- 
religion bis auf Plato, dem Gott das Gute, und Aristoteles, dem 
er der ersteBeweger war, herab; die klaffenden Gegensatze zwischen 
den dogmatischen Weltdeutungen des Materialismus, Spiritualismus, 
Materio -Spiritualismus; die Zweifel in die Sinnenerkenntnis bei 
den Eleaten und Demokrit; die immer steigende Ausbildung der 
dialektischen Kunst; die subjektivistische Wendung durch die 
Sophisten mit ihrer Formel: der Mensch ist das Mafi aller Dinge; 
dazu die getrennten Lebensideale der sich an Sokrates anschlieGen- 
den Schulen, die Bediirfnislosigkeit der Cyniker, die Lustlehre der 
Cyrenaiker — all das zusammen treibt den philosophischen Skepti- 



20 


Enter Abschnitt. Die griechische Sltepsis. 


zismus endlich hervor. Und doch, vielleicht ware er noch nicht 
und in Griechenland niemals erschienen, wenn nicht von einer 
ganz anderen Seite her ihm der Boden bereitet ware. Mit dem 
Tode Alexanders und Aristoteles* schreitet der Verfall des grie- 
chischen Reiches aufierlich und innerlich unaufhaltsam vorwarts. 
Politisch ist das Land zwischen den Statthaltern des Konigs zer- 
rissen. Staunend hat man es mit angesehen, wie sich Alexander 
als Sohn des Jupiter erklarte; man hat es erfahren, wie Gotter 
„gemacht << werden. Sittenlosigkeit und Genufisucht sind der ! 
herrschende Lebenstil. Griechenland tritt mit der morgenlandischen 
Kultur, ihren Religionen, Sitten und Lebensanschauungen in Be- 
ruhrung. Ein gewisser Internationalismus entsteht, das geeignete 
Milieu, eine skeptische Geisteshaltung zu erzeugen. Der frivole 
wie der tiefitraurige Stimmungskeptizismus kehrt sich naturgemafi 
gegen Religion , Sitte und Wissenschaft. Und wenn dieser Stimmung- j 
skeptizismus, wie wir friiher sahen, auch mit einer philosophisch 
begrundeten Zweifelslehre nicht verwechselt werden darf, so ist i 
er doch ein gunstiger Nahrboden fur dieselbe. Endlich, und das | 
ist bedeutsam, tritt bei den nacharistotelischen Philosophen das 
ethische Problem in den Mittelpunkt der Forschung. Eine Sehn- 
sucht nach Gluck und Frieden, nach Erlosung von der Unruhe 
des Lebens, durchzieht die mude, alte, verfallene Welt. Und wie 
bei einer grofien verheerenden Seuche die Mediziner nur auf Heil- 
und Linderungsmittel sinnen, ihre theoretischen Untersuchungen 
uber den Bau der Knochen und Gewebe aber zurucktreten lassen, 
so wollten auch die Denker der griechischen Niedergangsbewegung 
ihrer Zeit vor Allem den Weg weisen, wie man zu der ersehnten 
Gliickseligkeit, der Evdaipovia , gelangen konne. Die Stoiker 
pragten mit ihrem tiefen, herben Ernst das Lebensideal des 
Weisen und Tugendhaften, der allein wahrhaft gluckselig, un- 
bewegt von Freud und Leid auch zur rechten Zeit freiwillig aus 
dem Leben zu scheiden wisse. Die Epikuraer setzten die Tugend 
in die Lust, die Gliickseligkeit aber nur in diejenige Lust, welche 
keine Leiden im Gefolge hat, in die Lust der Leidlosigkeit. Lag 
nicht noch eine tiefe Quelle der Gliickseligkeit in jenem stillen, 
vollendeten Verzicht verborgen, die aus dem ganzlichen Nicht- 
wissen und Zweifeln, aus dem Nicht -Stellungnehmen zu den Dingen 
entspringt? Es ist das Ideal, mit dem sich die Skeptiker in 
die grofte ethische Bewegung der nacharistotelischen Philosophie 
einreihen; es ist zugleich, das werden wir sp&ter sehen, die 
treibende Kraft in ihrer Lehre. 



Erstes Kapitel. Vorgeschichte und Verlauf der griechischen Skepsis. 


21 


IL Der geschichtliche Verlauf der griechischen Skepsis. 

i. Der Pyrrhonismus. 

Wir haben uns soeben mit den geschichtlichen Vorbedingungen 
des griechischen Skeptizismus beschaftigt und verfolgt, wie zu- 
nehmend Zweifelskeime sich in den Anschauungen der griechischen 
Denker geltend machen; wie solche ferner durch den Widerspruch 
zwischen den Grundansichten der dogmatischen Systeme, durch 
die stetige Zersetzung der religiosen Vorstellungen, endlich durch 
die veranderten politischen und sozialen Bedingungen in Fulle 
geliefert werden. Es ware nun aber ganz verkehrt, deshalb die 
Leistungen der skeptischen Philosophen, mit denen wir es jetzt 
zu tun bekommen, fur gering anzusehen; als ob diese Skeptiker 
nur die Gedanken ihrer Vorganger geschickt aufzulesen und me- 
thodisch zusammenzustellen gehabt batten; als ob sie hatten, im 
hegelianischen Sinne nach der vemiinftigen Weltentwickelung, 
wann und wie sie gekommen sind, auch kommen miissen. Viel- 
mehr hofft unsere Darstellung der skeptischen Philosophie, deren 
vollige Originalitat dartun zu konnen; eine Originalitat, iiber die 
man staunen mufi. Geschichtliche Vorbedingungen sind noch nicht 
geistige Ursachen. Geistiger Urheber der philosophischen Skepsis 
ist das Genie Pyrrhos und nicht die vorpyrrhonische Philosophie, 
noch eine Weltvemunft, von der wir nichts wissen. 

Die skeptische Philosophie wird in Griechenland nicht durch 
das System eines Mannes vertreten; ihre Ausbildung erstreckt 
sich iiber sechs Jahrhunderte ; sie wird in einer Schule gepflegt, 
welche gegriindet wird, bald wieder erlischt, durch eine ver- 

wandte Richtung abgelost wird, noch einmal wieder erbluht 

» 

Diesen Schulen gehoren sechs bis sieben Manner von zum Teil 
ganz gewaltiger Bedeutung an. Zwei Moglichkeiten in der Be- 
handlung der griechischen Skepsis sind damit gegeben: man kann 
sich mit den einzelnen Skeptikem und deren Ansichten der Reihe 
nach beschaftigen, wie es auf den ersten Blick am ratlichsten 
scheint; 54 ) oder aber man kann die Anschauungen des griechischen 
Skeptizismus in einem einheitlichen Gesamtbild 6ntwerfen und 
demselben das Wichtigste iiber die einzelnen Schopfer und deren 
jeweiligen Anted an der Ausbildung des Skeptizismus voranschicken. 
Wir wahlen, vielleicht manchem Wunsche entgegen, aus folgenden 
Griinden den zweiten Weg: erstens wiirden wir keinen einheit- 
lichen Eindruck von der griechischen Skepsis erhalten, wenn wir 



22 


Enter Abachnitt Die griechische Skepsis. 


dieselbe mosaikartig zusammensetzen mufiten; an diesem einheit- 
lichen Eindruck aber liegt sehr viel, wenn man sich fiber den 
Skeptizismus in der Philosophic und nicht nur uber die Geschichte 
des philosophischen Skeptizismus klar werden will. Zweitens, und 
das ist das Entscheidende, ist der Anteil der einzelnen Skeptiker 
ah den Lehren der Schule noch nicht sicher festgestellt und wird 
es vermutlich niemals werden konnen. 65 ) Sich hier in das 
Gestrfipp philologischer Einzeluntersuchungen verlieren,**) hiefie 
den Zielen dieser Arbeit untreu werden. Von den meisten Skep- 
tikern ist aufier wenigen elenden Bruchstficken so gut wie gar 
nichts auf uns gekommen. Dagegen besitzen wir eine vollst&ndige 
und wohlerhaltene Gesamtdarstellung der Lehre von dem letzten 
bedeutenden Mitglied der Schule. 

In zwei grofien Stromungen tritt der Skeptizismus inGriechen- 
land auf; die eine leitet sich von Pyrrho ab und wir wollen sie 
im folgenden auch als Pyrrhonismus bezeichnen: sie verschwindet 
etwa nach drei Generationen, belebt sich aber nach einer Pause 
von ungef&hr hundert Jahren wieder um den Anfang der christ- 
lichen Zeitrechnung und reicht bis ins dritte Jahrhundert nach 
Christo herab. Die andere skeptische Strdmung entspringt inner- 
halb der von Plato gegrundeten Akademie, und ihre Blfite schiebt 
sich in die grofie Pause nach dem tlteren Pyrrhonismus ein; dann 
erlischt sie und gibt die Herrschaft an den jiingeren Pyrrhonismus 
ab. Wir richten unsere Aufmerksamkeit zun&chst auf die Vertreter 
des alteren und jiingeren Pyrrhonismus. 

Pyrrho ist der Stifter des griechischen Skeptizismus. Er ist 
nicht nur der Begrfinder desselben, er ist auch deijenige , welcher 
diese Lehre am folgerichtigsten , aber auch am reinsten und edelsten 
gdebt hat; zugleich ist er eine der erhabensten Gestalten unter 
den griechischen Denkem; fibermenschlich, insofem alles mensch- 
liche Hasten und Trachten von ihm abgestreift erscheint. All 
dlcse UmstSnde , mehr als eine ausgebildete skeptische Theorie, 
cfie Pyrrho noch nicht besessen hat, haben es bewirkt, dafi 
sich die Skeptiker aDer Zeiten ihn zu einer Art von Heiligem 
erkoren, dafi Pyrrho der Patron der Skeptiker geworden ist. Ober 
Pyrrhos Leben sind wir nicht ganz schlecht unterrichtet Wir 
wissen, dafi er als der Sohn des Pleistarch in Elis im Peloponnes 
geboren wurde, 57 ) und dafi er ein Alter von neunzig Jahren er- 
reichte. 68 ) Den Alexanderzug nach Asien hat er mitgemadit 
Nimmt man nun an, dafi er sich etwa mit dreifiig Jahren der 


Entes Kapitel. Vorgeschichte and Verlauf der griechischen Skepsis. 23 


Expedition Alexanders anschlofi, so gewinnt man fur seine Lebens- 
dauer annahemd die Zahlen 365 — 275 vor Chr. 69 ) Ursprunglich 
war Pyrrho ein armer und unberiihmter Maler 60 ) und hat sich 
erst spater der Philosophic zugewandt. Ober seine philosophischen 
Lehrer haben die Alten verschiedene , aber wahrscheinlich tendenzios 
gefarbte Behauptungen aufgestellt: Menedemus , Nachfolger des 
Phaedon, des Begriinders der elischen Schule , 61 ) und Bryso oder 
Stilpo aus der megarischen Schule sollen Pyrrho unterrichtet 
haben. 63 ) Die Angaben bieten aber chronologische Schwierigkeiten; 
richtig an ihnen ist vermutlich, dafi Pyrrho friih mit den Lehren 
der elisch- megarischen Dialektik (beide Schulen wurden anl&filich 
der skeptischen Elemente im Sokratismus erwahnt) vertraut ge- 
worden ist. 68 ) Von grdfierem Einflufi auf ihn aber scheinen des 
Demokrit Anschauungen gewesen zu sein; denn er studierte mit 
Vorliebe Demokrits Werke, 64 ) schloG sich eng an den Demo- 
kriteer Anaxarch an 68 ) und begleitete diesen auf den Feldziigen 
Alexanders nach Asien. Anaxarch nun hatte die skeptischen 
Elemente in des Demokrit Lehre weitergebildet; vor allem aber 
unter den Martem eines Tyrannen, denen er erlag, mit Seelen- 
ruhe und Standhaftigkeit die Ataraxie , die sein Meister lehrte, 
bewihrt 66 ) In Asien auch traf Pyrrho mit den indischen Gymno- 
sophisten, jenen weltabgewandten Weisen, die nackt in den 
W&ldem lebten, mit indischen Magjem, Asketen und Heiligen zu* 
sammen; 67 ) und die tatenlose Gleichgultigkeit, die lebenvemeinende 
Haltung dieser Manner, vor allem ihr gleichmiltiges Erdulden von 
Schmerzen mag dem Griechen, demSohn einer erldsungsbedurftigen 
Zeit, sehnsuchtsvolle Ratsel eingegeben haben. Wir suchen und 
jagen nach der Gliickseligkeit, wir Griechen jenseits des Meeres 
— und hier wird sie geiibt; in Weltabgestorbenheit allein, in der 
Willensverneinung geniefit man seligen Frieden. Aber durch 
welches Land fuhrt der Weg dahin in unserer eigenen Brust? In 
solcher Lage und unter solchen Fragen mogen vor dem sinnenden 
Pyrrho die Grundztige seiner Zweifelslehre als des Welt* und des 
Menschenratsels Losung aufgestiegen sein. 66 ) Nach dem Feldzug 
in Asien kehrte Pyrrho nach Elis zuriick; er lebte hier in be- 
scheidenen Verhaltnissen, aber hochgeehrt. Ihm zuliebe wurde 
den Philosophen Steuerfreiheit gewahrt. 69 ) Die Athener schenkten 
ihm das Bilrgerrecht. 70 ) Auf dem Marktplatz seiner Vaterstadt 
wurde seinBildnis errichtet; 71 ) man ernannte ihn zum Oberpriester. 72 ) 
Unter den Strahlen der aufgehenden Sonne Zenos, des Stoikers, 



24 


Enter Abschnitt Die griechische Skepos. 


und Epikurs eroffnete Pyrrho die skeptische Schule in Elis. 
Schriften hat er nicht verfaflt. 78 ) 

Pyrrhos eigene Lehre aus Zutaten der spateren Bericht- 
erstatter ganz rein herauszuschalen , ist nicht mehr moglich. 74 ) 
Sicher aber ist, dafi er die monumentalen Grundzuge der grie- 
chischen Skepsis selbst entworfen hat. Diese heften sich an die 
drei grofien Fragen: 75 ) wie sind die Dinge beschaffen (und unter 
Dingen ist alles, was existiert oder existieren konnte, zu ver- 
stehen)? wie mussen wir uns zu ihnen verhalten? was erwachst 
fur uns aus diesem Verhalten? Ober die BeschafTenheit der Dinge, 
so beantwortet Pyrrho die erste Frage, konnen wir schlechterdings 
nichts wissen; sie sind nicht mehr dies als jenes; 76 ) denn die 
sinnliche und die Vemunfterkenntnis sind gleichermafien truge- 
risch. 77 ) Jeder Behauptung lafit sich eine gleichstarke Gegen- 
behauptung gegenuberstellen . 7g ) Daraus folgt (fur die Losung der 
zweiten Frage), dafi wir uns den Dingen gegeniiber durchaus 
skeptisch verhalten mussen, fiber nichts ein bestimmtes Urteil 
abgeben durfen, uns vielmehr des Urteils uberall enthalten werden. 
Die Epochs ist die Konsequenz unseres Nichtwissens um die Be- 
schaffenheit der Dinge. 79 ) Zwar leugnet auch Pyrrho nicht, dafi 
wir subjektive Bewufitseinszustande haben, aber auf diese subjek- 
tiven Erscheinungen beschrinkt sich auch unser ganzes Wissen. 
Nur uber sie durfen wir aussagen, 80 ) im ubrigen (d. h. uber die Natur 
der Dinge selbst) mussen wir das grofie Schweigen uben. Aus dieser 
weisen Beschrankung heraus erwachst — und das ist die Antwort 
auf die dritte Frage — allein die Unerschutterlichkeit, die dra- 
paUla, 81 ) die unbewegte Leidlosigkeit, die aytaSeia;* 1 ) denn nur 
wer auf jede Stellungnahme zu den Ratseln des Lebens Verzicht 
getan, nur der ddiaqtopog, der Gleichgultige, ist — wir denken 
an die indischen Heiligen — auch der Gluckselige. 87 ) Da aber 
das Leben vollige Untatigkeit nicht gestattet, so wird der Weise 
den jeweiligen Sitten seines Landes gemafi leben, ohne an deren 
absolute Gultigkeit zu glauben. 8S ) So verkiindet Pyrrho die Grund- 
thesen des griechischen und eines jeden Skeptizismus. Das neue 
sittliche Lebensideal der volligen Resignation war das 
treibende Motiv in seiner Lehre. Pyrrho ist vor allem Moralist 
und keiner der kleinsten. Sein Skeptizismus wurde aus seiner 
Adiaphorie, nicht diese aus jenem geboren. Darum blickt ein 
gewisser praktischer Dogmatismus, eine feste Oberzeugung davon, 
das Gute gefunden zu haben, die mit den skeptischen Voraus- 


Erstes Kapitel. Vorgesdnchte nnd Verlauf der griechischen Skepsis. 2 $ 


setzungen auf den ersten Blick nicht vertraglich scheint, in einigen 
Aufierungen, die ihm Timon in den Mund legt, hindurch. 84 ) Als 
man Pyrrho einst in Gedanken verloren fand und fragte, woriiber 
er griible, antwortete er: ich sinne daruber nach, ein guter 
Mensch zu werden. 86 ) 

Alles, was wir iiber seine Lebensfiihrung und seinen Cha- 
rakter wissen, zeigt ihn uns ganz durchdrungen von jener tief- 
innerlich begriindeten Gleichgultigkeit gegen Leben und Welt 
Nichts von Fanatismus in diesem Manne; er verzweifelt nicht, 
und doch zweifelt er an allem, „er wird durch nichts gehalten, 
und doch steht er aufrecht" (Brochard, a. a. O. S. 73); er ist reli- 
gioser Skeptiker und Oberpriester zugleich. Sein Skeptizismus ist 
nicht der des eifrigen Aufklarers, der noch hofft, sondem eines 
Konservativen, der zu hofien aufgehort. Er lebte einsam und still 
mit seiner Schwester, der Hebamme Philistia; alien Ehrungen ging 
er aus dem Wege; 86 ) ihm blieb stets der Ausspruch jenes Inders 
gegen wartig, Anaxarch konne nicht die Wahrheit lehren, well er 
sich in den Palasten der Konige aufhalte. 87 ) Wahrend eines ge- 
fahrlichen Sturms auf dem Meere zeigte er in der allgemeinen 
Angst nur auf ein Schwein, das ruhig an seiner Nahrung weiter 
frafi, als auf das Muster naiver Sicherheit. 88 ) Wenn jemand wah- 
rend einer Unterredung ihn plotzlich verliefl, so sprach er, ohne 
bdse zu sein, unbekiimmert um den Fortgehenden, gleichmiitig 
zu Ende, was er zu sagen hatte. 89 ) Schmerzhafte Operationen 
soli er, ohne mit den Augenbrauen zu zucken, erduldet haben. 90 ) 
Manche dieser kleinen Zuge mogen der Sage entlehnt sein; denn 
bald umspann die Legende Pyrrhos Gestalt. Aber auch die Le- 
gende ist hier lehrreich. 9l ) Ober das Bild des Menschen, des 
Denkers, des Weisen Pyrrho konnen wir als ein Motto, das dessen 
praktische und theoretische Haltung umfafit, die homerischen 
Worte, zugleich die Lieblingsverse Pyrrhos, 92 ) von der Vergang- 
lichkeit aller Dinge setzen: 

Gleich wie Bl&tter im Walde, so sind die Geschlechter der Menschen, 
Blatter verweht zur Erde der Wind nun, andere treibt dann 
Wieder der knospende Wald, wenn neu auflebet der Friihling. 

So der Menschen Geschlecht; dies w&chst, und jenes verschwindet. 

Man stelle sich den sinnenden Pyrrho vor, still in die 
Melodie dieser Verse versunken, und man wird die Gesamtfarbung 
seines Skeptizismus ergriffen haben. Die Adiaphorie, nicht subtile 



2 6 


Enter Abschnitt Die griedrische Skepsift. 


erkenntnistheoretische Erwagungen fiber die Grenzen des Er- 
kennens, ist die Tat dieses Mantles.**) 

1 st wiser Bild des Menschen Pyrrho nor einigennafien 
treffend rekonstruiert, und mufi man annehmen, dafi er, der nichts 
geschrieben und alle dialektischen Diskussionen hafite, 94 ) noch 
keine ausgebildete Theorie des Skeptizismus besessen hat, so 
werden wir uns unter den Schfilern Pyrrhos in erster Linie 
Manner vorzustellen haben, denen die gleichmfitige Geisteshaltung 
und Lebensfuhrung des Meisters vorbildlich und zum Nachleben 
begehrenswert erschien. In der Tat sind uns von der kleinen 
Gemeinde, die sich um Pyrrho scharte, und von deren Mit- 
gliedem wir allerdings kaum mehr als die Naxnen wissen, fast 
nur praktische Lebensziige uberliefert: Beispiele, in denen sie den 
ersehnten Seelengleichmut des Skeptikers bewahrten oder ver- 
loren, von befreundeter oder gegnerischer Seite gesammelt. 95 ) Aus 
diesem ganzen Kreise (zu dem noch Eurylochus, Philo aus 
Athen, Hekateus aus Abdera, Nausiphanes der Demokriteer 96 ) 
und Lehrer Epikurs gehorten) ragt ein einziger Mann heraus und 
ist auch allein wert, wahrhaft ein Schuler Pyrrhos genannt zu 
werden, Timon der Sillograph. 97 ) 

Timon war aus Phlius, 98 ) einer Stadt im norddstlichen Pelo- 
ponnes, geburtig und der Sohn des Timarch. Seine Lebenszeit 
lafit sich mit Hilfe der Angaben, dafi Stilpo, ein Haupt der mega- 
rischen Schule, sein Lehrer gewesen, 99 ) und dafi auch er neunzig 
Jahr alt geworden, 100 ) mit ann&herader Sicherheit in die Jahre 325 
bis 235 verlegen. Er ist also etwa eine Generation j finger als 
Pyrrho. In der Jugend war er Chortanzer, 101 ) was vermutlich so 
zu verstehen ist, dafi er zu gewissen von ihm verfafiten Liedem 
mit Zitherbegleitung getanzt hat 192 ) Seine philosophische Aus- 
bildung erhielt er in Megara. In Elis hort er Pyrrho das Orakel 
des pythischen Apoll befragen, und ist von Pyrrhos skeptischer 
Rede fiber die Unwissenheit der Menschen so bewegt, dafi er mit 
seiner Frau nach Elis zieht und zeitlebens der treueste Bewunderer, 
Anhanger und Schfiler Pyrrhos bleibt. 108 ) Da er arm war, er- 
warb er sich durch Unterricht in Rhetorik und Philosophie ein 
stattliches Vermogen 10i ) und lebte dann bis zu seinem Tode 
als angesehener Mann in Athen. 105 ) Seinen Sohn Xanthus unter- 
wies oder liefi Timon in der Medizin unterweisen. Man hat dar- 
aus den Schlufi gezogen, dafi Timon selbst Arzt gewesen sei. 
Das ware, falls es richtig ist, nicht ganz bedeutungslos; denn wir 



Erstes Kapitel. Vorgeschichte und VerUuf der gritchischen Skepsis. 27 


werden die jfingeren Skeptiker von def Schule Pyrrhos fast aus- 
schliefilich aus dem Arztestande hervorgehen sehen. 100 ) 

Von Timons Charakter ist es schwer, ein einheitliches Bild 
zu gewinnen. Es liegen, so weit ich sehe, seinem Skeptizismus 
zwei verschiedene Quellen zugrunde; einmal die gleiche Sehnsucht 
wie bei Pyrrho, durch den radikalen Zweifel, die Epoch6 und 
Adiaphorie der resignierten Seelenhihe, dem Glfickseligkeitsideale 
einer niedergehenden Zeit, zugefuhrt zu werden; andeferseits eine 
sarkastisch - boshafte Ader, kraft deren er fiberall nur das Schlechte, 
Falsche, Schiefe erblicken und geifieln mufite; und vielleicht ent- 
sprang jene Sehnsucht gerade diesem Drange. Nur unter dem 
doppelten Gesichtspunkte dieser beiden Triebfedem ist die Lebens- 
ffihrung und Geisteshaltung Timons zu verstehen. Timon ist ein 
mit sich Ringender, Pyrrho ein in sich Fertiger. Auf vielen 
Punkten hat auch Timon die Seelengrofie und Seelenruhe seines 
Meisters bewfihrt. Auch er liebte Mufie und Einsamkeit, Feld 
und Garten. 107 ) Die Adiaphorie soli er soweit getrieben haben, 
dafi er seine Werke unbekfimmert umherliegen liefi und sie dann, 
von Ratten und Mfiusen bis zur Unkenntlichkeit zerfressen und 
benagt, wiederfand. 10 °) Er war einfiugig und liebte es daher, 
scherzhaft sich den Cyklopen zu nennen. 109 ) Aus Gleichmut oder 
Bissigkeit? Wir wissen es nicht; aber beides ist bei Timon mog- 
lich. Zu Timon, dem gleichmfitigen Weisen, gesellt sich Timon, 
der leichtlebige Spotter. 110 ) Dieser liebt es, gut zu essen und 
viel Zu trinken, 111 ) Reichtfimer zu erweiben, seine Feinde mit 
beiflendem Hohn zu fiberschfitten. An seinen Lehrer Pyrrho reicht 
er an Ernst und Wfirde nicht hinan. 

Wahrend Pyrrho, mit seiner Lehre im vollen Einklang, nichts 
Geschriebenes verfafit hatte, ist Timon geradezu ein Vielschreiber 
gewesen. Er war der Autor von sechzig Trag6dien, dreifiig 
Komddien, von Epen und Jamben; 11 *) er hat eine Schrift in Versen 
ivSaXfxoi (worunter wahrscheinlich die Lehre von den Wahngebilden 
zu verstehen ist) verfafit, 118 ) und „das Leichenmahl des Arkesilaus l( ; 
es enthielt eine Lobrede auf diesen ersten Vertreter der akade- 
mischen Skepsis, mit dem Timon erst bitter verfeindet war, sich 
abe!r spater wieder versohnt hat. 114 ) Als Prosaschriften werden 
ihm Bucher fiber die Sinneswahmehmungen (icepl al6Srrj6t<w) lls ) 
und gegen die Fhysiker (arpog roug (pvtiixovz ) 11# ) sowie ein Dialog 
Tlvdoary 117 ) zugeschrieben. Von alledem ist bis auf einige Verse 
nicbts mehr erhalten. Dagegen sind von dem Hauptwerk, den 



28 


Enter Abschnitt Die griechiiche Skepos. 


Sillen, nicht unbedeutende Fragmente auf uns gekommen. 
Wachsmuth hat sie gesammelt und den Zusammenhang des Ganzen 
geistvoll wieder aufgebaut. 118 ) Die (SiXXoi sind Spottgedichte 
{piXXovv bedeutet eigentlich die Augen verdrehen, urn jemanden 
auszulachen) und fullen drei Bucher in Hexametern. Verse des 
Homer werden mit Vorliebe parodiert Die Form des Ganzen 
ist vermutlich eine vexiAa, ein Totenfest. Timon erzahlt im ersten 
Buche, wen er alles im Hades erblickt. Demokrit, Pythagoras, 
Parmenides, Zeno, Plato usw. treten, mit stechenden Epitheta 
ausgeschmuckt, vor dem Unterweltbesucher auf. Und nun beginnt 
die grofie Logomachia, der Redekampf. Arkesilaus geht gegen 
Zeno den Stoiker los. Immer mehr Philosophen werden in die 
Schlacht hineingezogen. Heftig wogt der Kampf hin und wieder. 
Da bringt Pyrrho durch eine ernste Rede alle zum Schweigen 
und stellt die zur Gluckseligkeit notige Ruhe wieder her; denn 
gegen Pyrrho kommt keiner der Sterblichen auf. Die Windstille, 
die yaXrjyrf, ist eingetreten. Mit einer Lobrede Timons auf Pyrrho 
scheint das erste Buch geschlossen zu haben. Im zweiten und 
dritten Buch wird der Eleate Xenophanes iiber die verschiedenen 
dogmatischen Philosophen interpelliert und ergieflt iiber alle seinen 
beifienden Spott Nur die Eleaten (besonders Xenophanes), Demo- 
krit und Protagoras werden in diesem Werke aufier Pyrrho mit 
Ehren erwahnt. Es sind, wie wir gesehen haben, die drei grofiten 
Vorlaufer der Skepsis. 

Aus diesen Fragmenten lafit sich schlechterdings nicht schliefien, 
ob Timon den Skeptizismus Pyrrhos aus- oder weiter gebildet habe, 
da sie nur eine zersetzende Kritik des alten Dogmatismus enthalten. 
Im ganzen genommen war seine Rolle die des Verbreiters der 
pyrrhonischen Lehre. 119 ) Der einem unbekannten Werk zugehdrige 
Vers (SwrjXSEv artayag re xal vovjjirjrios (zwei diebische Vogel 
kamen zusammen) , mit dem Timon diejenigen zu verspotten 
liebte, welche die sinnliche Erkenntnis durch die Vemunftaussagen 
berichtigen wollten, 120 ) zeigt an, daft auch er, wie sein Meister, 
als vollendeter Skeptiker Sinnen und Vemunft gleichm&fiig alle 
Wahrheitserkenntnis abgesprochen habe. Auch er bediente sich 
der Formel „um nichts mehr 4 *, 1 * 1 ) um unsere vollige Unkenntnis 
von den BeschafTenheiten der Dinge anzuzeigen; auch er trennt 
zwischen Erscheinung und Ding an sich 122 ) und macht die Er- 
scheinung zum Kriterium des Urteilens und des Handelns; 128 ) auch 
er verkiindet die Epochs und das ethische Lebensideal der Ata- 


Erstes Kapitel. Geschichte und Verlauf der griechischen Skepsis. 


29 


raxie, der Ruhe und der Windstille des Herzens. 124 ) Schliefilich 
ist aus den Titeln seiner Werke und einigen Andeutungen bei 
Sextus zu entnehmen, daft Timon zuerst vereinzelte Ansatze ge- 
macht habe, den pyrrhonischen Skeptizismus logisch zu begriinden. 126 ) 
Immerhin stand auch ihm noch die praktische Folge, 126 ) die Gleich- 
giiltigkeit obenan. Aber wie Timon schon im Leben dieselbe nicht 
mehr rein zu befolgen vermochte, so werden wir nun die jungeren 
Pyrrhoniker das Schwergewicht auf den logischen Teil und die 
theoretische Begrundung des Skeptizismus verlegen sehen. 

Ob Timon noch eine eigentliche skeptische Schule hinter- 
lassen hat, ist ungewifi. Die Berichte gehen auf diesem Punkte 
auseinander. m ) Nach einigen ware dieselbe, die <Sxe7crixrj ayooyq 
wie sie sich nannte, gleich nach Timons Tode erloschen, nach 
anderen hatte sie noch durch zwei Generationen hindurch weiter 
bestanden. l28 ) Jedenfalls hat sie in dieser Zeit keinen bedeutenden 
Vertreter mehr gehabt. Darin aber stimmen die meisten neueren 
Forschungen iiberein, dafl die pyrrhonischen Lehren viel spater 
erst wieder von Ptolemaus und dessen Schiilem Sarpedon und 
Heraklides 129 ) (Manner, von denen wir gar nichts Naheres wissen), 
vor allem aber von des Heraklides Schuler Aenesidem emeuert 
worden seien. 18 °) Es tritt also hier in der Geschichte des Pyrrho- 
nismus eine Pause ein; ihre Lange lafit sich nicht genau bestimmen, 181 } 
denn die Lebenszeit des Aenesidem hat sich trotz aller Bemuhungen 
der Philologen noch nicht sicher berechnen lassen. Soviel aber 
ist gewifl: die Unterbrechung dieser skeptischen Schule (lafit man 
selbst die Schuler Timons soweit hinab und das Leben Aenesidems 
soweit hinauf als moglich reichen) hat mindestens hundert Jahre 
gedauert. In diese Pause schiebt sich nun die zweite skeptische 
Stromung, die akademische Skepsis, zum grofieren Teile ein. 
Dieselbe mundet ihrerseits in einen Synkretismus und Eklektizismus 
aus, der die Gegens£tze und Widerspriiche zwischen den philo- 
sophischen Meinungen dadurch abzuschwachen suchte, dafi er, von 
alien etwas aufnehmend, ein bifichen Wahrheit hier, ein bifichen 
dort auflas. Dieses eklektische Hin- und Herschwanken zwischen 
den einzelnen Systemen hat Zeller einmal treffend „als nichts 
anderes wie die Unruhe des skeptischen Denkens, nur gedampft 
durch den Glauben an das ursprungliche Wahrheitsbewufitsein“ 
bezeichnet. So wird es uns nicht wunder nehmen, wenn wir den 
radikalen Pyrrhonismus mit emeuter Macht aus diesem schwach- 
lichen Eklektizismus werden hervorbrechen sehen. 



3° 


Enter Abschnitt Die griechiscbe Skepsi*. 


Der bedeutendste Emeuerer der pyrrhoneischen Zweifelslehre 
und vielleicht der gewaltigste theoretische Vertreter des griechischen 
Skeptizismus uberhaupt ist Aenesidem. 182 ) Mit ihm geht es uns 
umgekehrt wie mit Pyrrho und Timon: von seinem Leben und 
von seiner Pers 5 nlichkeit wissen wir so gut wie gar nichts, uber 
seine Lehre sind wir leidlich unterrichtet. Vielleicht ist das kein 
ZufaU; bei Pyrrho und Timon lag das Schwergewicht und das, 
wodurch sie ihren Namen in das Gedachtnis eingruben, in der 
praktischen Skepsis, der skeptischen Lebensweise; bei Aenesidem 
in der theoretischen Begrundung der skeptischen Lehren. Zur 
Festsetzung der Lebenszeit des Aenesidem steht ein Spielraum 
von 250 Jahren zur Verfiigung — ob er im ersten Jhd. vor Chr. 
oder nach Chr. gelebt hat, oder gar im zweiten Jhd. nach Chr., 
scheint nach dem vorliegenden Material mit voller Sicherheit nicht 
zu entscheiden. 138 ) Am meisten hat es noch fur sich, ihn zum 
Zeitgenossen Ciceros zu machen. Man stiitzt sich dabei auf eine 
Angabe, nach der Aenesidem eins seiner Werke dem Akademiker 
Tubero gewidmet hat Dieser Tubero ist wahrscheinlich mit dem 
gleichnamigen Staatsmann und Freunde Ciceros identisch. Sonst 
wissen wir von Aenesidems Lebensverhaltnissen nur, dafi er aus 
Knossus auf Kreta gebiirtig war 184 ) und in Alexandria gelehrt 
hat. 136 ) Seine Hauptschrift waren die acht Bucher „Pyrrhonische 
Reden “ ( Ilvppooyeicoy Xoyoav oxtco piftXia) , deren Inhaltsangabe 
uns durch Photius, einen Patriarchen aus dem neunten Jhd. 
nach Chr. aufbewahrt ist. Aufierdem hat Aenesidem noch Werke 
uber die Weisheit (jtepl 6o<plag)> 13 *) iiber die Forschung ( 7 rep\ 
c&s), 137 ) so wie „Pyrrhonische Skizzen" (v7torv7tco6ig eig ta 
nvppoiveia) 138 ) verfafit, von denen aber nichts erhalten ist. 

Ober den Inhalt der einzelnen Bucher der ersten Schrift 
meldet Photius: 189 ) Im ersten Buche habe Aenesidem den Unter- 
schied zwischen der akademischen und pyrrhoneischen Skepsis aus- 
gefiihrt und eine ubersichtliche Darstellung der letzteren gegeben; 
im zweiten Buche kehrte er die Widerspriiche in den BegrifTen 
der Prinzipien 140 ) der Bewegung, der VerSnderung, des Entstehens 
und Vergehens heraus (wir denken an die Eleaten); im dritten 
Buche wurde iiber Denken und sinnliche Wahmehmung, im vierten 
iiber die Unmoglichkeit einer Erkenntnis Gottes, der Welt, der 
Natur und dessen, was die Skeptiker „Zeichen u nannten, ge- 
handelt; im fiinften iiber die Widerspruche im Begriff der Ur- 
sache, im sechsten bis achten iiber die ethische Skepsis. Aus 



Erstes Kapitel. Vorgeschichte und Verlauf der griecbischen Skepsis. 3 1 

alledem ist uns die Glanzleistung Aenesidems , die subtile Ana- 
lyse des Kausalitatsprinzipes, durch die er der Vorlaufer 
Humes und Kants geworden ist, durch Sextus fast in alien Ein- 
zelheiten uberliefert. Auch eine scharfsinnige, naturlich veraich- 
tende Kritik des WahrheitsbegrifTs und des noch spSter zu er- 
ortemden Begriffs des „ Zeichens 11 gehen mit Sicherheit auf Aene- 
sidem zuruck. Endlich ist er aller Wahrscheinlichkeit nach der 
Autor der zehnTropen, welche die Quintessenz der griecbischen 
Skepsis, namlich die Zweifel in die sinnliche Erkenntnis, gedrangt 
zum Ausdruck bringen , u *) wenn auch Aenesidem hierbei nicht so 
sehr die Arbeit der Erfindung wie der Formulierung geleistet 
haben wird. 148 ) Im ubrigen nahm dieser Denker auf alien wesent- 
lichen Punkten die Grundposition ein, die schon Pyrrho und Timon 
vorgezeichnet hatten. 144 ) 

Aber noch ein grofies, vielleicht unlosbares Ratsel bleibt in 
dem Gesamtbilde des Aenesidem zuruck: 148 ) er soli nach zu- 
verlassigen Berichten den Skeptizismus nur als Mittel, um zur 
herakliteischen Philosophic zu gelangen, hingestellt haben; und 
ganz dogmatische, mit dem Skeptizismus unvertragliche Speku- 
lationen im Sinne Heraklits iiber den Urstoff der Welt, die Teil- 
barkeit der Zeit, die Natur der Seele sind von Aenesidem iiber- 
liefert. Die Gelehrten haben sich nun die Zahne an dieser Nufi 
ausgebissen, ohne zu einer einstimmigen Erklarung zu gelangen. 
Einige meinen, dafi Aenesidem in den dogmatischen Partien nur 
iiber Heraklits Lehre berichte, ohne ihr deshalb anzuhangen; 
andere, dafi er in seinem philosophischen Entwicklungsgang vom 
Herakliteismus zum Skeptizismus, noch andere, dafi er von diesem 
zu jenem gelangt sei. Am meisten leuchtet noch die Deutung 
ein, die wenigstens mit der Oberlieferung zusammenstimmt, 
Aenesidem habe, zwar prinzipiell seinem Skeptizismus treu, auf 
jede dogmatische Welterklarung verzichtet, unter alien solchen 
aber die des Heraklit, auf einigen Punkten wenigstens, fur die 
relativ-wahrscheinlichste metaphysische Hypothese gehalten. 
Man erinnert sich ja noch der V erwandtschaft Heraklits mit 
der Skepsis, seiner These von der Identitat der Gegens£tze, 
und dafi auch Protagoras, der Vorlaufer des philosophischen 
Skeptizismus, ein Anhanger der Lehre vom Flufi aller Dinge ge- 
wesen war. 146 ) 

Von den Schillern Aenesidems, die die skeptische Theorie 
im Sinne ihres Meisters weiterbildeten, sind uns mit einigen 



32 


Erster Abschnitt Die griechische Skepsis. 


Ausnahmen auch nicht viel mehr als die Namen bekannt: 
Zeuxippus, Zeuxis, Antiochus, Menodotus, Theodas, Herodotus, 
Sextus, Satuminus werden als Schulvorstandc genannt. 147 ) Feraer 
ragt Agrippa hervor, von dem wir wissen, daft er zu den zehn 
Tropen Aenesidems noch funf weitere Tropen hinzufugte. ,48 ) 
Diese bringen — wir werden das spater sehen — in noch knapperer 
und schlagenderer Form die Summe der skeptischen Argumente 
zum Ausdruck. Aber ein neues Moment kommt bei dieser jungeren 
Generation zum Vorschein, das dem griechischen Skeptizismus 
von nun an die Farbung gibt; sie sind fast durchweg Arzte, An- 
hanger der empirischen Medizinerschulen jener Zeit. 14& ) Prinzip 
dieser empirischen Arzte ist, nicht die unauffindbaren Ursachen, 
sondera die erscheinenden Symptome der Krankheiten zu be- 
handeln. Die Verwandtschaft mit dem Skeptizismus springt in 
die Augen: schon Pyrrho liefi nur die <paiv 6 ^itva gelten und hielt 
den Grund dieser Erscheinungen , das Ansich der Dinge, fur un- 
erkennbar. So findet in den ersten Jahrhunderten der christlichen 
Zeitrechnung eine bewufite Verschmelzung von Empirismus und 
Skeptizismus statt; die Medizin wurde dadurch skeptischer, der 
Skeptizismus empirischer gestaltet. An Beobachtung und Erfah- 
rung hielten sich diese Arzte unter den Skeptikem und Skeptiker 
unter den Arzten. Dieser skeptische Empirismus ist ein Vorspiel 
zu dem, was wir heute Positivismus nennen, und seine Prin- 
zipien sind von hoher philosophischer Bedeutung. Aber eine 
Wissenschaft glaubten diese Skeptiker nicht zu betreiben; die 
Wissenschaft hat es nach ihnen mit der Natur der Dinge, ihren 
notwendigen, gesetzmafiigen Verbindungen zu tun. Diese aber 
gelten ihnen als unerkennbar. Der heutige Positivismus ist fur 
die Wissenschaft bescheidener und fur sich anspruchsvoller ge- 
worden; er erklart einzig die methodische Beobachtung der in der 
Erfahrung gegebenen Erscheinungen und des Zusammenhangs der- 
selben fur Wissenschaft; von dem Ansich der Dinge und absoluter 
Notwendigkeit ihrer Verbindungen vermeint er ebensowenig zu 
wissen wie der antike Skeptiker. 160 ) 

Unter den Vertretem dieser Richtung gewinnt einzig Sextus 
Empiricus, dank dem iiberlieferten Material, fiir uns etwas 
lebendigere Gestalt. Dafi er um 200 nach Chr. gelebt hat, kann 
man mit annahemder Bestimmtheit aussagen; 151 ) wo er geboren, 
ist unbekannt; doch wissen wir aus seinen eigenen Angaben, dafi 
er Grieche war; 151 ) Athen hat er sicher, Alexandria und Rom ver- 


Erstes Kapitel. Vorgeschkhte und Verlauf der griechischen Skepsis. 33 


mutlich gesehen. 158 ) Er war Arzt 164 ) und Vorstand der skeptischen 
Schule. 165 ) Ob er aber „empirischer“ oder „methodischer“ Arzt 
gewesen (die Methodiker hatten sehr ahnliche Prinzipien wie die 
Empiriker) , lafit sich nicht mehr feststellen. 166 ) Den Beinamen 
Empiricus kann man dreifach erklaren : entweder Sextus hat der 
empirischen Arzteschule angehort, oder er ist nach seiner verloren 
gegangenen Schrift i/irteipixa wroprr/para (empirische Streifzuge) 
so genannt, oder die Namengebung beruht auf einer Verwechslung 
seines philosophischen mit dem medizinischen Standpunkt (indem 
man von seinem philosophischen Empirismus auf seine Zugehdrig- 
keit zum medizinischen schlofi). 

Von seinen Schriften sind uns erhalten: i. IIvppQ&veiot 

vnorimootieig („Pyrrhonische Grundzuge", welche in drei Buchem 
und knapper Form die Summe des griechischen Skeptizismus ent- 
halten). 2. Tlpog rovg Soypartxovg („Gegen die dogmatischen 
Philosophen 11 , fiinf Bucher, welche die skeptische Polemik gegen 
die Vertreter der philosophischen Disziplinen nach antiker Ein- 
teilung bringen, zwei gegen die Logiker, zwei gegen die Physiker 
und eins gegen die Ethiker). 3. Ilpog rovg paSnyjuxtixovg (,, Gegen 
die Mathematiker", sechs Bucher, die sich die Zersetzung der 
ubrigen Wissenschaften, welche manunter demNamen iyxvxkiapa- 
Srfpara begriff, namlich der Grammatik, Rhetorik, Geometrie, 
Arithmetik, Astronomie und Musik, zur Aufgabe machten). 2. und 
3. werden heutzutage gewdhnlich unter dem gemeinsamen Titel 
der „Elf Bucher gegen die Mathematiker“ befafit 167 ) Des Sextus 
Schriften 168 ) sind eine planmafiige und wohlgeordnete Zusammen- 
stellung alles dessen, was der Skeptizismus von Pyrrho ab ge- 
leistet Sie sind deshalb von unschatzbarem Wert fur unsre Kenntnis 
dieser Bewegung. Zwar ist Sextus weitschweifig und gibt, wie er 
selbst eingesteht, das Beste und Meiste aus andem und wenig 
aus sich selbst. 169 ) Aber augenscheinlich hat er die Originalquellen 
ernst studiert und klar verstanden. Vermutlich haben ihm Timons 
Schriften, vor allem aber Aenesidems und Menodots Werke fur 
seine Darstellung vorgelegen. 160 ) Zu bedauern aber bleibt, daft 
Sextus bis auf wenige Ausnahmen nicht angibt, welchen Anteil 
die einzelnen Denker, welchen er selbst, welchen endlich die Schul- 
tradition an den verschiedenen skeptischen Thesen und Argumenten 
gehabt haben. Sextus ist der letzte bedeutende Vertreter des 
radikalen Skeptizismus in Griechenland. Nach ihm wird nur noch 
ein Satuminus als Schulvorstand erwahnt. 161 ) 

Richter, Skeptizismus. 


3 


34 


Enter Abechnitt. Die griechische Skepsis. 


Damit ist der summarische Oberblick, der dem Gesamt- 
verlauf der pyrrhonischen Skepsis gait, an sein Ende gelangt. Er 
hat gezeigt, wie der rigorose, weltfluchtige, moralische Skeptizismus 
des Pyrrho schliefilich in einen positivistischen Empirismus ein- 
gemundet war. Wir werden spater sehen, wie nach anderthalb 
Jahrtausenden in England umgekehrt der Skeptizismus David 
Humes am Ende und als Frucht einer langen empiristischen Epoche 
zur Reife kommt. 


2. Die akademische Skepsis. 

Ehe wir uns den Lehren des philosophischen Skeptizismus, 
wie derselbe in Griechenland ausgebildet wurde, zuwenden, mussen 
wir noch einen Blick werfen auf den Verlauf der sog. aka- 
demischen Skepsis, d. h. auf die Vertreter jener Form der 
Zweifelslehre, welche innerhalb der von Plato begrundeten ge- 
lehrten Genossenschaft, der beruhmten „ Akademie", verkundet 
wurde. Plato hatte diese Akademie natiirlich zur Verbreitung 
seines eigenen grofien dogmatischen Systems des Spiritualismus 
bestimmt; aber die Forderungen der Zeit wirkten starker als die 
Traditionen des genialen Stifters. Schon unter den auf Plato un- 
mittelbar folgenden Schulhauptem beginnt eine zunehmende Ent- 
femung von den platonischen Lehren. Das Schweigewicht wird, 
dem Drange der Niedergangsbewegung entsprechend, nicht auf 
die Metaphysik oder die Erkenntnislehre, sondem auf die Ethik 
gelegt. Aus ethischen Motiven aber hatten wir auch den Skepti- 
zismus Pyrrhos erwachsen sehen. Ein weiteres Ferment, geeignet 
den Skeptizismus zu begiinstigen, war der in der akademischen 
Denkweise stets heimisch gebliebene Geist der sokratischen Dia- 
lektik. 162 ) Dieser Geist der scharfen Begriffsanalyse treibt von 
sich aus, wenn ihm nicht andere Motive im Denken die Wage 
halten, zum Zerstdren, Zerfressen, Bezweifeln. Solche Motive, die 
bei einem Sokrates und Plato die Dialektik nur als Instrument 
zu virtuoser Handhabung in ihren Dienst zwangen, waren er- 
loschen. Man spielte das Instrument wieder um seiner selbst 
willen, und wenn andre Motive vorhanden waren, so hemmten 
sie nicht, sondem forderten die skepdschen Neigungen. Und so 
tritt denn der Skeptizismus nun auch innerhalb der platonischen 
Akademie auf, etwa hundert Jahre nach dem Tode ihres Begrunders. 
Weil diese Richtung dem urdogmatischen Platonismus aber geradezu 



Erstes Ktpitel. Vorgcschichtc und VerUuf der griechischen Skepsis. 35 


entgegengesetzt ist, pflegt man mit Recht von dem Augenblicke 
an, wo der Skeptizismus die herrschende Lehre der Akademie 
wird, von einer zweiten oder mittleren Akademie zu sprechen. 
Der Begrunder dieser skeptischen Richtung in der Akademie und 
damit der erste Vertreter der zweiten Akademie 168 ) ist der Skep- 
tiker Arkesilaus. 

Arkesilaus wurde zu Pitane in Aeolien geboren. 164 ) Aus der 
Angabe bei Diogenes, dafi er 75 Jahr alt geworden, 166 ) und dafi 
Lakydes ihm 240 vor Chr. als Scholarch folgte, 166 ) laflt sich ent- 
nehmen, dafi er 315 — 240 vor Chr. gelebt haben mufi. Er war also 
ein jiingerer Zeitgenosse des Timon. Nachdem er schon in seiner 
Heimat besonders in der Mathematik gelehrte Bildung genossen, 167 ) 
kam er nach Athen und wurde ein Schuler, erst des Musikers 
Xanthus, 168 ) dann des Peripatetikers Theophrast 169 ) Die Peripa- 
tetiker waren die Verbreiter der Aristotelischen Philosophie und 
* neben den Akademikem die angesehenste Philosophenschule. 
Durch Krantor, den damaligen Scholarchen der Akademie, wird 
er fur diese gewonnen 170 ) — zur grofien Betriibnis Theophrasts, 
der ungem ein solches Talent aus seiner Schule scheiden sah. 171 ) 
Krantor ist mit Arkesilaus aufs engste befreundet gewesen 172 ) — 
er hat dem Arkesilaus sein ganzes Vermogen vermacht. Nach 
Krantors Tode horte Arkesilaus noch dessen Nachfolger Polemon und 
Krates. Dafi er auch Pyrrho gekannt und von ihm gelemt hat, ist 
uns leider nicht als sichere Tatsache, sondem nur als Geriicht 
fiberliefert. 178 ) Als Krates gestorben war, wurde von dem zum 
Scholarchen gewahlten Sokratides die Leitung der Schule dem Genie 
des Arkesilaus freiwillig abgetreten. 174 ) Dieser fiihrte die platonische 
Lehrmethode der gemeinsamen Diskussion wieder ein. 176 ) Er 
war als Lehrer ungeheuer beliebt und hatte trotz seiner scharfen 
Art einen grofien Zulauf von Schiilem. 176 ) 

Der Skeptikertypus, den Arkesilaus verkorpert, ist nicht der 
des verzichtend ergebenen, mit sich und der Welt fertigen Pyrrho; 
nicht der des beifienden Satirikers Timon — es ist der des liebens- 
wiirdigen, geselligen und scharfsinnigen Mannes. 177 ) Von den 
dffentlichen Angelegenheiten hielt er sich fem. 178 ) Er lebte als 
reicher Mann in Athen, vielleicht etwas luxurios, vielleicht etwas 
zu sehr der Venus und dem Bacchus ergeben (es ist schwer, aus 
den widersprechenden Berichten, die alle nicht aus erster Quelle 
schopfen, herauszulesen, was auf Verleumdung, was aufWahrheit 
beruht). 179 ) Sehr unterrichtet und gebildet, ist er derKunst innig 

3 * 



36 


Enter Abtchnitt. Die griechiscbe Skepsis. 


zugetan ; seine Lieblingsdichter sind Homer und Pindar. 180 ) Er 
selbst versucht sich gelegentlich in der Poesie. m ) Sein glanzender 
Witz versagte nie; spielend kamen seinem Geiste die Einfalle 18 *j, 
und eine hinreifiende Redegabe, der selbst ein Cicero seine Be- 
wunderung zollte, 188 ) stand ihm zu Gebote. Dazu die aufieren 
Vorzuge: der gutige Blick, die schdne Gestalt, der Zauber der 
Stimme. 184 ) So ist er das, was der Franzose einen charmcur zu 
nennen pflegt. War Pyrrho halb Melancholiker, halb Phlegmatiker, 
Timon Choleriker — Arkesilaus ist Sanguiniker; und wie es diesem 
Temperament eigentiimlich, so war auch Arkesilaus trotz Leichtsinn 
und Eitelkeit ein durchaus gutiger und nobler Charakter. Die Art 
seiner Wohltatigkeit, von der wir wissen, sein ritterliches Verhalten 
zu den philosophischen Gegnem bezeugen uns das. Bedurftigen 
Kranken, die er besucht, steckt er heimlich Geldbeutel unter die 
Kissen; 185 ) von dem Stoiker Kleanthes, einem der bedeutendsten Ver- 
treter dieser Schule, wurde Arkesilaus, obwohl er mit derStoa in 
heftigster Fehde lag, bewundert und geachtet. Als dem Kleanthes 
einmal jemand sagte, Arkesilaus tue nicht seine Pflicht, antwortete 
der Stoiker: wenn er sie auch mit Worten aufhebt, bewahrt er 
sie doch durch die Taten. Worauf Arkesilaus: Schmeicheleien 
dulde ich nicht; Kleanthes: Schmeichle ich dir etwa, wenn ich 
sage, dafi du anders handelst, als du redest? 188 ) — Ein Verhalten, 
ebenbiirtig dieser stoischen Replik, zeigte Arkesilaus einem Schuler 
gegenuber, der den Kleanthes schmahte und den er aus seiner 
Schule verbannte, bis er jenem Genugtuung geleistet hatte. 187 ) 
Schriften hat dieser Skeptiker nicht verfafit 188 ) 

Fragen wir nach dem Anteil, der dem Arkesilaus an der 
Ausbildung der Zweifelstheorie zukommt, so ist nicht zu verkennen, 
dafi seine Leistung hier hauptsachlich eine negative, zersetzende, 
eine polemische und zerstorende gewesen ist. 189 ) Es ist vor allem 
die Widerlegung des inzwischen erbluhten stoischen Dogmatismus, 
welche im Mittelpunkt seiner Lehre gestanden hat. 190 ) Zeno, der 
Begrunder der Stoa, dann seine Nachfolger Kleanthes und Chry- 
sippus, hatten eine ganz dogmatische Erkenntnislehre , Physik, 
Religionsphilosophie und Ethik ausgebildet. Das Kriterium der 
Wahrheit war ihnen die <pavxa6la xaxa\rf7cxixiy, die Vorstellung, 
welche sich den Beifall des Subjekts erzwingt. Einziges Gut ist 
die Tugend, und tugendhaft leben heifit: im Einklang mit der 
Weltvernunft, das heifit weise leben. Arkesilaus scheint nun vor 
allem die Richtigkeit des stoischen Wahrheitskriteriums an- 



Erstes Kapitel. Vorgcschichte and VerUnf der griechischen Skepsis. 37 


gegriffen, 191 ) damit aber jede Moglichkeit der Erkenntnis seiner 
Meinung nach vernichtet zu haben. 192 ) Wir konnen nichts wissen, 
nicht einmal, dafi wir nichts wissen; 198 ) denn von keiner Vor- 
stellung konnen wir, entgegen der Behauptung der Stoiker, mit 
Sicherheit erkennen, ob sie wahr oder falsch ist. 194 ) Da bleibt nur 
iibrig, uns jeder Zustimmung und jedes Urteils zu enthalten. 195 ) 
Soweit stimmt also Arkesilaus, bis auf die Polemik gegen die 
Stoa, mit Pyrrho und Timon iiberein. Aber die eigentiimliche 
Note der akademischen Skepsis gegenilber der pyrrhonischen zeigt 
sich bei Arkesilaus schon auf ethischem Gebiete. Dem Einwurfe 
der Stoiker namlich, der Skeptiker konne, wenn er von nichts 
uberzeugt sei, auch nicht handeln, sondem sei zu volliger Taten- 
losigkeit verdammt, hielt Arkesilaus bereits entgegen: zum Handeln 
bediirfe es gar nicht der Oberzeugung von der Wahrheit einer Vor- 
stellung, sondem die verniinftige Wahrscheinlichkeit geniige 
hier schon. Diese Wahrscheinlichkeit (das evXoyov) sei daher die 
hochste Norm fur das praktische Leben, und sie geniige zur Gliick- 
seligkeit. 196 ) Wir werden sehen, wie diese beiden, die arkesilaische 
von der pyrrhonischen Skepsis unterscheidenden Ziige , die 
Polemik gegen die Stoa und der Begriff der Wahrscheinlichkeit, 
der gesamten akademischen Skepsis im weiteren Verlauf den 
Stempel aufdriicken. 

Noch darf nicht unerwahnt gelassen werden, dafi iiber des 
Arkesilaus Lehre auf einem ahnlichen Punkt ein Dunkel schwebt, 
wie bei Aenesidem. Wie dieser namlich den Skeptizismus nur als 
Vorbereitung zum Heraklitismus, so soil Arkesilaus die Skepsis nur 
als Vorhalle oder Vorstufe zu einem esoterischen Platonismus 
angesehen und gepflegt haben. 197 ) In diesem Sinne wurde von 
einigen der auf Arkesilaus gemiinzte, allerdings vieldeutige Vers 
des Aristo aufgefafit: „Plato von vom, doch Pyrrho am End*, 
Diodor in der Mitte 11 (Diodor war ein beruhmter Dialektiker. 198 )) 
Wenn auch diese Anschauung an sich wenig Wahrscheinlichkeit 
hat, so ist sie doch psychologisch durchaus leicht erkl&rlich : 
Arkesilaus hielt Plato hoch in Ehren; in seiner Lehrmethode, der 
freien Diskussion, gemahnte er in mehr als einem Zuge an den 
Stifter der Akademie, und iiberdies schien seine Ethik geheime 
positive Bestimmungen zu enthalten, welche auf den ersten Blick 
mit dem theoretischen Skeptizismus nicht vertraglich waren. 

Von den Schiilem und Nachfolgem des Arkesilaus wissen 
wir nur, dafi sie in seinem Geiste weiter forschten. Die Leitung der 



38 Enter Absdinitt Die griedusche Skepsis. 

Akademie ubemahm nach seinem Tode Lakydes. Dieser legte 
in leider verloren gegangenen Schriften (<ptko 6 o<pa und Tcepl <pt> 6 eoo^) 
die Ansichten der akademischen Skepsis nieder. 199 ) Als Schul- 
vorstande losten den Lakydes Telekles und Euander ab. Auf 
diese folgte Hegesinus. Erst in dessen Nachfolger Karneades 
aber gelangte die akademische Skepsis auf ihren Hohepunkt 

Karneades wurde als Sohn des Epikomus oder Philokomus 
in Cyrene geboren 200 ) — am gleichen Monatstage wie Plato, was 
seine Verehrer hevorhoben. 201 ) Seine Lebenszeit lSGt sich auf die 
Jahre 214 — 129 vorChr. mit annahemder Bestimmtheit festsetzen. 902 ) 
Er ist also etwa hundert Jahre jiinger als Arkesilaus; Unterricht hat 
er bei dem Scholarchen der Akademie, Hegesinus, und dem Stoiker 
Diogenes von Babylon genossen ; 208 ) seine eigentlichen Lehrer aber 
waren, wie er selbst gestand, die Werke des Stoikers Chrysippus. 
„Ware nicht Chrysippus, so ware auch ich nicht", pflegte er zu 
sagen. 204 ) Sp&ter wurde er Schulvorstand der Akademie, und 
unter ihm erhob sich die Schule zu solcher Blute, dafi einige von 
Karneades an eine besondere, eine dritte Akademie gerechnet 
haben. 205 ) Aus seinem Leben wissen wir nur noch, dafi er an 
der Philosophengesellschaft teilnahm, welche von Athen nach 
Rom geschickt wurde, um den Erlafi einer auferlegten Geld- 
strafe zu bewirken. Karneades sprach dabei von seinem skep- 
tischen Standpunkt aus den einen Tag flir, den andem gegen die 
Gerechtigkeit, und rifi durch den Schwung seiner Rede alle Zu- 
horer mit sich fort. 206 ) Auch sonst wurde er in hohem Mafie 
von seinen Zeitgenossen verehrt. Die Mondfinstemis, welche 
bei seinem Tode eintrat, gait als Trauer des Gestims fiber das 
Hinscheiden eines so grofien Mannes. 207 ) — Schriften hat auch 
Karneades nicht verfafit; 208 ) er ist der dritte unter den grofien 
Skeptikem, welcher, der Konsequenz des theoretischen Stand- 
punktes treu, nichts geschrieben hat. Vor ihm taten Pyrrho und 
Arkesilaus das gleiche. Aber wie Pyrrho seinen Timon, Ar- 
kesilaus seinen Lakydes, so hat auch Karneades einen begeisterten 
Schuler gefunden, der die schriftliche Verbreitung der Lehren 
seines Meisters ubemahm. 

Von der Personlichkeit des Karneades wissen wir nur, dafi 
sie weniger gesellig, aufierlich, liebenswfirdig als Arkesilaus, mehr 
der strengen und herben Art eines Pyrrho zuzuzahlen ist. Er 
lebte ganz versunken in seine Studien; alle Einladungen lehnte er 
ab. Haare und Nagel soil er sich aus Mangel an Mufie nicht 


Erstes Ktpitel. Vorgeschichtc und VerUuf der gricchischen Skepsis. 39 


beschnitten haben.* 09 ) Seine Reden, weniger grazios und elegant 
als die des Arkesilaus, erzielten durch die Gewalt der Stimme, 
von der alle zu berichten wissen, und durch die Wucht seiner 
Dialektik eine machtige , fast damonische Wirkung. 21 °) Dem Tode 
stand er nicht trotzig, wie die Stoa, sondem echt skeptisch re- 
signiert und ergeben gegeniiber. Als dem Erblindeten von stoischer 
Seite der Vorwurf gemacht wurde, dafi er nicht den Mut zum 
Selbstmord finden konne , erwiderte er aus seiner ruhigen und 
gelassenen Stimmung heraus: Was die Natur zusammengefiigt, 
das wird sie auch wieder auflosen (ff 6v6tr\6a6a <pv6ig juA 
SiaXv6Bi ). M1 ) 

Des Karneades Anteil an der Ausbildung des Skeptizismus 
lafit sich nach drei Seiten hin abgrenzen. Durch Cicero und 
Sextus sind wir leidlich liber denselben unterrichtet. ,lf ) Einmal 
fiihrte Karneades den von Arkesilaus gegen die Stoa (Zeno) be- 
gonnenen Kampf (gegen Chrysippus) siegreich zu Ende (auf alien 
Gebieten durch die Oberlegenheit seiner Griinde den Feind zuriick- 
schlagend). Indem er die Unmoglichkeit eines Kriteriums der 
Wahrheit, immer voll Spitzen gegen die Stoa, mit neuen und 
originellen Griinden dartat, bereicherte er die Grundthese des 
griechischen Skeptizismus von der Unsicherheit alles Wissens um 
einen wertvollen Beitrag. Insonderheit wies er auf die Unmoglich- 
keit hin, innerhalb der sinnlichen Wahrnehmung ein genaues 
Erkennungszeichen fur wahre Vorstellungen zu geben; denn die 
Vorstellungen der Traume, der Visionen, der Verriickten, aber 
auch die Wahrnehmungen der Gesunden, welche den eckigen 
Turm aus der Feme rund, das Ruder im Wasser gebrochen er- 
blicken, beweisen, dafi wahre und falsche Vorstellungen an innerer 
Oberzeugungskraft einander gleich kommen. 218 ) Die Vernunft- 
und Verstandesoperationen aber sind unfahig, hier korrigierend 
einzugreifen; denn sie bewegen sich auf so unsicherer Grundlage, 
dafi sie sich bei den bekannten Fangschliissen in unauflosbare 
Widerspruche verwickeln. Besonders waren es der beriihmte 
„Kornhaufe“ und der „Lugner“, auf welche sich Karneades in 
seiner Polemik gegen das vemunftige Erkennen zu stiitzen pflegte. 814 ) 
Karneades aber war es auch, der zweitens eingehend und scharf- 
sinnig, wiederum in polemischer Absicht gegen die Stoa, den 
Gdtterglauben, die Religion in jeder Form kritisch zersetzte und 
ihre Voraussetzungen von Grund aus aufrieb.* 15 ) Der gesamte reli- 
giose Skeptizismus in der griechischen Philosophic hat seine 



40 


Enter Abschnitt Die griechische Skepsis. 


Rustkammer in der akademischen Skepsis, und zwar genauer in des 
Kameades Kritik des Gotterglaubens. Was nachher daruber zu 
berichten sein wird, hat also hier seine Quelle. Und so gelangte 
auch Karneades zu einer vollstandigen Unentschiedenheit in alien 
wissenschaftlichen Grundfragen. Kameades , so schreibt sein 

Schuler Klitomachus, hat eine wahrhaft herkulische Arbeit ver- 
richtet, indem er die Zustimmung, das heifit das blofie Meinen 
und dreiste Behaupten, gleich einem wilden und unbandigen Her 
aus unserer Seele herauszog. ,16 ) — Neben den destruktiven 
Leistungen dieses Philosophen aber bleibt sein Ruhm — und das 
ist der dritte Punkt — vor allem die Ausbildung der Wahr- 
scheinlichkeitslehre. Wir konnen nichts Sicheres wissen — 
das ist der negative Teil seiner Lehre; — wir konnen aber Wahr- 
scheinliches vermuten, — so lautet die positive Seite. Angeregt 
wurde er zu der Entwicklung dieses Gedankens genau wie Arke- 
silaus durch die Erwagung, dafi auch der Skeptiker zum Handeln 
eines Kriteriums bedurfe, an dem er sich im Leben orientieren 
konne. 217 ). Ob er aber nicht nur auf unsere Vorstellungen, son- 
dern auch auf die ethischen Werte den Wahrscheinlichkeitstand- 
punkt angewandt und ahnlich wie die Stoiker, nur unter dem 
probabilistischen Vorbehalt, das naturgemafie Leben fur der Guter 
hochstes erklart habe, mufi dahingestellt bleiben. 218 ) 

Der bedeutendste Schuler des Kameades war Klitomachus, 
welcher auch in der Leitung der Akademie auf den Meister folgte 
und etwa von 175 — no vor Chr. gelebt haben mufi. In seinen 
zahlreichen Schriften (400 Bucher soli er verfafit haben) trug er 
die Lehre des Kameades, aber unter genauer Beriicksichtigung 
der gegnerischen Standpunkte, vor. 910 ) Von Charmides, dem Mit- 
schuler des Klitomachus, der nach dessen Tode die Leitung der 
Akademie ubemimmt, so wie von den ubrigen Schhlem des Kar- 
neades wissen wir nichts N&heres. Doch scheint bei all diesen 
Mannem schon eine starkere Ausbildung der positiven Seite und 
damit eine grofiere Entfemung vom Skeptizismus, ja eine stille 
Neigung zum Eklektizismus stattgefunden zu haben. 220 ) Sicher 
ist dies von Philo von Larissa bezeugt, der manchen daher 
wegen des veranderten Standpunkts als der Stifter einer vierten 
Akademie gegolten hat. 221 ) Dagegen mundet nun in Antiochus 
von Askalon, dem auf Philo folgenden Scholarchen, die aka- 
demische Richtung in einen emeuerten, aus Platonismus und 
Stoizismus zusammengeschweifiten dogmatischen Eklektizismus ein. 



Erstes Kapitel. Vorgeschichte und Verlauf der griechischen Skepsis. 


41 


Antiochus bricht ofTen mit den skeptischen Traditionen der 
jiingeren oder mittleren Akademie und wird der Stifter einer 
funften. 222 ) So kehrt die Akademie Platos, welche vom Dogma* 
tismus ausgegangen war, nachdem sie die Skepsis durchlaufen, 
wieder in den Dogmatismus zuriick. 

Das Verhaltnis der akademischen Skepsis zum Pyrrho- 
nismus ist kein ganz eindeutiges. Schon im Altertum hat man 
sich, und sogar von skeptischer Seite, iiber dasselbe gestritten. 228 ) 
Nicht minder geschieht das heutzutage. Dies ist erklarlich; denn 
wirklich handelt es sich dabei weniger um grundsatzliche Unter- 
schiede, als um andere Farbung und Schattierung. Von der einen 
Seite hat man behauptet, 224 ) die akademische Skepsis sei nur die 
Fortsetzung der pyrrhonischen und beide batten in der Zeit von 
Arkesilaus bis Philo in Wahrheit eine Schule ausgemacht. Auf 
der andem Seite hat man die Kluft zwischen Pyrrhonismus und 
mittlerer Akademie gar nicht tief genug schildem konnen. Aller 
Ernst und alle Kraft wurde den Pyrrhonikem zugeteilt, und die 
akademischen Skeptiker nur als ruhmsuchtige, sophistische Rhe- 
toren hingestellt. 225 ) Man wird das Verhaltnis weniger einseitig, 
aber richtiger erfassen, wenn man behauptet: die Originality der 
skeptischen Weltanschauung ist zunachst auf seiten des Pyrrho- 
nismus. Pyrrho hat zuerst in der Menschheitsgeschichte die Grund- 
thesen des radikalen Skeptizismus gelehrt und vorbildlich nach 
ihnen gelebt. Es ist sehr wahrscheinlich, dafi Arkesilaus von 
Pyrrho und Timon beeinflufit worden ist. 226 ) Der systematische 
Hauptunterschied aber ist der, dafi die Schule Pyrrhos die ex- 
tremere und konsequentere, die Akademie durch Einfuhrung des 
Wahrscheinlichkeitsbegriffs die gemafiigtere und verwertbarereForm 
des Skeptizismus vertritt. Endlich hat der Pyrrhonismus, wenn 
er sich wirklich, wie einige wollen, von Demokrit hauptsachlich 
herleitet, den naturwissenschaftlichen Ursprung auch in seinem 
Verlauf nicht verleugnet; er hat sich immer mehr der Empirie, 
der Beobachtung und den Tatsachen (man denke an die skep- 
tischen Arzte) zugewandt. Die QueUe der akademischen Skepsis, 
die sokratisch - platonische Dialektik wiederum, gibt den Zweifeln 
eines Arkesilaus und Kameades die Richtung auf eine mehr ge- 
dankliche, auch in der Form schone, oft das literarische streifende 
Ausarbeitung ihrer Argumente ein. 227 ) 


42 


Enter Abschoitt Die griechiiche Skepsis. 


Zweites Kapitel. 

Die Darstellnng des griechischen Skeptramraa. 

L Das allgemeine Frinxip der laosthenie. 

Nach diesem orientierenden Oberblick iiber den Verlauf des 
Pyrrhonismus und der akademischen Skepsis l&fit sich ein Gesamt- 
bild des griechischen Skeptizismus als einer einheitlichen Welt- 
anschauung entwerfen. Den Grundrifi hierzu soli die monumen- 
tale Problemstellung des Pyrrho, sollen seine drei grofien Fragen 
in Timons Formulierung abgeben: Wie sind die Dinge be- 
schaffen? Wie miissen wir uns zu ihnen verhalten? Was 
erwSchst fur uns aus diesem Verhalten? 1 ) Ein antiker 
Rahmen zu einem antiken Bild* ist auch im Haushalt der Wissen- 
schaft am Platz. Es ist bemerkenswert, daft 2000 Jahre spater 
Kant die Grundzuge seines Systems durch drei ganz ahnliche 
Fragen zu umspannen vermeinte: was kann ich wissen? was soli 
ich tun? was darf ich hoffen?*) Und gehen auch die Antworten 
Pyrrhos und Kants besonders bei den letzten Fragen weit aus- 
einander, so zeigt sich doch eine eigentumliche Verwandtschaft 
darin, dafi beiden die dritte Frage: was erw&chst fhr uns aus 
unsrer Lehre oder: was durfen wir hoffen, personlich am meisten 
am Herzen lag. Bei Pyrrho ist es die Ataraxie, auf welche der 
Skeptiker hoffen darf, bei Kant sind es die Objekte des religidsen 
~ Glaubens, Gott, Freiheit, Unsterblichkeit. Dafi das ethische Ideal 
der Unbewegtheit und Unbeirrtheit in des Pyrrho Skepsis das 
treibende Motiv gewesen, auf das ihm alles ankam und dessen 
wegen er seine Lehre ausbildete, ist schon hervorgehoben worden. 
Kant aber hat den Satz geschrieben: ich mufite das Wissen auf- 
heben, um zum Glauben Platz zu bekommen. Und weiter: wahrend 
bei Kant und Pyrrho die dritte und dann die zweite Frage als ihre 
personlichen Lieblinge erscheinen, liegt fQr die Wissenschaft und 
fur uns heute das Schwergewicht und die bleibende Leistung dieser 
Manner in der Beantwortung ihrer ersten Frage: wie sind die 
Dinge beschaffen, was konnen wir iiber sie wissen? Und die Er- 
kenntnislehre der Skeptiker, nicht ihre Ethik, und Kants Kritik der 
reinen Vemunft, nicht seine Moral - und Religionsphilosophie, stehen 
uns heute obenan. 

Demnach wird die erste Frage: wie sind die Dinge be- 
schaffen? das Hauptinteresse in Anspruch nehmen. Dabei konnen 



Z writes Kapitel. Die DanteUuag des griechischen Skeptizismus. 


43 


zwei grofie Seiten der griechischen Skepsis ohne Verlust in den 
Hintergrund treten. Einmal die reiche Polemik gegen zeit- 
genossische Philosopheme, besonders gegen die Erkenntnislehre 
der Stoiker. Da letztere fur uns heute ein lediglich historisches 
Interesse hat, ist durch ihre Widerlegung fur den „ Skeptizismus 
in der Philosophic" nicht viel gewonnen. Und zweitens diirfen wir 
von den enniidenden dialektisch-sophistischen Beweisgangen, 
aus denen die Skeptiker den Dogmatikem Stricke zu drehen 
liebten, im ganzen wohl absehen. „Der Skeptiker will" — schreibt 
Sextus im Schlufikapitel seiner Hypotyposen — „weil er menschen- 
freundlich ist, der Dogmatiker Wahn und Vorschnellheit nach 
Moglichkeit durch Vemunftgrunde heilen; und der wuchtigen nun 
und deijenigen, welche das Wahnleiden der Dogmatiker kr&ftig 
zu zerstdren vermogen, bedient er sich gegen diejenigen, welche 
durch die Vorschnellheit schwer zuschaden gekommen sind; der 
leichteren aber bei denen, welche nur ein oberflachliches und 
leichtheilbares Wahnleiden haben, und durch Grunde schwacheren 
Kalibers widerlegt werden konnen. Deshalb scheut sich der von 
der Skepsis Ausgehende nicht, bald an Glaubwiirdigkeit gewich- 
tige, bald aber auch schw&cher erscheinende Reden zu erheben, 
absichtlich, insofern sie ihm oft genugen, sein Vorhaben zu er- 
reichen." Wir ehren diese Menschenfreundlichkeit der Skeptiker 
— fuhlen uns aber als Schwerleidende, denen mit leichten und 
seichten Griinden nicht geholfen ist. Von den dialektischen 
Sophismata zur Begriindung des Skeptizismus also absehend, 
wenden wir uns dessen emst zu nehmenden und emstgemeinten 
Argumenten zu. 

Und zwar zunachst der Frage: wie sind die Dinge be* 
schaffen? Unter Dingen ist alles Wirkliche und allesMogliche, alle 
Werte und alle Wertmoglichkeiten zu verstehen. Also die Rose, die 
ich jetzt sehe, so gut wie die Rose, die morgen erst erbluhen wird, 
aber auch ebenso Gott, das Gute und Bdse, Schone und Hafl- 
liche usw. Die Dinge, in dieser weitesten Bedeutung genommen, 
wie sind sie beschaffen ? Darauf antwortet der Skeptiker: ich 
kann schlechterdings nicht wissen, ob sie so oder so beschaffen 
sind. 8 ) Wie kommt er zu dieser ungeheuerlichen Behauptung? 
Er kann nicht wissen, ob eine Far be rot oder gelb, ein Turm 
rund oder viereckig, ob Gott schwach oder machtig, der Dieb- 
stahl gut oder schlecht, ein Madchen, eine Landschaft schon oder 
hafilich ist! 4 ) Es ist klar, wer so etwas meint, mufi eine be- 



44 


Enter Absdmitt. Die griedusche Skepsis. 


sondere Fahigkeit, ein besonderes Vermogen besitzen, das anderen 
Menschen abgeht. Und in der Tat sprechen diese Manner von 
einer besonderen skeptischen Fahigkeit, einer dvvapiig 6xt7trtxr^. 
Wer dies skeptische Vermogen besitzt, ist ein Skeptiker. Worin 
besteht diese Begabung? 6 ) . Sie besteht, so erfahren wir, im 
Konfrontieren von allem, was da ist, in einer Gegenuberstellimg 
von gleichstarken Behauptungen, die sich die Wage halten. Eins 
widerlegt das andere und wird seinerseits durch das andere 
widerlegt. Es ist, als ob die ganze Welt nur eine grofie Prozeft- 
verhandlung wSre , die aus lauter widersprechenden Zeugenaussagen 
bestunde. Der Skeptiker aber ist der Weltrichter und spricht 
fiber alles sein non liquet. Jedes Ding hat seine zwei Seiten. 
Der Skeptiker macht Ernst mit diesem Sprichwort. Wahrend wir 
im gewfihnlichen Leben nur so obenhin verallgemeinera und blofl 
ausdriicken wollen , die meisten Dinge lassen sich von ver- 
schiedenen Gesichtspunkten aus betrachten, so will nun der Skep- 
tiker zunachst buchstablich, dafi jedes Ding seine zwei Seiten 
habe. Nun mufi aber alles, was ist oder sein kann, entweder 
durch die Sinne oder das Denken aufgefafit werden konnetu 
Ein Ding, ein Etwas, mufi sich entweder sehen, horen, riechen, 
tasten, schmecken oder — denken lassen. Eine Rose kann ich 
tasten, sehen, riechen; den Ton c kann ich horen, die Sufie des 
Zuckers kann ich schmecken — von Gott oder einem Zentauren, 
der Tugend oder dem Laster, von denen ich keine unmitt elbare 
sinnliche Wahmehmung habe, kann ich mir doch in Gedanken 
einen Begriff machen. Konnte ich auch das nicht, so waren sie, 
wenigstens fur mich, nicht etwas, sondem nichts. So ist alles: 
sinnlich W ahmehmbares oder Denkbares, ai&rfta oder vorfta] 
das sinnlich Wahmehmbare wird auch gelegentlich Erscheinendes, 
cpaiYOiJLGva, das denkbare Gedachtes, voovjieva, genannt. Beide 
Ausdrucke, PhSnomene und Noumene, sind als stehende Aus- 
drficke in den Sprachschatz der neueren und neuesten Philosophic 
mit hinfibergewandert. Da aber die Skepsis das Wort Erschei- 
nung mehrdeutig gebraucht und dasselbe besonders durch Kant 
eine ganz neue Farbung erhalten hat, wollen wir uns vorlaufig 
der eindeutigen Ausdrucke: Sinnliches und Begriftliches bedienen.®) 
Der Skeptiker ist nun gewillt, Sinnliches gegen Sinnliches, Be- 
griffliches gegen BegrifTliches, Sinnliches gegen Begriffliches und 
BegrifTliches gegen Sinnliches auszuspielen. ^ Man sieht, an 



Z writes Kapitel. Die Darstellung dee griechischen Skeptirismas. 


45 


Folgerichtigkeit und Kuhnheit fehlt es hier nicht Aber es genfigt 
nicht, dafi alles in jeder erdenklicben Weise einander entgegen- 
gesetzt wird, es mufi diese Entgegensetzung auch eine vollstandige 
sein und darf nicht halb bleiben. Das ist nicht so zu ver- 
st ehen, als mfisse die eine Seite das gerade , direkte oder, wie 
es in der Schulsprache heifit, das kontradiktorische Gegenteil der 
anderen sein; 8 ) aber die Behauptungen fiber die Beschaffenheiten 
der Dinge mfissen sich wie These und Antithese insofem ver- 
halten, als sich beide an Oberzeugungskraft , an Glaubwfirdigkeit 
oder Unglaubwfirdigkeit (jti&tig- am&tia) nichts nachgeben dfirfen. 
Jedes Ding mufi wirklich me hr ere Seiten haben, die sich die 
Wage halten. Das nennt der Skeptiker die Gleichkraftigkeit , die 
Isosthenie. Und er erklart dieselbe als „die Gleichheit in Glaub- 
wurdigkeit und Unglaubwfirdigkeit, so dafi keine der streitenden 
Thesen als glaubwfirdiger vor der andera etwas voraus hat/ 1 
Wiederum ist hier auf Kant zu verweisen, der diese skeptische 
Methode in einer der bedeutendsten Partieen seines Hauptwerks, 
in den sogenannten Antinomien der reinen Vemunft (freilich als 
partieller Skeptiker nur auf ein Teilgebiet der Erkenntnis, namlich 
die Metaphysik) angewandt hat. 9 ) Fragt man nun nach Beispielen 
von solch vollstandigen Gegenfiberstellungen, so ist auch mit diesen 
die Skepsis gleich zur Hand. — Sinnliches steht Sinnlichem 
gegenfiber: derselbe Turm erscheint einmal rund (namlich aus der 
Feme), einmal eckig (namlich aus der Nahe). BegrifFliches steht 
BegrifHichem gegenfiber: es gibt eine Vorsehung (Beweis: die 
Ordnung und Harmonie in der Natur), es gibt keine Vorsehung 
(Beweis: dem Guten geht es oft schlecht, dem Schlechten oft gut). 
Sinnliches steht Gedachtem gegenfiber: der Schnee ist weifi (wie 
uns die sinnliche Wahmehmung lehrt), der Schnee ist schwarz 
(wie Anaxagoras beweist, der ihn als festgefrornes Wasser erkannte; 
Wasser aber ist schwarz). Oder, damit bei dem letzten Beispiel 
man nicht von den naiven naturwissenschaftlichen Vorstellungen 
der Alten aus zu frfih fiber deren prinzipiellen Standpunkt sich 
erhaben dfinke: dafi Bewegung statthat, lehrt der Augenschein; 
andrerseits folgt die Unmoglichkeit der Bewegung aus der logischen 
Erwagung: dafi, wie die Bewegung in einem gegebenen Ort an- 
fangen solle, ebenso undenkbar ist, wie dafi eine endliche Strecke 
in einem in unendliche Teile zerfallenden Raume von einem be- 
wegten Korper durchlaufen werde. 10 ) Ist aber der Skeptiker 
einmal darum verlegen, einer bestimmten Behauptung fiber die 


46 


Enter Abachnitt. Die griechische Skepsis. 


Beschaffenheit der Dinge (etwa der Atomtheorie Demokrits) einc 
andere gleichkraftige entgegenzusteUen, so sagt er: Gleichwie des 
Demokrit Anschauung, dafi jedes Ding ein Konglomerat iron 
Atomen sei, vor dessen Geburt noch nicht bestand und doch der 
Sache nach schon da war, so besteht auch schon die antiatomistisdie 
These der Sache nach, wenn sie auch noch nicht ihren Verkunder 
gefunden hat In dieser Verlegenheitsauskunft bewegt sich der 
griechische Skeptizismus ersichtlich schon hart an der Grenze des 
Sophismas. 11 ) 

Dies antithetische Verfahren ware nun aber blofi Spielerei 
und eine Art frecher Disputierkunst , ahnlich der der Sophisten , die ja 
auch eine bestimmte Behauptung heute und morgen deren Gegen- 
teil zu beweisen liebten, 1 *) wenn nicht die Lehre von der Iso- 
sthenie bei den Skeptikem auf grundsatzlichen und wohlbegrundeten 
Einsichten geruht hatte. Jeder Behauptung — das ist der Sinn 
ihrer Lehre, der diese weit von der Durchschnittsophistik ab- 
riickt — kann nicht nur durch dialektische Geschicklichkeit oder 
infolge einer Art geistiger Sportflbung eine gegenteilige Be- 
hauptung zugeordnet werden; sondem jeder These fiber die Be- 
schaffenheit der Dinge steht notwendig und aus inneren Grunden 
(soweit solche Ausdriicke innerhalb der skeptischen Anschauungs- 
weise erlaubt sind) die Antithese gegenfiber. Denn keines 
unserer Erkenntnismittel kann die Wahrheit je erreichen. 

Der Satz, dafi keines unserer Erkenntnismittel die Wahrheit uber 
die Dinge je erreichen konne , ist von den Skeptikem eingehend be- 
grfindet worden. So ist das Prinzip der Isosthenie — und als 
solches, als apxv bezeichnet es Sextus 18 ) — hier sowohl Methode, 
Verfahrensweise wie Ergebnis gewonnener Einsicht. Methode, inso- 
fem die Skeptiker ihre wissenschaftliche Betatigung auf die Wider- 
legung der Dogmatiker beschrankten und sich hier des antithetischen 
Verfahrens bedienen wollten; 14 ) Ergebnis, insofem die Mdglichkeit 
einer allgemeinen Ausdehnung der Isosthenie auf anderweitig fest- 
gelegtem Grunde ruht. Das isosthenische Prinzip als Methode erhalt 
erst von dem gleichen Prinzip als Ergebnis seine innere Berechtigung. 
Dieses fufit auf dem Nachweis, dafi der menschliche Geist auf 
keinem Gebiete fahig sei, die Wahrheit zu erfassen. 

Nun stehen uns aber als einzige Mittel, die Beschaffenheit 
der Dinge zu erkennen, anschauliches Wahrnehmen und ver- 
nunftiges Denken zur Verfugung. Es wird also das Bemuhen 
der Skeptiker darauf gerichtet sein, Sinnen wie Veraunft gleich- 



Z writes Kzpitel. Die Darstellung des griechischen Skeptizismus. 


47 


mafiig die Berechtigung jedes Anspruchs auf Erkenntnis zu ver- 
sagen. In der Tat ist dies der Weg, den die antike Skepsis 
beschreitet Dabei verteilen sich die einzelnen Gruppen der Denker 
in der Weise, dafi sie zwar alle die sensuale wie rationale Erkenntnis 
leugnen, aber doch vorzugsweise die fruheren Skeptiker auf die 
Unmoglichkeit der sinnlichen, die spateren auf die Unmoglichkeit 
der vernunftigen Erkenntnis den Strom ihrer Griinde und Be- 
muhungen gerichtet haben. Mit dem skeptischen Nachweis von 
der Unmoglichkeit, durch die Sinne die BeschafTenheit der Dinge 
zu erkennen, wollen wir als dem der Sache wie der Zeit nach 
fruheren beginnen. In den zehn Tropen des Aenesidem hat 
dieser Nachweis seinen klassischen Ausdruck gewonnen. 15 ) 

IL Die sensuale Skepsis. 

Diese zehn Tropen, die als tponot, ronoiy Aoyoi (Weisen* 
Gesichtspimkte, Reden) bezeichnet wurden, 16 ) und die sich in 
ausfuhrlicher Darstellung bei Sextus und Diogenes Laertius finden* 
sind nun folgende: 

Der erste Tropus betrifft den Unterschied der Sinnes- 
wahrnehmungen liber das gleiche Objekt bei verschiedenen 
Lebewesen. Er entspringt der Erwagung, dafi die Erscheinungen 
der Dinge (sagen wir z. B. die Grofie, Gestalt, der Duft und 
die Farbe einer Rose) 17 ) sich nicht alien lebenden Wesen in 
gleicher Weise darstellen konnen. Wenn sie aber dem einen 
so, dem andem anders erscheinen, wer besitzt dann das wahre 
Erkenntnisbild des Dinges ? Der Skeptiker weifi darauf nur zu 
antworten: es ist unentscheidbar, non liquet. Beide Behauptungen: 

1. dafi die Sinneswahrnehmungen der einzelnen Organismen von 
einem bestimmten Objekt nicht die gleichen sein konnen und 

2 . dafi infolgedessen kein Wesen bei einer sinnlichen Vorstellung 
oder Anschauung (<pavxa6ia ist der technische Ausdruck) den An- 
spruch auf die Wahrheit derselben erheben diirfe, stiitzten die Skep- 
tiker mit reichlichen Grunden. Es ist doch — so meinten sie zum 
ersten Punkt 18 ) — nicht denkbar, dafi die gleichen Dinge (bleiben 
wir bei unsrer Rose) in den stark gewolbten Augen mancher 
Tiere, in den Augen der Insekten, in dem Sehorgan des Menschen 
sich in derselben Weise spiegeln sollten! Hier erleiden (um in 
der Sprache unsrer Zeit zu reden) die von den Dingen ausgehen- 
den und in das Sehorgan einfallenden Strahlen ganz verschiedene 
Brechungen. „Es ist deshalb wahrscheinlich, dafi Hunde, Fische,, 



48 


Enter Abschnitt. Die griechiache Skepsis. 


Lowen, Menschen, Heuschrecken dieselben Dinge weder in den 
Grdfien gleich noch in den Gestalten ahnlich sehen." 19 ) Und was 
vom Gesichtsinn gilt, gilt auch von den ubrigen Sinnen. Wie kann 
man sich vorstellen, dafi die Tastempfindungen, die die Or- 
ganismen durch Beriihrung mit den Dingen erhalten, fur Schal- 
tiere, nackthautige, befiederte, beschuppte, bestachelte die gleichen 
sein werden ? Wird ein Ding (z. B. eine schwingende Saite) feraer 
wirklich denselben Ton in einem engen wie in einem weiten, in 
einem behaarten wie in einem glatten Gehorgang hervorrufen ? Und 
gilt nicht ahnliches auch von dem Geruch? Weiter: werden die 
Tiere mit trockener Zunge dasselbe schmecken wie die mit feuchter; 
gewifi nicht, so wenig wie der Fieberkranke auf seiner Zunge 
denselben Geschmack erleidet wie der Gesunde. Wie also der- 
selbe Hauch des Musikers in die Flote geblasen bald einen hellen, 
bald einen tiefen Ton erzeugt, so werden auch dieselben aufieren 
Dinge verschieden angeschaut je nach dem Bau des betreffenden 
Lebewesens. Noch mehr wird man in dieser Annahme bestarkt, 
wenn man auf die Gefiihlstone sieht, die die Dinge bei den 
einzelnen Wesen erregen. Was dem einen angenehm, ist dem 
andem entsetzlich, und was diesen entzuckt, verabscheut jener. 
So ist dem Menschen das Seewasser als Getrank unangenehm 
und ungeniefibar, der Fisch platschert wohlgemut darin umher 
und verschluckt es behaglich. Es mufi also das Seewasser dem 
Menschen ganz anders „erscheinen“ wie dem Fisch. Aus alledem 
und noch einer Flut SLhnlicher Beispiele erhellt, dafi der gesamte 
Sinnesapparat des Menschen widersprechende Zeugen in den 
Sinneswerkzeugen der verschiedenen Tiere sich gegeniiber hat 
Wir haben indes nicht den geringsten Grund — und das ist der 
zweite Punkt, auf den es ankommt 20 ) — den Erscheinungen, wie 
wir Menschen sie erkennen, als den wahren den Vorzug zu geben 
vor denjenigen, die die sogenannten unvemiinftigen Tiere von den 
Dingen erhalten. Denn wir sind ja selbst in dieser Frage Partei; 
also zum Richter so ungeeignet wie mdglich. Es ist nun eine 
Lieblingsvorstellung der Skepsis, die Kluft zwischen Menschen 
und Tieren zu uberbriicken, nicht um die Tiere den Menschen, 
sondem die Menschen den Tieren anzunahern. Die stolze Ver- 
nunft, die nach der Lehre der meisten Dogmatiker das Privilegium 
des Menschen ausmacht, soil hier etwas gedemiitigt werden. In 
launiger Weise zeigt uns Sextus, wie z. B. der Hund nicht nur 
scharfere Sinne als der Mensch, Geruch, Gehor und Gesicht 



Zweites K»pitel. Die Dantellnng des griech lichen Skepdzismus. 


49 


bes&fie, sondern dafi er auch an der Gottergabe der Vemunft teil- 
habe, wenn er z. B. vor der erhobenen Peitsche bedachtig sich 
zuruckziehe. Der Hund Argus zeigte sich sogar alien Menschen 
an Einsicht uberlegen, als er allein Odysseus in der veranderten 
Gestalt wiedererkanntel Ja, auch Zeichen von Moralitat geben 
diese Tiere, so der Hund, der seinen Wohltater dankbar an- 
wedelt, seinen Herm treu verteidigt; und selbst die Kunst der 
Dialektik fiben sie: der Hund, an einem Dreiweg angekommen, 
nach Durchspurung der zwei Wege, durch die das Wild nicht 
gegangen ist, macht den Schlufi nach der 5. Figur: entweder 
ging das Wild hier oder hier oder hier durch; weder aber hier 
noch hier; folglich hier. Und was nun den Unterschied anlangt, 
dafi der Mensch Sprache besitzt, das Tier nicht, wer sagt uns 
denn, dafi die Tiere keine Sprache besitzen? Dafi wir die 
Weisen der Vogel nicht verstehen, ist doch kein Grund, ihnen 
dies Ausdrucksmittel gegenseitiger Verstandigung hochmiitig abzu- 
sprechen. Und so werden wir zu dem bescheidenen Gestandnis 
gedrangt, dafi wir nicht wissen konnen, ob unsre Wahrnehmungen 
fiber das Ansich der Dinge vor denen der Tiere an Wahrheits- 
gehalt etwas voraus haben. 

Der zweite Tropus zieht den Gesichtskreis enger. Selbst 
zugegeben, dafi die sinnlichen Erscheinungen, die wir Menschen 
haben, glaubwurdiger seien als die der Tiere (also Chance vor- 
handen sei, dafi mein Gesichtsbild von der Rose wahrer sei als 
das des Elefanten), so stehen die Bilder, die sich die Menschen 
von den Dingen machen, auch untereinander in volligem Wider- 
spruch. 81 ) Das ist ja schon a priori zu vermuten. Hat man 
alien Grund zu glauben, dafi die seelischen Funktionen den korper- 
lichen parallel gehen, so mufi man auch annehmen, dafi ver- 
schiedenen korperlichen Gestaltungen verschiedene seelische Aufie- 
rungen entsprechen, dafi der Skythe und der so anders gebaute 
Inder nicht die gleichen Sinnesempfindungen haben werden. Und 
in der Tat bestatigt die Erfahrung diese Vermutung. Alle mog- 
lichen und unmoglichen Falle fuhrten die Skeptiker als Beispiele 
hierfur an. Da soli eine alte Frau in Attika ein paar Pfund 
Schierling ohne Nachteile verschluckt haben; von Alexanders 
Tafelordner Demophon wird berichtet, er habe in der Sonne 
gefroren und im Schatten geschwitzt; der Kaiser Tiberius sah im 
Finstem usw. Und auch hier gilt der Beweis, der sich den ver- 
schiedenen Geffihlstonen, die die Dinge in uns erregen, entnimmt; 

Richter, Skeptizismiia. a 



5° 


Enter AbtchniU. Die gtiechische Skepii*. 


nicht nur Mensch und Tier, sondem auch Mensch und Mensch 
lieben und hassen, begehren und fiiehen Verschiedenes. Singt 
doch schon Homer: 

„Denn den einen ergetzt ja dies, den anderen jenes." 


Da nun die Wahl und die Vermeidung auf Lust und Onlust 
beruht, Lust und Unlust aber auf den sinnlichen Wahmehmungen, 
so mufi man annehmen, dafl, wenn der eine dies, der andere 
jenes begehrt, auch die betreffenden Dinge dem einen so, dem 
anderen anders anschaulich erschienen sind. Wiederum erhebt 
sich die Frage: wer hat recht? Wer erkennt das Ding, wie es 
wirklich, wie es seinem eigenen Wesen, seiner eigenen Natur 
nach, wie es an sich beschaffen ist? Wem sollen wir glauben? 
Denn alien Menschen konnen wir nicht Recht geben, sonst wurden 
wir ja die widerstreitendsten Eigenschaften dem gleichen Dinge 
zusprechen miissen; einigen bestimmten aber auch nicht, denn wer 
sollten diese sein? Zwar wird jeder den Parteifuhrer seiner eigenen 
Gruppe angeben; aber mit welchem Recht? Das eben ist die Frage. 
Und auch der Ausweg, die Majoritat hier zur Richterin uber wahr 
und falsch zu setzen, ist uns verschlossen. Denn wer getraute sich 
die Meinung der Majoritat hieriiber in der weiten Welt festzustellen? 

Der dritte Tropus verhalt sich zum zweiten, wie der zweite 
zum ersten. Er liegt als konzentrischer Kreis in ihm. Erst wurde 
der Mensch den Tieren, dann der Mensch dem Menschen, jetzt 
wird der Mensch sich selbst gegenubergestellt. In einem und 
demselben Menschen widersprechen sich n&mlich die Zeugenaus- 
sagen der einzelnen Sinne iiber den gleichen Gegenstand.**) So 
erscheinen die Gemalde dem Gesichtsinn plastisch (man denke 
nur an ein heutiges Panorama) mit Erhohungen und Vertiefungen, 
dem Tastsinn aber flach, unkorperlich und der dritten Dimension 
entbehrend. Die Myrrhe empfindet unser Geruchsorgan als wohl- 
riechend, unsere Zunge als ubelschmeckend. Wer hat nun recht: 
Auge oder Tastsinn? Zunge oder Nase? Wie ist das Gemalde, 
wie ist die Myrrhe wahrhaft beschaffen? Und noch ein bedeut- 
samer Ein wand tritt hier auf. Die bisher befolgte Methode, aus 
dem Widerspruch in den Aussagen der Wahmehmungen (bei 
den verschiedenen Lebewesen, den verschiedenen Menschen, den 
verschiedenen Sinnesgebieten desselben Menschen) fiber die gleiche 
Eigenschaft auf die Unerkennbarkeit der Dinge zu schliefien, wird 
namlich verlassen, und auf das Verhaltnis der Mannigfaltigkeit 
der subjektiv- sinnlichen Empfindungen zur Mannigfaltigkeit der 



Zweites K&pitel. Die Darstellung des griechischen Skeptizismus. 5 1 

objektiv-realen Qualitlten reflektiert. Der qualitative Gesichts- 
punkt wird durch den quantitativen abgelost. 1st es auch kein 
Widerspruch, dafi — wie die Empfindungen der verschiedenen 
Sinnesorgane uns lehren — dem Dinge viele Qualit&ten zukommen, 
so Uifit sich doch die Frage aufwerfen: mufi auch notwendig der 
Mehrzahl der Sinneswerkzeuge eine Mehrzahl der realen Eigen- 
schaften entsprechen? Konnte nicht z. B. der Apfel, der dem 
Auge rund und gelb, der tastenden Hand glatt, dem Gaumen 
sfifi, dem Geruch wohlduftend erscheint, nur eine einzige Qualitfit 
haben, die sich nur gemafi den verschiedenen physiologischen 
Bedingungen (Netzhaut, Geschmacksknospen , Geruchskolben usw.) 
dem Menschen verschieden darstellt? Fehlt es daffir etwa an 
Analogien in der Natur? Wird nicht der namliche Saft im Baume 
zur Rinde, zum Blatt, und zum Stamm? Und umgekehrt: wie es 
moglich ist, dafi wir zu viel Eigenschaften an den Dingen wahr- 
nehmen, so ist es auch ganz gut moglich, dafi wir zu wenig an 
ihnen entdecken. Wir haben funf Sinne. Wie, wenn wir sechs 
oder mehr Sinne hatten? Moglich, dafi wir dann noch weitere 
Eigenschaften an dem Apfel wahrnehmen wiirden, von denen wir 
uns jetzt nicht einmal eine Vorstellung zu machen vermogen. Und 
so bleiben wir fiber die Anzahl der Eigenschaften eines Dinges 
wie fiber die Beschaffenheit derselben gleichmafiig im Unklaren. 

Im vierten Tropus verengert sich das Vergleichungsfeld 
noch einmal: nicht Mensch und Tier, nicht Mensch und Mensch, 
nicht die verschiedenen Sinnesorgane eines Menschen, sondem 
das gleiche Sinneswerkzeug wird in seinen widerspruchvollen Aus- 
sagen sich selbst gegenfibergestellt. 28 ) Je nach den Verhaltnissen 
namlich, unter denen ein Sinnesorgan arbeitet, wechseln seine 
Erzeugnisse betrachtlich. Daher fiihrt diese vierte Weise den 
Namen: von den Umstanden. So schmeckt den Gresunden der 
Honig sfifi, dem Gelbsfichtigen bitter. Wo der normale Mensch 
nichts vemimmt, glaubt das Ohr des Geisteskranken Gotterstimmen 
zu horen. Den gesunden und krankhaften Bedingungen in ihrer 
Wirkung verwandt sind die Zustande des Schlafens und des 
Wachens. Im Traume sehen wir Dinge, an die wir im Wachen 
niemals glauben wiirden, und was wir wachend geschaut haben, 
verandert sich im Traum. Auch die Altersverhaltnisse des Menschen 
sind fur seine Anschauungen von Bedeutung. Hier kehrt die Be- 
trachtung von den andersartigen Gefuhlstonen wieder, die den 
einzelnen Erscheinungen anhaften: „denn fur Kinder sind Balle und 

4 * 


A 



52 


Enter Atxchnitt. Die griechische Skeprii. 


Spielrader eine emste Sache; die VollkrSftigen aber wlhlen sich 
anderes und anderes die Greise u . Auf zahllose Umstlnde, die 
unsere Gefuhle und Empfindungen von den Gegenstanden ver- 
farben und verschieben , sei an der Hand der griechischen Scepsis 
nur vorftbergehend hingewiesen. In verliebtem Zustand halt man 
ein M&dchen fur bliihend und schon, das einem in ruhiger Ge- 
mutsverfassung hafilich erscheinen wiirde. Die lauwarme Mittel- 
halle des Bades erwarmt den von aufien, von der fnschen Luft 
kommenden, kiihlt denjenigen , der aus den heifieren Rlumen in 
sie hineintritt, dagegen ab. Wir brauchen die Beispiele nicht zu 
vermehren. Wer hat nun recht, der Kranke, dem der Honig 
bitter oder der Gesunde, dem er sufi schmeckt; der Traumende 
oder der Wachende; der Greis Oder das Kind; der Verliebte oder 
der Nuchteme; der Besucher, der von innen, oder der von aufien 
in den Mittelraum tritt? Wie sind denn die Dinge wirklich be- 
schaffen? 1st der Honig sfifi oder bitter? ist das Madchen hubsch 
oder hafilich? ist die Luft im Badehaus kuhl oder warm? Und 
wieder ertont die gleiche Antwort der Skepsis: wir wissen es nicht 
— Man mSchte vielleicht bei diesem Tropus das Gefuhl haben, 
als wiirde man von den Skeptikern einfach zum Besten gehabt; 
konne es doch keine Frage sein, dafi sich hier nicht gleichwerdge 
Zeugenaussagen gegeniiberstQnden; es sei doch selbstverstandlich, 
dafi das, was der Gesunde schmeckt, mehr Glauben verdiene als 
die Empfindungen des Kranken. Der Honig sei also sufi, und es 
gabe daruber nichts zu streiten. Und ebenso behalte der Wachende 
recht gegeniiber dem Schlafenden, der Niichteme gegeniiber dem 
Erregten ; es sei also wiederum gar nicht daran zu zweifeln, 
dafi ein ertriumtes Gespenst nicht wirklich im Zimmer gewesen, 
und dafi das betreffende Madchen in Wirklichkeit hafilich seL 
Aber abgesehen davon, dafi die Entscheidung der ubrigen Fragen, 
ob z. B. der aus einer kuhleren oder warmeren Umgebung Ein- 
tretende der zustandige Beurteiler f&r die absolute Temperatur 
der strittigen Luft sei, dabei noch ausstQnde, findet man auch 
gegen die vorige Kritik den Skeptiker fest gewappnet. Denn 
weim ihm mit noch soviel Sicherheit entgegengehalten wird, der 
Gesunde und nicht der Kranke, der Wachende und nicht der 
Schlafende erfasse die Dinge, wie sie in Wahrheit beschaffen seien, 
so wird ihn hier vielleicht schon ein einfaches und kuhles Warum? 
des Angreifers zum Stutzen bringem Und diesen Augenblick macht 
sich der Skeptiker gleich zu Nutze; er gibt zu, dafi wir im Schlafe 



Z writes Kapitel. Die Darstdluiig des griechischen Skeptirismus. 


53 


vermutlich das sehen, was im Wachen nicht wirklich ist, im Wachen 
aber das, was im Schlafe nicht wirklich ist. Ober das Sein Oder 
Nichtsein der Dinge schlechthin aber ware damit nicht das Geringste 
ausgemacht; sondern immer nur in Bezug auf etwas (npog n), 
namlich auf das Wachen Oder Schlafen. Um uber die absolute 
Existenz der Dinge zu urteilen, miifite schon vor allem der 
Urteilende nicht selbst Parteimann, oder wie die Skeptiker es 
nannten, nicht selbst auf einer Seite des Widerspruches (pepog ttfg 
diatpooviag) sein; also nicht selbst ein Wachender oder Schlafender. 
Das aber ist unmdglich. Hatte man sich nun aber inzwischen 
aufgerafft und hielte dem Skeptiker entgegen zu seinen Beispielen 
aus der Pathologie: Aussagen iiber die Dinge hatten doch nur 
im naturlichen und nicht im naturwidrigen Zustand des Menschen 
einen Wert, also nur bei den Gesunden, aber nicht bei den Kranken, 
so mufi man sich auf folgende Antwort von seiten des Gegners 
gefafit machen: von welcher Natur sprichst du eigentlich? Es gibt 
eine Natur des Kranken und eine Natur des Gesunden. Der Ge- 
sunde verhalt sich naturgemafi; gewifi, aber nur an der Natur des 
Gesunden gemessen, naturwidrig aber, gemessen an der Natur des 
Kranken; der Kranke verhalt sich naturwidrig, gewifi; aber nur 
gemessen an der Natur des Gesunden, naturgemafi aber, gemessen 
an der Natur des Kranken. Kennst du etwa eine Normalnatur, 
eine naturliche Natur und eine unnaturliche Natur? Dann mufit 
du mich erst daruber aufklaren; denn ich weifi nichts davon. 
Der Einwand des Skeptikers bleibt keineswegs auf der Oberflache, 
und wir werden ihn spater — bei der Kritik der Skepsis — 
emsthaft zu berucksichtigen haben. 

Die ersten vier Tropen bilden eine in sich geschlossene Kette. 
Sie bringen den Gedanken zum Ausdruck: die sinnliche Erkenntnis 
ist vollig relativ; sie hangt namlich ab von der Natur des wahr- 
nehmenden Subjekts und seiner Sinneswerkzeuge; da nim diese 
Bedingungen sehr variable sind, so konnen wir die Beschaffenheit 
der Gegenstande, die doch ersichtlich nicht mit der Beschaffenheit 
des auffassenden Subjekts wechselt, unmoglich erkennen. 

Die nachsten vier Tropen, der fiinfte bis achte, bilden eine 
zweite, wenn auch nicht so eng wie die vorige, zusammengehorige 
Gruppe. Betonten die ersten vier Tropen die Veranderlichkeit 
des Subjekts und die dadurch bedingte Veranderlichkeit seiner 
Wahmehmungen, so suchen diese neuen Weisen auch aus den 
Verbal tnissen der Objekte die Unmoglichkeit wahrer Erkenntnis 



54 


Enter AbadmitL Die griechiicbe Skepn. 


darzutun. Dafi der Zusammenschlufi dieser Tropen kein so inniger 
ist, wie in der ersten Gruppe, beweist schon allein der Umstand, 
dafi fur die Reihenfolge der ersten vier Tropen in der Oberliefenmg 
Einstimmigkeit herrscht, die fibrigen sechs aber von den alten Be- 
richterstattern in verschiedener Ordnung angegeben werden. 

Gleich der ffinfte Tropus ist wichtig. Er handelt von der 
Verschiedenheit der Wahmehmungsbilder je nach dem Ort, an 
dem sich die Objekte befmden, je nach der Stellung, in der sie 
zu, dem Abstand , in dem sie von dem wahmehmenden Subjekt 
stehen. M ) Die gleiche Saulenhalle erscheint von Anfang und Ende 
aus gesehen spitz zulaufend, von der Mitte aus aber gleichmafiig 
breit; dasselbe Schiff erscheint in der Feme klein und bewegungs- 
los, in der Nahe grofi und bewegt; derselbe Turm erscheint in der 
Feme rund t in der Nahe vierecldg; dasselbe Ruder erscheint in 
der Luft gerade , im Wasser gebrochen; der Hals derTaube erscheint 
je nach den Biegungen bald dunkel , bald spielt er in alien Farben. 
Da sich nun nicht vermeiden lafit, die Dinge an irgend einem 
Ort, in irgendwelchem Medium, in irgendeinem Abstand zu sehen, 
so mufite man denjenigen Ort, das Medium, den Abstand angeben, 
bei dem man die wirkliche Beschaffenheit der Dinge erkennen 
konnte. Da aber ein Ort vor dem anderen hier nichts voraus hat, 
so spricht der Skeptiker zum funften Male uber die Beschaffenheit 
der Dinge sein: non liquet. Ersichtlich befafit sich dieser Tropus 
mit demjenigen Phfinomen, das wir heute als „ Sinnestauschungen“ 
zu bezeichnen pflegen. Aber da in den Erklarungen derselben 
die modemen Erkenntnistheoretiker weit auseinandergehen , so 
konnen wir auch diesen Tropus, der vor etwa 2000 Jahren aus- 
gesprochen wurde, nicht fur veraltet ansehen. 

Der sechste Tropus beschaftigt sich mit den „Beimischungen“ 
( intfjiiyal ). 26 ) Er beruht auf der einfachen Erwagung, dafi wir des- 
halb die wirkliche Beschaffenheit der Dinge nicht zu erkennen 
vermdchten, weil sich das „Wahmehmbare << sowohl mit den Be- 
standteilen seiner Umgebung wie mit den Saften unserer Sinnesorgane 
vermische und so niemals rein, sondem immer schon vermengt 
mit Fremdartigem in unseren Geist gelange. So sehen wir unsere 
eigene Korperfarbe anders je nach der Luft, die uns umgibt, und 
wir horen vermutlich den gleichen Ton anders je nach den Ver- 
bindungen, die er mit den Stoffen in unserem Gehororgan eingehL 

Nach dem siebenten Tropus machen die quantitativen 
Verhaltnisse der Objekte die Erkenntnis ihrer Beschaffenheiten 



55 


Zweites Rppitel. Die Dantellung des griechischen Slteptirismus. 

unmoglich. Denn das gleiche Ding zeigt in verschiedener Grofie 
und Zusammensetzung ein ganz anderes Aussehen. 26 ) Die kleinen 
Abschabsel vom Horn der Ziege erscheinen weifl, in der Zusammen- 
setzung, am ganzen Horn erscheinen sie schwarz. Sind sie an 
sich schwarz oder weifl ? Die einzelnen Sandkomer fassen sich 
rauh an, der ganze Sandhaufe aber weich. 1st Sand nun rauh 
oder weich? Die Medizin in mafiiger Menge heilt, im Obermafl 
genossen, bringt sie Verderben. 1st sie an sich heilsam oder todlich ? 
Auch hier halt der Skeptiker eine Entscheidung fur unmoglich. 

Die achte Weise (die aber bei Sextus erst als neunte auf- 
tritt) kehrt den Gesichtspunkt von den verschiedenen Gefiihlstdnen, 
die das gleiche Objekt erregen kann, und der uns schon in den 
fieweisen fur friihere Tropen begegnet war, noch einmal als selb- 
standigen Tropus hervor, macht aber jetzt die Verschiedenheit der 
Gefuhle nicht von den friiher gemachten subjektiven Bedingungen, 
sondera von dem haufigen oder geringen Vorkommen der Objekte 
abhangig. 27 ) Was wir ofters sehen, wie die Sonne oder den 
menschlichen Korper, bewegt uns nicht mit staunender Ver- 
wunderung, wahrend seltene oder zum ersten Male erlebte Vor- 
kommnisse, ein Erdbeben, Kometen, der erste Anblick des 
Meeres usw. eine grofie Oberraschung in uns hervorrufen. Auch 
der Wert der Dinge schatzt sich nach ihrer grofieren oder ge- 
ringeren Verbreitung. Ware Wasser sparlich wie Gold oder Gold 
haufig wie Wasser, so wiirde Gold fur wertlos und Wasser fur 
wertvoll gelten. Ersichtlich haben sich aber die Beschaffenheiten 
des Wassers und Goldes als solche dabei nicht geandert. 1st nun 
das Meer selbst staunenswert oder gleichgtiltig, Gold an sich 
wertlos oder wertvoll? 

Der entscheidendste Tropus von alien ist aber der nun fol- 
gende, in unserer Aufzahlung also der neunte. Trotzdem konnen 
wir uns iiber ihn am kiirzesten fassen. Denn wie die Gruppe 
der ersten vier Weisen die Relativitat aUer Wahrnehmungen aus der 
subjektiven, die Gruppe der letzten vier aus der subjektiv-objek- 
tiven Bedingtheit gefolgert hatte, so verkundet nun der neunte 
Tropus die Quintessenz aller bisherigen, die Relativitat aller Wahr- 
nehmungen schlechthin. Darum hat dieser Tropus das „in bezug 
auf etwas 4< (npog tt) zum Gegenstand. 28 ) Eines besonderen Be- 
weises bedarf es also fur denselben nicht. Vielmehr dienen ihm alle 
iibrigen acht Tropen zum Beweise. Das hat schon Sextus gesehen 
und darum mit Recht behauptet, dafi dieser Tropus den iibrigen 



56 


Enter Abtchnitt. Die gricchisdte Sleeps*. 


nicht gleichgeordnet, sondem ubergeordnet sei, dafi diese siefa 
zu ihm wie die Arten zur Gattung verhielten. Und wir werden 
gleich erfahren, wie die Nachfolger des Aenesidem, als sie die 
Zahl der skeptischen Tropen verringerten, die bisher genannten 
neun in den einzigen Tropus von der Relativitat der Wahrneh- 
mungen zusammenschinolzen .») 

Ganz isoliert und aus dem Zusammenhang der tibrigen heraus- 
fallend steht nur der zehnte Tropus, der aus der Verschiedenheit 
und dem Gegensatz der Meinungen auf alien Gebieten die Un- 
moglichkeit einer Erkenntnis fur den Menschen erschliefit. 80 ) Mit 
der Widerlegung der Wahrheit der Sinneswahmehmungen hat er 
nichts zu tun. Die ganzliche Verschiedenheit dieses Tropus von 
den iibrigen suchte die Skepsis einigermafien dadurch zu ver- 
schleiern , dafi sie die Wahrheit auf alien Gebieten wie ein festes, 
reales Objekt an sich, die Auffassung der Wahrheit als die Spiege- 
lung und Erscheinung dieses Objekts hinstellt und dadurch den 
Parallelismus mit den sinnlichen Wahmehmungen, die ihr ja auch 
als Erscheinungen von Dingen gel ten, zu retten trachtete. Den 
Widerstreit der Meinungen beleuchteten die Skeptiker sehr wirksam, 
indem sie auf die Verschiedenheit der Volker und Individuen in 
deren grundlegenden Ansichten, in den Mythen, den Gesetzen, 
den Sitten, den wissenschaftlichen Prinzipien hinwiesen. Von jeder 
nur ein Beispiel (die Skepsis gibt deren eine Fulle). Widerspruch 
in den religiosen Mythen: bald wird Zeus, bald Okeanus als Vater 
der Menschen und Gotter erklart. Widerspruch in den Gesetzen: 
bei den Rdmera bezahlt, wer auf das vaterliche Vermogen ver- 
zichtet, nicht die Schulden des Vaters, bei den Rhodiern bezahlt 
er sie; Widerspruch der Moralanschauungen: die Inder pflegen 
mit den Frauen auf offener Strafie Geschlechtsverkehr, andere 
Volker halten dies fur schimpflich. Widerspruch in den Sitten: 
die Athiopier tatowieren ihre Kinder, die Griechen nicht Wider- 
spruch in den philosophischen Grundauffassungen: einige Denker 
lehren die Sterblichkeit, andere die Unsterblichkeit der Seele; 
einige halten an einer Vorsehung fest, die andere verwerfen. 
Ihrem rastlosen Spiiren nach Antithesen gemafi begnugten sich 
aber die Skeptiker nicht mit diesen Widerspriichen. Sondem wie 
sie Mythus dem Mythus, Gesetz dem Gesetz gegenuberstellten, so 
auch Mythen den Gesetzen, Sitten den Mythen usw. Man kann 
leicht ausrechnen, wie viel Kombinationen und Variationen das 
ergibt. 



Zweites KapiteL Die Darstellung des griechischen Sleep tizismui. 


57 


Und so schlieflt die Reihe der Tropen zwar mit einem 
Gliede, das organisch mit den iibrigen nicht verwachst, aber durch 
seinen umfassenden Machtbereich um so wirksamer den Vemich- 
tungsschlag gegen alle Wahrheit fuhrt. Die neun ersten Tropen 
bohrten die sinnliche Erkenntnis systematisch von alien Seiten an ; 
deren natiirlichen Zusammensturz nicht abwartend, scheint der 
zehnte Tropus als letzter Trumpf mit aller Wahrheit auch die 
anschauliche unter der Last eines einzigen Arguments zu begraben. 

Damit ist der hauptsachliche St off erschopft, den die grie- 
chische Skepsis gegen die Wahrheit der sinnlichen Wahrnehmungen 
ins Feld zu fuhren pflegte. Oberblickt man nun diese Polemik 
als Ganzes, so sieht man gleich, dafi sie nicht nur reine Nega- 
tion ist. Die Skepsis leugnete nicht, dafi wir mit unseren Sinnen 
Baume, Feld und Wiesen, Sonne und Meer wahrnehmen, sie 
leugnet nur, dafi wir die Dinge so erkennen, wie sie an sich selbst 
beschaffen sind. Oder, wie es der Skeptiker der damaligen Zeit 
auszudriicken pflegt: er erkenne selbstverst&ndlich und vollstandig 
die Erscheinungen als Tatsachen an; Bewufitseinszustande, die sich 
uns unmittelbar aufdrangen, zu leugnen, fiele ihm gar nicht ein; 81 ) 
nur die Moglichkeit, die nichtoffenbaren, den Erscheinungen, die 
wir haben, zu Grunde liegenden Dinge (der aStf\a und vnoxeifiEva) 
zu erkennen bestreite er. 82 ) Er leugnet also nicht, dafi ihm jetzt 
z. B. warm ist, 88 ) wohl aber, dafi er daraus erkennen konne, dafi 
die Luft, unabhangig vom wahmehmenden Subjekt betrachtet, hier 
warm Oder kalt sei; ebensowenig leugnet er, dafi ihm der Honig 
sufi erscheine, wohl aber, dafi er daruber Aufklarung erhalten 
konne, ob der Honig an sich sufi oder bitter sei. 84 ) So hebt der 
Skeptiker das Erscheinende nicht auf, sondem er bezweifelt nur, 
ob der Grund der Erscheinungen an sich (xa$* iairto), der Natur 
nach (npog rrjv <pv6iv ) , unverfalscht (afAixpivcSs), rein (iptXdog) so 
beschaffen ist, wie wir ihn auffassen und wie er uns erscheint 
Er bezweifelt also nicht die Erscheinung, sondem eine bestimmte 
Aussage iiber die Erscheinung, 85 ) namlich — um in modemer 
Sprache zu reden — dafi die Erscheinungen die Dinge an sich 
getreu widerspiegeln. Damit aber erkennt die Skepsis das Dasein 
unabhangig von den Bewufitseinserscheinungen bestehender Objekte 
ausdrucklich an. Schalen wir also den positiven und den negativen 
Teil in dieser skeptischen Theorie der sinnlichen Wahmehmung 
noch einmal heraus, so ist zu sagen: Die positiven Behauptungen 
der Skepsis lauten: es gibt Dinge, die mit bestimmten Eigen- 



58 


Enter Abschnitt Die griechiichc Sleeps*. 


schaften unabhangig vom wahmehmenden Subjekt bestehen; also 
es gibt Dinge nicht nur fur uns, sondem Dinge an sich; und es 
gibt zweitens Erscheinungsbilder dieser Dinge in uns als unmitteLbar 
erlebte Bewufitseinszustande, die wir anerkennen und denen wir 
uns fugen mussen. Aber — und das ist der negative TeQ — 
diese Erscheinungsbilder lassen uns nicht erkennen, wie die Dinge 
an sich beschaffen sind; denn wir erfassen die Dinge ja immer 
nur in ihren Erscheinungen, nie unmittelbar, und die Erscheinungen 
sind (das ist der Wesenskem der neun ersten Tropen) je nach 
der Natur des wahmehmenden Subjekts, der einzelnen Sinnes- 
werkzeuge, der einzelnen Umstande und Lageverhaltnisse der 
Objekte verschieden. Normale Subjekts-, normale Objektsverhalt- 
nisse, unter denen das Subjekt die wahre Erkenntnis der Dinge 
gewinnen konnte, lassen sich nicht angeben; denn die Norm fur 
das Normale — wo sie hemehmen? Hier liegt das eigentliche 
Problem, um das die Skepsis die Philosophie bereichert hat, und 
um das man ohne grftndliche Untersuchung mit einer einfachen 
Entscheidung nicht herumkommt. Das Nahere gehort in die Kritik 
dieser skeptischen Philosophie. In der Darstellung derselben, mit 
der wir vorlaufig beschaftigt sind, hat auf die skeptische Theorie 
der sinnlichen Wahraehmung der Angriff dieser Denker auf das 
verstandesmafiige und vemiinftige, das begriffliche und beweisende 
Erkennen zu folgen. 


UL Die rationale Skepsis. 

Geben die Sinne aus den uns bekannten Griinden keine wahre 
Erkenntnis, so doch vielleicht die Vernunft Unter Vemunft 
wollen wir hier die Funktion des Subjekts verstehen, nicht an- 
schauliche sondem begrifflich-logische Erkenntnis zu bilden. 
Alle Erkenntnis ist aber entweder anschaulicher oder begrifflicher 
Natur. Man nehme, welche Erkenntnis man wolle, aus dem System 
des popularen Wissens oder der Wissenschaft; sie druckt entweder 
ein anschauliches oder ein begrififliches Verhaltnis aus. Sage ich 
z. B. dieser Baum ist grim, so bringe ich ein anschauliches Ver- 
haltnis zum Ausdruck, namlich meine unmittelbare Anschauung 
eines griinen Baumes. Urteile ich aber: jeder Baum ist eine Pflanze, 
so spreche ich damit ein begriffliches Verhaltnis aus, namlich ein 
Verhaltnis der Unterordnung zwischen dem BegrifT des Baumes 
und dem der Pflanze. Mit den Begriffen nun lassen sich eine 
Reihe logischer Operationen ausfuhren, wie das Urteilen und 



Zweites Kapitel. Die Dantelhmg dec griechiichen Skeptiasmus. 


59 


Schliefien; und auf diesen beruht der grdfite Teil unserer einzelnen 
VeraunftaussprQche. Die methodische Ausnutzung aber dieser Ope- 
rationen, wie das planm£fiige Urteilen und Schliefien, bilden das 
hauptsachlichste Vehikel der wissenschaftlichen Erkenntnis. Solch 
wissenschaftlich - methodisch - begriffliches Erkennen ist z. B. das Be- 
weisen, das Definieren, das Induzieren u. a. Richtet sich also der 
Angriff der Skepsis gleichmafiig gegen Sinne wie Vernunft, so 
wird sie das Triigerische in den BegrifTen, den logisch - begrifflichen 
Opera tionen, und den hauptsachlichen wissenschaftlichen Methoden 
nachzuweisen haben. In der Tat ist dies ihr Plan und ihr Vorgehen. 
Aber in der Ausfuhrung wechselt sie die Taktik. Hatte sie bis jetzt 
vorzuglich aus der subjektiv-individuellen Variabilitat die 
Unfihigkeit der sinnlichen Wahmehmungen dargetan, so gibt sie im 
Bereich des logischen Erkennens die subjektive Allgemeingultigkeit 
stillschweigend zu und bestreitet den Wahrheitsgehalt der generell- 
konstanten logischen Produkte auf Grund von derer Organisation. 

Mit der skeptischen Kritik der Begriffsbildung beginnen 
wir. 86 ) Schon Sokrates, Plato und Aristoteles hatten die Ansicht 
vertreten, dafi die sinnliche Erkenntnis nur eine Vorhalle der be- 
grifflichen sei, und dafi wir erst in den BegrifTen das wahre Wesen 
der Dinge erfassen. So erkenne ich das wahre Wesen eines Baumes 
nicht durch das anschauliche Bild, das ich von einem bestimmten 
Baume babe, sondem durch den GattungsbegrifT vom Baume iiber- 
haupt. Denn dieser allein ist alien Menschen in gleicher Weise 
gemeinsam, frei von den Widerspriichen der sinnlichen Wahmeh- 
mung, unveranderlich und sich gleich bleibend. Plato liefi diesen 
Gattungsbegriffen als objektive Realitat die „Ideen“ der Dinge im 
Reiche der Transzendenz entsprechen, dem Aristoteles ist dieses 
objektive Wesen im Einzeldinge selbst enthalten. Durch diesen 
Begriff vom Baume 87 ) aber — so argumentieren die Skeptiker — 
erkenne ich iiberhaupt gar keine Wirklichkeit. Denn ihm kann 
keine Realitat entsprechen. Die Gattung (yivog) Baum, die ich 
mit dem GattungsbegrifT Baum erkennen soli, ist nicht existenz- 
fahig; denn sie enthalt in sich einen Widerspruch. Zwei Moglich- 
keiten sind gegeben: entweder die Gattung, die in ihre Unterarten 
zerfallt, enthalt all diese Arten in sich oder nur wenige. Letzteres 
ist ausgeschlossen; denn wenn die Gattung Baum nur Pflaumen- 
und Ahombaume in sich enthielte, wurde dieKastanie nicht unter sie 
fallen; sie also auch nicht die gemeinsame Baumgattung sein konnen. 
Umfafit die Gattung aber alle Arten, so miifite in unserem Fall 



60 Enter Abschnitt Die griediwche Skepsis. 

die Gattung Baum oder der abstrakte Baum alle einzelnen Baum- 
sorten, ObstbSume , Ahome, Kastanien usw. in sich befassen. Das 
aber ist ein Widerspruch. Denn dann mfifite er gezackte Blatter 
haben undungezackte, grofi undklein, nadeltragend und laubtragend 
sein. Weiter: ist nun jedereinzelne Baum eben Baum, cUl zur Gattung 
Baum gehdrig, so mufi auch jeder einzelne Baum diese wider- 
sprechenden Eigenschaften des Grofien und Kleinen, Nadeltragenden 
und Laubtragenden usw. an sich haben , und das wire der Gipfel des 
Widersinns. Hilft man sich aber damit, die Gattung sei nur der 
Moglichkeit nach (Swajiei) Pflaumbaum , Ahom und Kastanie, so 
sagt der Skeptiker: alles was der Mdglichkeit nach etwas ist, mufi 
auch aufierdem ein wirkliches Etwas sein, in dem diese Mdglich- 
keiten bestehen. So kann nicht jemand der Moglichkeit nach 
Grammatiker sein, der nicht der Wirklichkeit nach jemand ist 18 ) 
Was sind aber die Gattungen in Wirklichkeit (irepyefy)} Wenn 
die Gattung Baum weder Pflaumbaum noch Ahom noch auch alle 
Baumsorten zugleich sein kann? Und Moglichkeiten sind doch nur 
dadurch moglich, dafi sie einmal zu Wirklichkeiten werden kdnneiL 

Was von den Gattungen, gilt von alien mehreren Dingen 
gemeinsamen Eigenschaften, die, wenn tiberhaupt, doch nur be- 
grifflich erkannt werden konnten. Alles „gemeinsam Zukommende u 
(for xotvcSg tivjifiefiTpcoTa) geht an inneren Widerspruchen zugrunde. 
Wenn das Sehen als „eines und dasselbe" Dion wie Theon zu- 
kommt, so konnte nach Theons Tod sein Sehen nicht vernichtet 
sein, solange Dion lebt. Zu solchen Folgerungen fuhrt die An- 
nahme von Realit£ten, denen nicht nur individuelle sondern gene- 
relle Existenz zugeschrieben wird — die eigentliche Objektswelt 
der Gattungsbegriffe. 

So ist das Ergebnis der Kritik der Begriffe kurz dieses: 
Sowenig wie durch die Sinne kann ich durch Begriffe die Be- 
schaffenheiten wirklicher Dinge erkennen; denn die BegrifTe gehen 
tiberhaupt auf nichts wirkliches. Ein solches konnten hochstens 
die Gattungen und Arten sein. Warum diese aber der Lebens- 
fahigkeit entbehren, wurde dargetan. Dafi auch in dieser Beweis- 
fuhrung, so dialektisch sie klingen mag, die grofie Wahrheit vor- 
geahnt ist, dafi wir in den Gattungsbegriffen nicht reale Objekte 
erkennen, sondern dafi sie nichts weiter sind als rein gedankliche 
Zusammenfassungen vieler Einzeldinge, bei denen man auf das 
Gemeinsame reflektiert, das Unterscheidende aber fallen lafit, 89 ) 
wird sich spater herausstellen. 



Zweites Kapitel. Die Darstellung des griechischen SkepdzUmus. 6 1 

Innerhalb des Vemunftbereichs ist nun aber von alien lo- 
gischen Beziehungen, die unser Denken vollfiihrt, fur das Erkennt- 
nisproblem wohl keine so wichtig, wie das Schliefien. Selbst 
das Urteilen, insofem es sich nicht um Feststellung unmittelbarer 
Erlebnisse handelt, wie: ich sehe jetzt rot, schmecke sufi, habe 
Schmerz usw., selbst das Urteilen hat fur uns nur Erkenntniswert, 
wenn es sich in letzter Linie als Produkt eines logischen Schlusses 
darstellen lafit. Ob wir im gewohnlichen Leben Urteile fallen, wie 
etwa: die elektrischen Strafienbahnen sind eine wohltatige Ein- 
richtung, oder in der Wissenschaft: die Summe der Winkel im 
Dreieck ist 2 R. gleich, immer hat das Urteil erst dadurch Er- 
kenntniswert fur uns, dafi wir es uns logisch begriindet, d. h. als 
Konklusion eines Schlusses denken, oder doch denken konnen. 
Ein Urteil, das das Warum? nicht vertragt, iiberzeugt uns nicht; 
ein Urteil, das wahr sein will, mufi sich begrunden lassen. 
Nun begrunden wir nur dann streng, wenn wir den strittigen Satz 
auf unstrittige Satze zuruckfuhren oder aus diesen ableiten. Das 
gerade ist aber der Kern des logischen Schlufiverfahrens. So kann 
man das Urteil uber die wohltatige Einrichtung der Strafienbahnen 
etwa auf die unstrittigen S&tze zuruckzufuhren suchen, dafi die 
Strafienbahnen den Verkehr erleichtem und dafi jede Verkehrs- 
erleichterung fur die Menschen eine Wohltat ist. Das heifit nun 
nichts anderes wie: das in Frage stehende Urteil als Konklusion 
zweier Pramissen darstellen und den Schlufi ziehen: 

Jede Verkehrserleichterung ist eine wohltatige Einrichtung. 

Nun bilden die elektrischen Strafienbahnen eine Verkehrs- 
erleichterung. 

Also sind die elektrischen Strafienbahnen eine wohltatige Ein- 
richtung. 

Wir sagten: die beiden Pramissen mussen unbestrittene Satze 
sein, wenn das zu begriindende Urteil auf ihnen, als seinem lo- 
gischen Grunde ruhen, wenn das Urteil wahr sein soli. Da nun in 
obigem Beispiel die beiden Vorders&tze keine unstrittigen S&tze 
sind — denn es konnte ja ein Mann vom Schlage der Rousseaus, 
der Gluck und Sittlichkeit durch die Fortschritte der technischen 
Kultur nicht gefordert sondem gefahrdet sahe, bezweifeln, dafi 
die Strafienbahnen eine wohltatige Einrichtung sind — so ist das 
Endurteil auch nicht notwendig wahr. Aber fUr denjenigen, der es 
als falsch erkennt, hangt auch die Falschheit des Urteils an den 


6 2 


Enter Abachnitt Die griecbiiche Skepsis. 


Pramissen; denn nur falsche Pramissen treiben falsche Urteile her- 
vor. Und das gegnerische Urteil : die elektrischen Strafienbahnen 
sind keine wohltatige Einrichtung, ruht seinerseits wieder nach 
Wahrheit und Irrthmlichkeit auf anderen Vordersatzen, die etwa in 
dem Schlusse zum Ausdruck gelangen: 

Die Verkehrserleichterungen sind keine wohltatige Einrichtung. 

Die elektrischen Strafienbahnen sind Verkehrserleichterungen. 

Also sind die elektrischen Strafienbahnen keine wohltatige Ein- 
richtung. 

So hangt Falschheit wie Wahrheit einer V ernunfterkenntnis 
in letzter Linie von einem logischen Schlufiakt oder Syllogismus 
ab. Es mufite nun fur die Skepsis von hohem Werte sein, dem 
logischen Schlufiverfahren scharf auf den Leib zu rucken und zu 
zeigen, dafi ein Beweisen und Begrunden uberhaupt unmoglich 
sei. Damit aber fiele jedes Kriterium fur wahr und falsch im Be- 
reich des vemunftigen Erkennens von selbst dahin, und die Skep- 
tiker h&tten erreicht, was sie wollten, namlich die Einsicht er- 
wiesen, dafi wir auch durch das Denken sowenig wie durch die 
Sinne , liber die Beschaffenheit der Dinge irgend etwas mit Sicher- 
heit auszusagen vermdgen. In der Tat haben sie denn einige ihrer 
scharfsinnigsten Bemuhungen gegen das Schlufiverfahren und die 
logische Begrundung gerichtet. 40 ) 

Sieht man sich eine beliebige Begrundung, etwa in ihrer ein- 
fachsten Form, dem dreigliedrigen Schlusse naher an, so stellt sich das 
Triigerische eines solchen Verfahrens nach dreiSeiten hin heraus: 41 ) 
i. Eine bestimmte Erkenntnis lafit sich niemals durch einen 
einzigen Schlufi begrunden, sondem nur durch eine unendliche 
Anzahl von Schlufifolgerungen, deren letztes died sie ist. Als 
letzter Ring hangt sie an einer unendlichen Kette. Bleiben wir, 
um der historischen Darstellung etwas die Trockenheit zu nehmen, 
bei unserem Beispiel aus der Gegenwart Der Begriff der elektrischen 
Strafienbahnen wird unter den allgemeineren der Verkehrserleich- 
terung als ein Teil desselben subsumiert Was also von Verkehrs- 
erleichterungen im allgemeinen gilt (namlich, dafi sie eine wohl- 
tatige Einrichtung sind), gilt auch von den elektrischen Strafien- 
bahnen im besondem. Die Skepsis behauptct nun, dafi in Wahrheit 
die Einsicht von der wohltatigen Einrichtung der elektrischen 
Strafienbahnen nicht so einfach und unmittelbar aus der Einsicht 
in die wohltatige Einrichtung alter Verkehrserleichterungen, viel- 



Zweites Kapitel. Die DarsteUung des griechischen Skeptizismus. 63 


mehr nur aus unendlich vielen und also unvollziehbaren Einsichten 
zu gewinnen sei. Denn wahr und iiberzeugend kann der Satz 
von der wohltatigen Einrichtung der Strafienbahnen, wie wir eben 
sahen, nur dann sein, wenn auch das allgemeine Prinzip , das den 
Begriff der Verkehrserleichterungen unter den Begriff der wohl- 
tatigen Einrichtungen subsumiert, wahr ist. Dieses aber ist als 
eine Vemunfteinsicht nur dann wahr, wenn auch es seinerseits 
begrundet, und also in der Form strenger Schlufifolge aus einem 
noch allgemeineren Prinzip abgeleitet ist. Etwa in der Art: 

Alles, was den Wohlstand einer Stadt hebt, ist eine wohltatige 
Einrichtung. 

Nun heben alle Verkehrserleichterungen den Wohlstand einer Stadt. 

Also sind alle Verkehrserleichterungen wohltatige Einrichtungen. 

Damit> aber auch dieser Satz wahr sei, mufi sein Obersatz: 
alles, was den Wohlstand einer Stadt hebt, ist eine wohltatige 
Einrichtung, wieder durch einen noch allgemeineren, dieser durch 
einen noch allgemeineren Obersatz und so ins Unendliche fort, 
begrundet sein. Und die Wahrheit unserer Erkenntnis, dafi die 
elektrischen Strafienbahnen eine wohltatige Einrichtung sind, hangt 
somit wirklich an einer unendlichen Schlufikette. Denn ist auch 
nur ein Ring in derselben mangelhaft, so stiirzt das Schlufiglied 
seinem logischen Werte nach in sich zusammen. Nun kann aber — 
so niitzte die Skepsis diesen logischen Tatbestand in ihrem Sinne 
aus — niemand sich von der Wahrheit einer unendlichen Reihe 
von Grunden und Folgen Iiberzeugen, also auch nicht von der 
Wahrheit des Schlufisatzes. Es bleibt somit dahingestellt, ob 
der Satz, dafi die elektrischen Strafienbahnen eine wohltatige Ein- 
richtung sind, wahr oder falsch ist. Diese eigentumliche Art des 
Schlufiverfahrens nannte der Skeptiker treffend : die ins Unendliche 
hinaustreibende , tor eig aneipov ixfidXXovra rporcov. 

Auch hier haben wir es nicht mit einer dialektischen Spielerei, 
sondem mit einem sehr erast zu nehmenden Einwand gegen die 
Kraft der logischen Erkenntnis zu tun — einem Einwand, den selbst 
noch ein Kant in seinem metaphysischen Skeptizismus in vertiefter 
Weise verarbeitet hat. 

2. Als eine Art Korrolarium dieser ersten antilogischen These, 
aber von den Skeptikern doch als selbstandiger Einwand gegen 
das Schlufiverfahren geltend gemacht, ist folgende Erwagung: Sieht 
man auf die Begriindungen, die fur eine bestimmtc Erkenntnis 




64 Enter Abschnitt Die griechische Skepsis. 

gang und gabe sind, so wird man beobachten, dass die Leute 
sich nicht schon gewissermafien in erster Instanz beruhigen. Man 
pflegt der Frage nach dem Warum nicht sogleich aus dem Wege 
zu gehen. Man ist gewillt, in der Wissenschaft und im Leben 
seine Pramissen selbst noch durch allgemeinere Einsichten zu be- 
grunden. Aber an einem bestimmten Punkte (da man sich nicht 
ins Onendliche hinaustreiben lassen will) pflegt man still zu stehen. 
Von einer bestimmten Erkenntnis als von einer selbstverstandlichen 
Voraussetzung wird ausgegangen. So wird man sich in unserem 
Beispiel etwa noch nicht damit begnugen , die wohlt&tige Ein- 
richtung der Strafienbahnen aus der Wohltitigkeit alter Verkehrs- 
erleichterungen abzuleiten, sondem man wird fur diesen Satz selbst 
noch die hdhere Sanktion in dem allgemeineren Prinzip suchen, 
da 6 alles, was den Wohlstand einer Stadt hebt, wohltatig ist 
Aber hierbei beruhigt man sich auch vollstandig. Von dieser Vor- 
aussetzung geht man aus. 

Nun sagt die Skepsis: Eine Voraussetzung ist keine Begrun- 
dung; wenn sie das ware, warum nicht gleich den strittigen und 
zu begrundenden Satz unbegrundet als wahr voraussetzen? Ob 
die Zuflucht zu einem unbegriindeten als selbstverstindlich ange- 
nommenen Satze gleich hier geschieht, oder erst zwei, ja zehn 
Glieder hoher in der logischen Kette, ist gleichgultig; ist dieses 
zehnte Glied unbewiesen , so ist auch der Erkenntniswert des 
letzten Gliedes in Frage gestellt. „Und wenn das Voraussetzen 
etwas zur Beglaubigung hilft, so soil er das Gesuchte selbst vor- 
aussetzen und nicht etwas anderes, wodurch er eben das Ding 
begrunden will, von dem die Rede ist; wenn es aber widersinnig 
ist, das Gesuchte vorauszusetzen, so wird es auch widersinnig sein, 
das Allgemeinere vorauszusetzen." 41 ) 

Diese Form, an einem bestimmten Punkte in der Begrflndung 
einzuhalten und etwas unbegrundet vorauszusetzen — eine Methode, 
ohne die unsere Erkenntnisfortschritte im gewdhnlichen Leben und 
in der Wissenschaft unmoglich wSLren, — nannte die Skepsis: die 
hypothetische Form, den Xoyog vitoSstvcog. 

3. Wenn in den beiden vorhergenannten Punkten die Skepsis 
das logische Schlufiverfahren dadurch zu zerstoren suchte, dafi sie 
den Schliefienden vor die Alternative stellte: Entweder du mufit 
fur die einfachste Einsicht, wenn sie begriindet werden soil, eine 
unendliche Anzahl von Schlfissen vollziehen, was unmoglich ist, 
oder aber, wenn du das nicht willst und an einer bestimmten 
Stelle bei einem hypothetisch zugestandenen Satze Halt machst, so 



Zweites Kapitel. Die Darstellung des griechischen Skeptunsmus. 


65 


beweist du nichts, da eben alles von der Begrundung dieser Hypo- 
these abhangt; — so bemuht sie sich, an einem dritten bedeutenden 
Einwande darzulegen , dafi das Schlufiverfahren sich notwendig in 
einem ganz kleinen zwischen Obersatz und Schlufisatz laufenden 
Kreise bewege. Es lafit sich namlich der Obersatz nur dadurch 
als wahr erweisen, dafi er durch den Schlufisatz , der aus ihm be- 
wiesen werden soli, seinerseits bewiesen wird. Wir drehen uns 
also vollstandig im Zirkel. Denn das, was eine Annahme be- 
weisen soil, kann seinerseits nur durch diese Annahme bewiesen 
werden. Nochmals nehmen wir unser Beispiel in Anspruch. In 
■dem Schlufi: „Alle Verkehrserleichterungen sind eine wohltatige 
Einrichtung; die elektrischen Strafienbahnen erleichtem den Verkehr, 
also sind die elektrischen Strafienbahnen eine wohltatige Ein- 
richtung !“ ist der letzte Satz aus dem Obersatz, dafi alle Verkehrs- 
erleichterungen wohltatige Einrichtungen sind, erwiesen. Wie aber 
kann man den Satz, dafi alle Verkehrserleichterungen wohltatige 
Einrichtungen sind, seinerseits nur streng begriinden? Doch nur 
so, dafi man nachweist, dafi jede Verkehrserleichterung, etwa die 
Post, der Telegraph, die Droschken usw. wohltatige Einrichtungen 
sind. Zu alien Verkehrserleichterungen gehoren ersichtlich auch 
die Strafienbahnen ; auch deren Wohltatigkeit mufi also erst erwiesen 
werden, ehe der Satz: „ Alle Verkehrserleichterungen sind wohltatige 
Einrichtungen* 1 feststeht. So beweist die Wohltatigkeit der Strafien- 
bahnen ihrerseits erst die Wohltatigkeit aller Verkehrserleichterungen 
und wird auf der andern Seite aus dieser Wohltatigkeit aller Erleich- 
terungen selbst bewiesen. Der Zirkel ist oifenbar. Das Beispiel, das 
■die Skepsis zur Erlauterung zu geben pflegte, lautet: Jeder Mensch 
ist ein Tier; Sokrates ist ein Mensch, also ist Sokrates ein Tier. 
Der Obersatz, dafi jeder Mensch ein Tier sei, scheint nur daraus 
erweisbar, dafi jeder einzelne Mensch, also der Plato, der Dio 
und auch der Sokrates ein Tier sei. Und nachdem so die Tier- 
heit des Sokrates Beweisstiick gewesen, wird sie am Schlufi Be- 
weisergebnis. 43 ) Diese Eigentumlichkeit am Schliefien nannten die 
.Skeptiker die des Durcheinander, die Diallele, tponog StaXXr/Xog. 

Es wurden die Argumentationen der Skeptiker gegen das 
beweisende und begriindende Erkennen an der einfachsten Form 
desselben, am diirren Schema des schulmafiigen Syllogismus exem- 
plifiziert. Selbstverstandlich dehnte sie die Skepsis auf alles Be- 
weisen und Begriinden iiberhaupt aus. Denn auch die Beweise der 
Wissenschaft sind, soweit sie logische Begriindungen sein wollen, 

Richter, Skeptuismus. C 



66 


Enter Abschnitt. Die griechische Skepns. 


nichts anderes wie ein Komplex zahlreicher ineinandergreifender 
Schliisse, ein System von Schlussen. 44 ) Hatten die Skeptiker also mit 
den Einwanden, die wir eben kennen gelernt, recht, so waren sie 
auch im Recht, dieselben gegen die wissenschaftlichen Erkenntnisse 
geltend zu machen. 

Die dogmatischen Philosophen, so sagten sie zum Beispid, 
mussen ihre Ansichten uber die BeschafTenheit der Dinge, etwa 
dafi diese aus Atomen bestehen, begrunden; die Begrundung aber 
durch eine hohere Begrundung, diese durch eine noch hohere usw. 
So werden sie nicht in die Enge, sondem in die unendliche Weite 
getrieben. Oder aber sie machen irgendwo Halt und berufen sich 
auf eine ungewisse Voraussetzung, wie etwa die Zweckmafiigkdt 
der Natur, so lafit der Skeptiker diese Voraussetzung nicht gelten, 
stellt ihr die entgegengesetzte gegenuber und jagt so den Dog- 
matiker von seinem Ruhepolster. Oder endlich, ein dogmatischer 
Philosoph, wie Aristoteles, verteidigt die Ansicht, dafi die Tapfer- 
keit eine Tugend sei, mit der Begrundung, die Tugend bestehe 
in der rechten Mitte zwischen den Extremen, die Tapferkeit aber 
halte die Mitte zwischen der Tollkuhnheit und der Feigheit — so 
halt ihm der Skeptiker entgegen: Du drehst dich im Kreise; denn 
dafi die allgemeine Tugend das mafivolle und mittlere Verhalten 
sei, kannst du wiederum nur damit begrunden, dafi jede einzelne 
Tugend, und zu den einzelnen Tugenden soil ja auch die Tapfer- 
keit gehoren, die Mitte zwischen den Extremen halt. 

Was wir soeben kennen gelernt, ist der gehaltvollste Tdl 
von der Polemik, die die Skeptiker gegen die logischen Operational 
der Vemunft untemommen haben. Dagegen treten ihre ubrigen 
Bemiihungen auf diesem Punkte in den Hintergrund. Nur einige 
Beispiele davon, welche die Skepsis der spateren Zeit gut charak- 
terisieren. 46 ) So suchte man die Kraft aller Beweisfuhrung auf 
folgende Weise abzuschwachen: Ein Schlufi ist noch kein Beweis. 
Schliefie ich: wenn Tag ist, ist Licht, nun aber wird Weizen auf 
dem Markte verkauft, folglich geht Dion spazieren, so wird das 
niemand fur einen Beweis halten. Damit ein Schlufi beweisend 
sei, mufi die Konklusion auch wirklich aus den Pramissen folgen. 
Das nannten die Alten einen schltissigen, bundigen, gesunden 
Syllogismus, einen Xoyog (fwaxrixog, vyifc. Das ist die erste 
Bedingung, aber nicht die einzige. Wenn ich z. B. in diesem 
Augenblick bei Tage schliefie: wenn Nacht ist, ist Finstemis; nun 
ist jetzt Nacht, also ist jetzt Finstemis, so ist damit wieder nicht 



Zweites Kapitel. Die Darstellung des griechischen Skeptizismus. 


6 7 


bewiesen, dafi es jetzt finster ist; und doch ist die Verknupfung 
der Glieder logisch vollig korrekt. Es ist zum Beweis erforderlich, 
daft, wie wir uns heute ausdrficken wiirden, die Schlufiglieder nicht 
nur formal richtig verkniipft, sondem auch inhaltlich wahr sind. Daft 
jetzt Nacht ist, ist eine inhaltlich falsche Pramisse, die naturlich den 
ganzen Schlufi in sich zusammensturzen lafit. Aber auch ein formal 
und inhaltlich richtiger Schlufi ist noch kein Beweis, sondem nur 
solche Schlusse, die etwasNichtoffenbares, ein adtfXor aus Ganzoffen- 
barem herleiten. Denn das Offenbare und Bekannte bedarf keines Be- 
weises. Soware es lacherlich, durch den material und formal korrekten 
Schlufi: wenn Tag ist, ist es hell, nun ist jetzt Tag, also ist es hell, 
die Helligkeit, die ja vor aller Augen liegt, beweisen zu wollen. 

Wohl aber ist ein Beweis die Folgerung, die zugleich als 
charakteristisches Anzeichen fur die Verquickung von Medizin und 
Skepsis in der damaligen Zeit gel ten kann: Wenn Schweifiabson- 
derungen durch die Hautoberflache fliefien, so gibt es durch das 
Denken erfafibare Poren, ror/tol nopot . Nun aber fliefien Schweifi- 
absonderungen durch die Oberflache; also gibt es fur das Denken 
erfafibare Poren. Denn der Schlufisatz, dafi es Hautporen gibt, 
ist eine Erkenntnis, die nicht vor aller Augen liegt, ein aStfXor . 
Nachdem die Skepsis auf solche Weise in ermudender Schwer- 
falligkeit umstandlich nach stoischen Vorbildem auseinandergesetzt 
hat, w ns eigentlich ein Beweis ist, geht sie daran, dessen Fun- 
damente zu untergraben. Gleich die ersten beiden Bedingungen 
des Beweises naturlich sind unerfullbar. Die Schlusse in einem 
Beweis miissen gesund, bundig, d. h. formal richtig und material 
wahr sein. Beides ist niemals mit Sicherheit herzustellen. Denn 
sieht man bereits ab von den Meinungsverschiedenheiten der Phi- 
losophen iiber die Regeln des Schliefiens und davon, dafi, wo die 
Norm, das pirpov, nicht feststeht, auch das zu Normierende, to 
petpovperov, nicht feststehen kann, 46 ) so mufi, um zu entscheiden, 
ob ein Schlufi wirklich formal folgemd ist, der Entscheidende 
selbst einen Beweis antreten, dafi seine Rede aus den und den 
Griinden schlussig oder unschliissig, richtig oder fehlerhaft in der 
Form ist. Das konnte er aber nur, wenn sein eigener Beweis 
auf formal richtigen Schliissen beruht. Er bedient sich also des 
zu Beweisenden in Form eines bestimmten Schlufischemas, das 
er fur korrekt halt, in seinen Beweisen, beweist also das Ergebnis 
mit Hilfe des Ergebnisses und dreht sich im Kreise. Ebensowenig 
lafit sich die zweite Voraussetzung eines Beweises, die materiale 

5 * 



68 


Enter Abschailt. Die griechische Skepsis. 


Wahrheit von Schliissen, erfullen. Denn entweder ist der Ober- 
satz material richtig und wird von alien zugestanden (wenn Tag 
ist, ist Licht) so dafi mit dem Begriff „Tag“ sofort auch die Eigen- 
schaft „Licht“ gegeben ist; dann leidet der ganze Syllogismus an 
Oberflufi, an der icapoXxrj. Die eine Pramisse: wenn Tag ist, 
ist Licht, scheidet als uberflussig aus und der Schlufi verlauft 
zweigliedrig. Es ist Tag, folglich ist Licht Damit aber ware 
das Wesen des logischen Schlusses nach Ansicht der meisten 
Logiker 47 ) erschiittert. Oder die materiale Wahrheit des Ober- 
satzes ist problematisch. Dann ist sie selbst begrundungsbedurftig 
und alles gegen Beweis und Begrundung Gesagte trifft auch sie. 
Endlich kann unmoglich etwas Nichtoffenbares durch Beweis ent- 
hiillt werden, wie doch von den Logikem verlangt wird. Denn 
die Konklusion besteht nur in Relation zu den Pramissen, steckt 
implicite in diesen. Sind also die Voraussetzungen einleuchtend, 
so kann der Schlufisatz, der in ihnen steckt, kein adijXov, also 
auch nichts Beweisbediirftiges sein. Sind aber die Voraussetzungen 
selbst dunkel, „so wird ein solcher Beweis dessen, was ihn be- 
weisen soil, mehr bediirfen, als daG er anderes zu beweisen fahig 
sein wird. 48 ) Er wird selbst dessen bediirfen, was ihn enthullen 
soli und wird nicht anderes enthullen. “ 49 ) 

Bis jetzt haben wir es mit der Untergrabung des wissenschaft- 
lichen Verfahrens zu tun gehabt, insoweit es auf den logischen 
Operationen des Schliefiens und Beweisens in letzter Linie beruhte. 
Aber noch auf anderm Wege glaubte man im Altertum die wirkliche 
Beschaffenheit der Dinge wissenschaftlich erkennen zu konnen. 
Man brauchte ein Ding ja nur in alien seinen Einzelheiten genau 
zu definieren, um sich fiber seine wahre Beschaffenheit zu unter- 
richten. Insonderheit waren es wieder die Erzfeinde der Skeptiker, 
die Stoiker in der damaligen Zeit, die in ihrer schwerfalligen und 
ubergriindlichen Weise sich durch eine wahre Definierwut aus* 
zeichneten. Die relative Nutzlosigkeit aller Definitionen darzutun, 
hatte der Skeptizismus hier leichtes Spiel. 50 ) Wenn man namlich 
vermeint, durch Definitionen ein Ding wirklich besser zu erkennen, 
so ist man gewaltig im Irrtum befangen. Wer etwas erkliren 
will (z. B. den Menschen, oder das Pferd, oder den Hund) kann 
es doch nur dann erklaren, wenn er es kennt. Nur wenn er 
schon weifi, dafi der Mensch sterblich und vemunftig ist, kann 
er ihn als sterbliches verniinftiges Wesen definieren. So wird das, 
was erklart wird, nicht durch die Erklalrung erfafit, sondem diese 



Zweites KapiteL Die Darstellung des griechischen Skeptixismus. 


setzt sich vielmehr auf Grund vorher erkannter Eigenschaften zu- 
sammen. Ich erfahre in einer Definition also nichts Neues fiber 
die BeschafFenheiten der Dinge, sondem krame in ihr sozusagen 
nur mein vorhandenes Wissen von den Dingen aus. Und wie 
lacherlich, das mit dem Eifer der Stoa zu betreiben! In kostlicher 
Parodie stellt Sextus den furor definiendi der feindlichen Schule 
und dessen lacherliche Hohlheit blofi, indem er einen Menschen 
an einen andem die aus lauter Definitionen der damaligen dog- 
matischen Philosophenschulen zusammengesetzte Frage richten lafit, 
ob er einen gemeinsamen Bekannten zu Pferde in Begleitung seines 
Hundes getroffen habe: „o du vemfinftiges, sterbliches Tier, zum 
Denken und zur Wissenschaft befahigt, ist dir ein lach fahiges, 
breithufiges, fur Staatskunde empfangliches Tier begegnet, das 
auf ein sterbliches, des Wiehems fahiges Tier die Hinterbacken 
aufgesetzt hatte und ein vierfufiiges, des Bellens fahiges Tier hinter 
sich her zog ?“ 

Mehr Scharfsinn aufwenden und tiefere Blicke in das Wesen 
der Erkenntnis tun mufite die Skepsis, wenn sie nicht nur fiber 
die in logischem Formelkram zum Teil erstarrten dogmatischen 
Schulen der Zeitgenossen einen verhaltnismafiig billigen Triumph 
davontragen, sondem auch die klassischen erkenntnistheoretischen 
Leistungen etwa eines Aristoteles zersetzen wollte. Hier hatte sie 
mit einem ganz andem Gegner zu tun; aber auch ihm zeigte 
sie sich gewachsen. Die Ansicht, die sie hier zu bekampfen hatte, 
lafit sich in Kfirze etwa so zusammenfassen: durch die Definitionen 
leme ich natfirlich nicht die einzelnen Dinge erst kennen; Defini- 
tionen sind nur der hochste und scharfste Ausdruck fur meine 
Kenntnisse von den Dingen; die Generalformeln, in die ich mein 
Erkenntnismaterial zusammenfassen kann. Die BeschafFenheiten 
der Dinge aber erkenne ich wissenschaftlich auf zweierlei Weise. 
Einmal indem ich sie aus allgemeinen Erkenntnissen ableite, de- 
duziere; z. B. die Sterblichkeit der Menschen aus der Sterblich- 
keit der Lebewesen ; oder (um unser frfiheres Beispiel zu gebrauchen) 
die Wohltatigkeit der Strafienbahnen aus der Wohltatigkeit aller 
Verkehrserleichtemngen. Das ist die Methode der Deduktion, 
und ihr hauptsachliches Vehikel ist der logische Schlufi. Mit diesem 
Prinzip haben wir sich die Skepsis ja bereits auseinandersetzen 
sehen. Oder aber — und das ist das Wichtige und Neue — ein 
solch allgemeiner Satz, aus dem eine Erkenntnis deduziert werden 
kann , lafit sich nicht auffinden. Dann mfissen Einzelfalle gesammelt 


A 


7o 


Enter Abschnitt. Die griechiscbe Skepsis. 


und auf die in Frage stehende Eigenschaft hin untersucht werden. 
Aus ihnen wird dann die Erkenntnis aufgefuhrt, induziert Das 
ist die Methode der Induktion. Um z. B. zu erkennen, ob dem 
Pferde die Eigenschaft der Warmblutigkeit zukomme, nutzen mir 
allgemeine Satze gar nichts, wenn ich noch nicht weifi, daft alle 
Saugetiere Warmbluter sind. Dann mufi ich also moglichst viele 
Pferde auf ihre Blutwarme beobachten, und wenn ich in alien Fallen 
warmes Blut angetroffen, reift auf induktivem Wege die Erkenntnis: 
das Pferd ist ein Warmbluter. Gegen diese induktive Art der 
Erkenntnis (inayoayri) richtete die Skepsis den triftigen, in spateren 
Zeiten bis auf unsere Tage hinab immer wiederholten Einwand: 5 ' 
die Induktion ist entweder unvollstandig oder vollstandig. Ist sie 
unvollstandig, so kann sie niemals Erkenntnis begriinden. Denn 
wenn ich nicht alle Einzelfalle untersucht habe, z. B. alle Pferde, 
kann ich nicht sicher sein, daft diese Eigenschaft wirklich der 
Gattung (dem Pferde) zukomme, da mir ja morgen ein Einzelfell 
begegnen kann, der die auf unvollstMndiger Induktion erbaute Er- 
kenntnis umstofit. So kann nur vollstandige Induktion Erkenntnis 
und Wahrheit verschaffen. Aber vollstandige Induktion ist wegen 
der Unzahl der Einzeldinge unmoglich (ich kann nicht wirklich 
bei alien Pferden die Blutw&rme messen). So sturzt auch die 
induktive Methode so gut wie die deduktive in sich zusammen 
unter der Last der skeptischen Griinde. 

Diese Kritik der Induktion in ihrer fast verbluffenden Knapp- 
heit von wenigen Zeilen und die gehaltvolleren Argumente gegen 
die Deduktion, gegen Schluft und Beweis, sind neben der Zer- 
setzung der Wahmehmungsaussagen durch die Tropen des Aene- 
sidem in der Tat die bedeutendste Leistung der Skepsis dort, wo 
sie den Angriff gegen die wesentlichen Formen unsrer Er- 
kenntnis richtet. Die Skeptiker selbst haben das auch ein- 
gesehen, und die jiingere Schule hat den wesentlichen Extrakt der 
Aenesidemschen Tropen und die haupsachlichen Griinde gegen 
Schluft und Beweis in nur fiinf Tropen zusammengefaftt, die als 
Quintessenz des griechischen Skeptizismus von Generation zu Gene- 
ration weitergegeben werden konnten. Der Verfasser dieser neuen 
Tropen ist Agrippa, von dem wir schon anlafilich des aufieren 
Verlaufs der skeptischen Schule erfahren haben, daft man nicht 
mehr von ihm weifi, als daft er zwischen Aenesidem und Sextus 
gelebt haben mufi. Agrippa sah richtig, daft in den zehn Tropen 
des Aenesidem der letzte (von dem Widerstreit der Meinungen) 



Z writes Kapitd. Die Dantellung des griecbischen Skeptirismus. 


71 


ganz isoliert stand, dafi sich aber alle andem auf den Tropus 
von der Relativitat der sinnlichen Wahmehxnung zuriickfuhren 
liefien. Und ebenso richtig hat er gesehen, dafi die wesentlichen 
Angriffe auf die Vemunfterkenntnis in den drei Satzen enthalten 
seien: dafi wir bei Schlufi und Beweis uns entweder im Zirkei 
drehen, oder auf den regressus in infinitum geraten, oder bei 
einer unbewiesenen Voraussetzung stehen bleiben. Und so handeln 
denn seine funf Tropen 1. vom Widerspruch in den Ansichten, 
2. von der Relativitat der Wahmehmungen , 3. von dem Zirkei- 
schlufi, 4. von dem regressus in infinitum, 5. von den hypothetischen 
Annahmen. Oder in der Reihenfolge, wie sie die skeptische 
Tradition uns bewahrt hat, und im Urtext: 1. tponoq onto xtf% 
Siatpoovias, 2. tpono% eig anetpov ixfldXkjGOY, 3. tponog ano rov 
7 cpog tt y 4. tpono% vnoServcoz, 5. tponoq StdXktfXog. 51 ) 

Der wichtige Beweis gegen die Induktion konnte in diesen 
Tropen keine Stelle linden, da derselbe vermutlich erst von Sextus 
herruhrt Andere Skeptiker versuchten, die funf Tropen durch 
zwei zu ersetzen, die aussagten: dafi alles entweder durch sich 
selbst oder durch etwas andres aufgefafit werde. Beides aber sei 
unmoglich. Denn aus sich selbst konne nichts aufgefafit werden 
— wegen des Widerstreits der Meinungen uber Denkbares und 
Wahmehmbares; ein Kriterium aber, diesen Widerstreit zu schlichten, 
besitzen wir nicht. Durch ein andres aber kann nichts aufgefafit 
werden; denn dies wiirde entweder durch sich selbst aufgefafit 
(was nach dem eben Gesagten unmoglich) oder durch ein anderes, 
dies durch noch ein anderes usf. Dabei wurden wir wieder ins 
Unendliche hinausgetrieben. M ) Diese Reduktion der funf Tropen 
auf zwei bedeutet zwar eine Vereinfachung, aber keine Verbesserung. 
Denn sie sind so allgemein gehalten, dafi die Eigentumlichkeiten 
der griecbischen Skepsis nicht mehr recht darin zur Geltung 
kommen. 

Wie die Skepsis ihrer Kritik der sinnlichen Funktionen in 
der Weise des Widerspruchs noch einen allgemeinen Trumpf gegen 
jede Wahrheitserkenntnis angehangt hatte, so bergen auch ihre 
Versuche, die logischen Prozesse zu verdachtigen, in ihrem all- 
meinsten Teile Elemente, die ihre Spitzen gegen jedwede Er- 
kenntnismdglichkeit gerichtet haben. Es sind die Partien, in denen 
man die Existenz eines Erkennungszeichens der Wahrheit, 
welcher Art auch immer, leugnet und schliefilich die Berechtigung 
des Wahrheitsbegriffs in dessen ganzem Umfange in Frage stellt. 


72 


Enter Abschnitt. Die griechijche Skeptis. 


Es gibt kein Kriterium der Wahrheit. 54 ) Denn wie sollte 
es sich zunachst ganz allgemein feststellen lassen? Die verschiedenen 
Philosophen sind bier verschiedener Ansicht. Diese sehen das 
Wahrheitskriteriuni in ganz etwas anderem wie jene und einige, 
wie wir Skeptiker, lassen seine Existenz dahingestellt Soli hier 
eine Entscheidung getroffen werden, so sind die einzelnen An- 
sichten uber das Kriterium auf ihren Wahrheitsgehalt hin zu prufen. 
Priifen, xpivetv, konnen wir aber nur, indem wirirgend ein Prufungs- 
mittel , ein xprrrjptov besitzen. Doch dann beweisen wir die Gultigkeit 
des Kriteriums durch die Gultigkeit des Kriteriums und geraten in die 
Weise des Durcheinander. So mufi dieses Kriterium seinerseits 
wieder bewiesen werden mit Hilfe eines andem Kriteriums, dieses 
wieder durch ein anderes und so ins Unendliche fort. Der rpoxog 
dg ansipov IxfiaWoor , der regressus in infinitum, ist eingetreteiu 
Aber wenn man sich auch durch diese allgemeinen Erwagungen 
nicht abhalten lassen wollte, nach dem Kriterium der Wahrheit 
zu forschen, so laflt sich ein solches aus ganz anderen Grunden 
niemals mit Sicherheit gewinnen. Die drei Fragen, auf welche 
die Untersuchung hier gerichtet sein wurde, sind schlechterdings 
unentscheidbar. Es ist nicht auszumachen: 

1. wer, welches urteilende Subjekt Kritiker, Richter uber die 
Wahrheit sein, von wem, txpov , geurteilt werden soil; 

2. die Tatigkeit, durch welche, St ov 

3. die Norm, mittels welcher, xa& o, das Subjekt durch seine 
Funktion entscheiden soli. 

Um in skeptischen Bildern Unbekanntes durch Bekanntes zu 
erlautem: Es handelt sich um die Auffindung der drei ausschlag- 
gebenden Faktoren bei der Feststellung von wahr und falsch, die 
in der Gewichtsmessung dem Wagenden, der Wage und der 
Stellung des Balkens entsprechen. Denn wer soil, um den ersten 
Punkt kurz zu beriihren, hier der Urteilende sein? Der Mensch? 
Aber das ist schon eine unbewiesene Annahme. Denn einmal haben 
wir gesehen, daft Menschen und Tiere nach den Lehren der 
Skepsis nicht so prinzipiell Verschiedenes sind, wie die Dogmatiker 
behaupten; dann aber auch sind die Philosophen sich nicht im 
mindesten einig, was unter dem Menschen zu verstehen ist. Nach 
Demokrit ist er in Wahrheit nur „einKomplexqualitatsloser Atome“, 
nach Plato „ein ungefliigeltes, breithufiges, zweifufiiges, fur staat- 
liche Wissenschaften empfangliches Tier. 1 * 65 ) Aber auch wenn 
man den Menschen als klar umrissene Gattung sich denken konnte* 


Zweites Kapite). Die Dantellung des griechischen Skeptizismus. 


73 


wer von den Menschen soil uber das Kriterium der Wahrheit 
urteilen? DerWeise? Welcher Weise, da sie alle untereinander im 
Widerspruch stehen? Und wird nicht immer ein noch Weiserer 
in Zukunft sich denken lassen, der wieder anders entscheidet? 
Aber warum uberhaupt der Einzelne und nicht die Masse? Wenn 
wir nun der Masse das Urteil uber „wahr“ und „falsch“ in die 
Hand geben, gleich erhebt sich der Einwand: wie, wenn die 
Wahrheit der Majoritat der Durchschnittsmenschen sich nicht ent- 
hiillte und nur dem feiner und tiefer Blickenden verstandlich ware? 
Aber auch durch die Sum me ihrer Angehorigen, durch die An- 
zahl kann die Masse nicht iiberzeugender wirken als der einzelne. 
Ihr quantitatives Moment wiegt so leicht wie das qualitative. Denn 
wenn man sich an die Obereinstimmung der Mehrzahl in der 
Aussage uber das Wahrheitskriterium hielte, so triige man ja 
gar nicht vielen , sondem nur einer einzigen bestimmten gleichen 
Seelendisposition Rechnung. Da man angenommenermafien auf 
der Obereinstimmung des Verhaltens auf dem strittigen Punkt fuflt, 
so traten sich nicht mehr einzelne und viele, sondern die ein e gleiche 
Seelendisposition der Menge und die andere Seelendisposition 
des Einzelnen gegeniiber und die Chancen stunden wieder gleich. 
Denn warum dem einen vor dem andern den Vorzug geben? 

Mit dem ersten Punkt ist aber eigentlich die ganze Frage 
schon entschieden. 66 ) Denn wenn wir kein urteilendes Subjekt 
haben, so auch keine Funktion, mit der, keine Norm, nach der es 
urteilen kann. 

Aber zum Oberflufl stromen die Gegengriinde gegen eine 
mogliche Angabe des Kriteriums noch besonders reichlich. Gibt 
man den Gegnern auch ruhig zu, irgend ein Mensch, den sie be- 
stimmen mogen, solle das urteilende Subjekt in unserem Falle sein, 
so treibt man sie durch die Frage: mit welcher Erkenntnis- 
tatigkeit soil es entscheiden? vollends in die Enge. Durch 
die Sinne? durch die Vernunft? durch beides? Alle drei Falle sind 
ausgeschlossen. Dafl die Sinne nicht in der Lage sind, die wirk- 
liche Beschaffenheit der Dinge zu erkennen, ist in den neun ersten 
Tropen ausfuhrlich dargetan worden. 67 ) Aber auch das Denken nicht. 
Denn es steht, genau wie die Sinne, durchweg im Widerspruch 
mit sich selbst. Das Denken im Gorgias sagt aus: nichts sei wahr,. 
das des Heraklit: alles sei wahr, das anderer: manches sei wahr. 
Oberdies war die Leistungsunfahigkeit der logischen Operationen 
vorher entwickelt worden. 58 ) Ebensowenig kann die Vereinigung 


74 


Enter Abscbnitt. Die griechische Skepsis. 


von Sinnen und Verstand uber wahr und falsch zu Gericht sitzen. 
Denn zwei triigerische Zeugen geben zusammen nicht einen wahren. 
Und das um so weniger, als sich die Sinne oft als im Widerspruch 
mit der Vemunft befindlich erweisen. 

Und was endlich den Nachweis von der Unmoglichkeit einer 
Norm, nach der die Wahrheit erkannt werde, anlangt, so hat sich 
hier die Skepsis mit allem Scharfsinn gegen die auf diesen Punkt 
gerichteten Ansichen der Stoiker gewendet. Diese namlich batten als 
die Norm der objektiven Wahrheit die unmittelbare Evidenz einer 
Wahmehmung hingestellt, die <parra6ia xataXrf7tttxrf 9 namlich die 
„greifbare Vorstellung", die sich den Beifall desSubjekts erzwingt**) 

Die Bestreitung dieses Wahrheitskriteriums von seiten der 
Skepsis birgt Gesichtspunkte allgemein philosophischen Interesses. 
Abgesehen davon, dafi die grobmaterialistische Anschauung der 
Stoa, die sinnliche Wahmehmung sei ein Abdruck in der Seele, 
ein unvollziehbarer Gedanke ist, konnen wir uberhaupt niemals 
in den sinnlichen Wahmehmungen irgend etwas von einer an sich 
bestehenden Realitat erfahren. Denn in ihr sind mir immer nur 
eigene Bewufitseinszustande (7ra$Tj) gegeben, die von dem realen 
Substrat (dem vnoxeijMevov) naturgemafi verschieden sind. „Denn 
es ist der Honig nicht dasselbe wie mein Sufiempfinden, und der 
Wermut wie mein Bitterempfinden, sondern unterscheidet sich da- 
von. Wenn aber dieser Zustand sich unterscheidet von dem 
aufieren Substrat, so wird die Wahmehmung durchaus nicht die 
des aufieren Substrats, sondern eines andem, davon Unterschiedenen 
sein.“ — Sowenig wie eine einzelne Wahmehmung Wahrheitskri- 
terium fur Aussagen liber objektive Realitaten sein kann, sowenig 
die logische Bearbeitung dieser Wahmehmung, wie spatere Stoiker 
wollten. Denn an die objektive Realitat kann ich allein durch das 
Denken nie herankommen. Ich kann also auch nicht etwa 
schliefien, die Sinneswahmehmungen seien den Dingen ahnlich, 
deren Natur sowohl den Sinnen wie dem Denken verschlossen 
bleibt. Etwas von den realen Dingen durch die gedankliche Deutung 
der Sinnesempfindung erkennen , ist genau sowenig angangig, wie 
von einem Bildnis des Sokrates durch gedankliche Deutung dieses 
Bildes die Ahnlichkeit oder Un&hnlichkeit mit dem unbekannten 
Manne zu behaupten. — Dazu fugten die akademischen Skep- 
tiker noch im einzelnen folgendes: 60 ) Es unterscheiden sich die 
evidenten Sinneswahmehmungen, die wahr sein sollen, in nichts 
von den evidenten Sinneswahmehmungen, die falsch sind. Es gibt 



Zweites Kapitel. Die Dantellong des griechischen Skeptizismus. 


75 


also kein inneres Merkmal (Idiao/ux), durch das die eine Wahrneh- 
mung sich als falsch, die andre as wahr kund gabe. Die Vor- 
stellungen des Traums unterscheiden sich oft in nichts von den- 
jenigen des Wachens: der Charakter der zwingenden Greifbarkeit 
kommt meiner Vorstellung von dem erfrischenden Trunk, von dem 
ich traume, genau so zu, wie deijenigen von dem Trunk, den 
ich wirklich einnehme. Und doch ist die erstere falsch. Im Affekt 
unterliegen wir nicht selten dem Zwang falscher Wahrnehmungen, 
der Gefahr dessen, was wir heute als Illusionen und Halluzinationen 
bezeichnen. Herkules hielt seine eigenen Kinder so sicher fur 
diejenigen des Eurystheus, dafi er den Bogen auf sie spannte! 61 ) 
Wenn wir zwei sehr ahnliche Gegenstande miteinander verwechseln, 
zwei Zwillinge, zwei Eier, zwei Schlangen, so fiihrt die (falsche) 
Vorstellung des Eies Nr. i, das ich fur das Ei Nr. 2 halte, genau 
die gleiche Oberzeugungskraft mit sich, wie die (richtige) Vorstel- 
lung des Eies No. 1 , das ich fur das Ei Nr. 1 halte. 

Das wichtigste Wahrheitskriterium (xa$* o) war nach allgemeiner 
Ansicht fur Aussagen uber die objektive Realit&t die sinnliche 
Wahmehmung oder die gedanklich gedeutete Sinneswahmehmung 
gewesen. Vergessen wir einmal — meint dazu Sextus — was wir 
soeben eingewandt haben, und gehen wir, die Gultigkeit der wider- 
legten Ansichten dabei voraussetzend, zu jenem Wahrheitskriterium 
2 . Grades, wie man es nennen konnte, uber, um ja nichts von 
dem ununtersucht zu lassen, worauf die Dogmatiker Gewicht 
legen. 6 *) Die <pavta6iai sind ein Erkennungszeichen der Wirk- 
lichkeit und berechtigen uns zu wahren Aussagen uber dieselbe, 
wie etwa: jetzt unterhalte ich mich; jetzt ist Tag. Aber es gibt 
in der objektiven RealitSt eine Menge Verhaltnisse, Eigenschaften 
und Dinge, die uns grundsatzlich niemals durch eine Sinneswahr- 
nehmung und uberhaupt niemals unmittelbar kund gegeben werden 
konnen. Das sind die aSrfXa <pv6si> das fur unsre Natur nicht 
Offenbare: 63 ) so etwa die Poren im menschlichen Korper, der 
Raum jenseits der Welt. Besitzen wir nun eine Moglichkeit, auch 
fiber diese a6r/Xa <pv6si Aussagen zu machen, und gibt es auch 
fur diese Aussagen ein sicheres Kriterium der Wahrheit? Darauf 
hatte man in der Stoa geantwortet: Gewifi; ein solches Kriterium 
besitzen wir. Es beruht auf einer Ausdeutung der <pavta6iai , die 
allerdings stets das letzte Kriterium bilden, und in deren Aussagen 
wir alle Wahrheit uber objektive Realitat verankem mussen. Aber 
fur diese Verankerung selbst gibt es ein ganz eigenes gedankliches 



76 


Enter Abschnitt Die griechische Skeptb. 


Mittel, ein eigenes Kriterium, wie sie fehlerlos vorzunehmen seL 
Dies Kriterium heiflt das anzeigende Zeichen, to 6ffpdov 
Iv6eixnx6v. E s besteht im wesentlichen in dem korrekten Schlufi- 
verfahren, durch das man aus einem npodrjXov — d. h. also dort, 
wo es sich um objektive Realitat handelt, aus einem den Sinnen- 
aussagen entnommenen Urteil — iiber die Natur der <pv6tt aSrjXa 
wahre Folgerungen zieht Das Zeichen ist dabei der Vordersatz 
eines hypothetischen Urteils, das Bezeichnete (tirjjisiartov) die End- 
aussage uber einen nie erfahrbaren Teil der objektiven Wirklich- 
keit, das Bezeichnen der Akt des logischen Prozesses. — Beispiel 
wenn ein Korper sich willkfirlich bewegt, besitzt er eine Seele. 
Hiergegen machte die Skepsis vor allem gel tend, nachdem sie die 
epikuraisch - sensualistische wie stoisch - rationalistische Auffassung 
von der Natur des Zeichens zurfickgewiesen, dafl das tiTfjieu&rov nur 
dann durch das Orfpeiov bekannt werden konne , wenn es bereits 
in diesem enthalten sei, also keines Zeichens bedfirfe. Aber da- 
mit wiederholt sie nur einen ihrer Einwande gegen die Bedeutung 
und Gtiltigkeit des Schliefiens und Beweisens, wie sie denn auch 
alle ihre fibrigen Bedenken gegen die logischen Prozesse hier nocb 
einmal gel tend macht. Sind doch Schlufi und Beweis selbst die 
vomehmsten tirjpeia, wenn sie unter den Gesichtspunkt gestellt 
werden: etwas unmittelbar nie Wahrzunehmendes in seinen Eigen- 
schaften erkennen zu wollen. 64 ) 

Steigt man zum Schlufi noch auf den hochsten Gipfel dieser 
gegen das vemunftige Erkennen vorgeschobenen Bollwerke, auf 
denen der Wahrheitsbegriff als solcher einer vernichtenden 
Kritik unterzogen und aus ihr das Wesenlose aller Wahrheit ge- 
folgert wird, 65 ) so gelangt man in Hohen der Allgemeinheit, auf 
denen die dunne Luft der Abstraktion dem Geist kaum mehr zu 
atmen erlaubt. Ein wirkiicher Stoff wird dem Denken hier nicht 
mehr geboten. Die Skeptiker selbst waren freilich anderer Meinung. 

Sie glaubten nicht eine Seifenblase zerstort, sondern den „Mauer- 

« 

grund“ umgerissen zu haben, mit dem auch das Dariiberliegende 
(die einzelnen Wahrheiten) mit umgerissen wird. Wahrend wir 
uns mit der ermudenden und rein formalen Anwendung der 
drei logischen Tropen auf das Urteil: es gabe Wahrheit, ebenso- 
wenig aufhalten wollen wie mit dem Widerspruch der Meinungen 
iiber und den dialektischen Sophismen gegen dasselbe, stellen 
wir die allein ernst zu nehmende Argumentation Aenesidems 
in Kiirze dar, 6c ) die von einigen Historikem zu den glanzendsten 



Zweites Kapitel. Die Darstellung des griediischen Skeptizismus. 


77 


Einfallen der Skepsis gerechnet wird: das Wahre ist entweder 
etwas Sinnliches oder etwas Begriffliches, oder beides zugleich. 
Es ist aber nichts von alledem; also gibt es keine Wahrheit 
Nichts Sinnliches; denn wer wollte den Sinn namhaft machen, 
durch den man die Wahrheit erfafit? Nichts Begriffliches; denn 
•es wird nicht von alien das Gleiche mit der Vemunft fur wahr 
erklart. Von einigen kann es aber auch nicht erkannt werden, 
wie der Widerspruch der anderen beweist. Nicht sinnlich und 
begrifflich zugleich; denn alles Sinnliche und Begriffliche kann 
nicht wahr sein, weil Sinnliches mit Sinnlichem, Begriffliches mit 
Begrifflichem , und Sinnliches mit Begrifflichem oft streitet; einiges 
Sinnliche und einiges Begriffliche aber auch nicht, da eben dariiber, 
welches von beiden wahr ist, der Widerspruch herrscht 67 ) 

Man sieht, hier befinden wir uns schon in Regionen, wo der 
Boden des Tatsachlich-Nachpriifbaren verlassen und jede Fuhlung 
mit dem Konkreten und Einzelnen verloren gegangen ist. Gegen 
die Wahrheit als solche richtet sich der Angriff, ohne Riicksicht 
auf ihre Erscheinung, und man ist sich nicht bewufit, dafl die 
Wahrheit, losgelost von wahren oder falschen Aussagen, ein ab- 
strakter Begriff, eine Hiille ohne Inhalt ist, die man in ihrem 
Kern und Wesen nie treffen und verwunden kann, weil sie kem- 
und wesenlos aller gegen sie gefuhrten Schlage spottet. 

Soviel iiber die Ausfalle gegen das vemunftige Denken (und 
ihre Vereinigung mit den fruheren gegen die Sinneserkenntnis), 
sowie gegen Wahrheitskriterium und Wahrheitsbegriff, soweit sie 
fur den Skeptizismus in der Philosophic allein in Betracht zu ziehen 
sind. Denn, wer historische Vollstandigkeit hier anstreben wollte, 
konnte noch Hunderte von Seiten mit ahnlichen Gedankengangen 
fiillen. Man mufl sich, zumal bei Sextus, oft durch eiriten Wust 
rein formaler Spitzfindigkeiten hindurcharbeiten, ehe man zu dem 
philosophisch Brauchbaren gelangt. Aber mit der Fulle von dia- 
lektisch-sophistischem Beiwerk, durch das die Skepsis auch iiber 
ihre wertvollen Gedanken ein ungerechtes Urteil so leicht hervor- 
ruft, halten wir uns nicht auf. Nur um auch diese Seite von feme 
sehen zu lassen, greife ich ein sehr plumpes und ein sehr feines 
solcher Sophismata heraus. In beiden ist die Skepsis grofi ge- 
wesen, und man kennt sie nicht, wenn man sie nicht ihre stumpfen 
Schlage wie ihre eleganten Hiebe gegen die Gegner hat austeilen 
sehen. So ist ein beliebtes der derberen Sophismen der skep- 
tischen Schule das gegen ein Wahrheitskriterium gerichtete 68 ): wenn 



78 


Enter Abschnitt. Die griechische Skepsis. 


etwas wahr sein soli, d. h. wenn es sich um die Feststellung der 
Wahrheit von etwas handelt, so ist dieses Etwas entweder wahr 
oder falsch oder weder wahr noch falsch, Oder sowohl wahr als 
falsch. Nun ist aber alles, was existiert, ein Etwas, und es mufl 
also, was von dem Etwas gilt, auch von alien Dingen gelten. Alle 
Dinge sind entweder wahr oder falsch, oder weder wahr noch 
falsch, oder sowohl falsch als wahr. Dafi aber jeder dieser Falle 
zum Widersinn fuhrt, leuchtet ein. Denn wenn alles falsch ist, 
ist auch dieses Etwas: alles ist falsch — falsch. Und wenn alles 
wahr ist, ist auch dieses Etwas: nichts ist wahr — wahr. Dafi 
aber die Satze, alles ist sowohl falsch als wahr und alles ist weder 
wahr noch falsch die Erkenntnis der Wahrheit ausschliefien, braucht 
nicht erst hervorgehoben zu werden. Das feinere Kaxnpfspiel, 
das wie eine hubsch geschlagene Mensur anmutet, betrifft die 
Unmoglichkeit des Beweisverfahrens. 69 ) Die Skeptiker leugneten die 
Moglichkeit, durch Beweis die Wahrheit zu erkennen; es gibt 
keinen Beweis, der wirklich etwas bewiese. Das aber batten sie 
selbst auf alle erdenkliche Weise — zu beweisen gesucht. Diese 
Inkonsequenz machten sich die Dogmatiker der Zeit zu nutze und 
schlossen: Wenn es einen Beweis gibt (wie wir behaupten), so 
gibt es einen Beweis. Wenn es keinen Beweis gibt (wie die Skep- 
tiker behaupten), so gibt es einen Beweis. (Denn sie beweisen 
ja selbst, dafi es keinen Beweis g&be.) Nun gibt es aber ent- 
weder einen Beweis oder keinen Beweis. In beiden Fallen aber 
gibt es einen Beweis. Also — gibt es einen Beweis. Halt! raft 
der Skeptiker; dein Schlufi ist falsch. Denn nimmst du an: wenn 
es einen Beweis gibt, so gibt es einen Beweis, so darfst du nicht 
des weiteren annehmen: wenn es keinen Beweis gibt, gibt es 
einen Beweis. Denn sonst wiirden aus den kontradiktorischen 
Obersatzen gleiche Schlufisatze folgen, was den Regeln der Logik 
widerspricht. Riicken aber die Dogmatiker dem Skeptiker noch 
scharfer auf den Leib, indem sie diese Entgegnung unter die 
kritische Lupe nehmen, so fuhrt der Skeptiker nach einigen 
leichteren Schlagen (der Beweis: dafi es keinen Beweis gibt, ist 
die einzige Ausnahme von der Regel: dafi es keinen Beweis gibt) 
mit einem wundervollen Durchzieher den Gegner ab: Was woilt 
ihr eigentlich? Ihr habt nur gezeigt, dafi sich fur den Beweis 
auch gute Grande geltend machen lassen, und wir, dafi sich mit 
Grand dagegen reden lasse. So dogmatisch sind wir nicht, dafi 
wir behaupten, unsre Grande seien die wahren. Es gibt ja keine 



Zweites KapiteL Die Darstelluog des griechischen Skeptizismus. 


79 


Wahrheit! Wenn sich somit Grund und Gegengrund im Thema 
der Beweisbarkeit gegenuberstehen, so haben wir erreicht, was 
wir wollen: die Gleichkraftigkeit der Thesen , die Isosthenie , und 
die daraus notwendig folgende Epochs ! 

IV. Die Skepsis gegen einzelne Wissensinhalte: 
Naturzusaimnenhang — Werte — Oott 

Bis jetzt haben wir es mit der Polemik der Skepsis gegen 
die allgemeinen Prinzipien der menschlichen Erkenntnis zu tun 
gehabt, gegen die Formen des sinnlichen und vemunftigen Er- 
kennens. Es folgt nun der Sturm auf die einzelnen Inhalte des 
Wissens. Ein solches Vorgehen von seiten der griechischen Skepsis 
erscheint eigentlich uberfliissig; denn wenn unsere Erkenntnisprin- 
zipien nicht geeignet sind, iiberhaupt richtig und widerspruchlos 
zu funktionieren, so k5nnen sie auch keinen einzigen Wissens- 
inhalt erfassen oder erarbeiten. Aber es ist eine beliebte Methode 
des griechischen Skeptizismus (zumal der spateren Zeit) , sich an 
den allgemeinen Widerlegungen nicht geniigen zu lassen, sondem 
mit der Kritik bis ins Einzelne und Einzelste, also auch in das- 
jenige, was von den allgemeinen Satzen der Skepsis selbstver- 
standlich mitbetroffen wird, hinabzusteigen. Ihm schwebt immer 
das Ziel vor Augen, den Gegner, der durch die allgemeinen An- 
sichten, durch den ersten und zweiten Grund nicht uberfuhrt ist, 
durch speziellere Thesen, durch den dritten und vierten, ja durch 
eine Fulle und Unzahl von Griinden zu widerlegen. Es ist das 
wohl nur ein Ausdruck davon, dafl sich die Skepsis der Unge- 
heuerlichkeit ihres Standpunktes bewuflt war. Und so suchte sie, 
nachdem sie durch ihre Kritik der Sinnes- und Vemunfterkenntnis 
alles Wissen grundsatzlich vemichtet , die einzelnen und einzelsten 
Wissensinhalte der Reihe nach als Wahngebilde einer dogmatischen 
Denkart darzutun. Die einzelnen Wissensgebiete, die Summe der 
angeblichen Tatsachen der Erkenntnis aber, finden ihren voll- 
kommensten Ausdruck in der Wissenschaft. Demnach ist der 
Angriff der griechischen Skepsis auf das System des Wissens 
gleichbedeutend mit der Zerstorung der einzelnen damals herr- 
schenden wissenschaftlichen Disziplinen(£yxt/xAur fiaSrffiara). 
Dieses kritische Zerstorungswerk hat uns Sextus in seinen elf 
Buchem gegen die Mathematiker ubermittelt. Aber wahrend die 
skeptische Polemik gegen die Formen des Wissens sozusagen ein 
ewiges Interesse beanspruchen darf (da diese Formen sich mit 



So Erster Abschnilt. Die griechlscbe Skepsis. 

den Zeiten nicht gewandelt haben) , ist die skeptische Kritik der 
damaligen Disziplinen in erster Linie nur historisch interessant. 
Ob die Skepsis mit ihrer Zersetzung der Rhetorik, der Grammatik 
(Geschichte und Philologie), der Arithmetik, Geometrie, Astro- 
nomic und Musik der damaligen Zeit recht hat oder nicht — die 
Leistungsfahigkeit der menschlichen Erkenntnis wird davon nicht 
betroffen. Die entsprechenden Wissenschaften von heute — soweit 
einzelne Disziplinen, wie Musik und Rhetorik, nicht uberhaupt 
aus dem modemen System der Wissenschaften ausgeschieden 
sind — werden durch die skeptischen Argumente gegen die 
Wissenschaften des Altertums kaum gestreift; 70 ) und die allge- 
meinen Gesichtspunkte in diesen Argument en, wenn sie die mensch- 
liche Erkenntnis als solche treffen, sind schon berucksichtigt worden. 
Nicht ganz so rein historisch, wie die skeptische Bekampfung der 
damaligen Spezialgelehrten, kann die Polemik des Sextus gegen 
die dogmatischenPhilosophen eingeschatzt werden. Die einzelnen 
Gebiete der Philosophie waren nach antiker Einteilung Logik, 
Physik und Ethik. Auf diesen Gebieten haben sich gewisse fun- 
damentale Prinzipien durch die Zeiten erhalten. Fiir die Logik 
leuchtet das von selbst ein. Aber die skeptischen Einwande gegen 
die logischen Schulen fallen, soweit sie fur uns von Bedeutung 
sind, mit den Einwanden gegen die Formen der Vemunfterkenntnis, 
gegen das Schlieflen, Beweisen usw. zusammen, die wir schon 
kennen. Die einzelnen logischen Spitzfindigkeiten der stoischen 
und aristotelischen Schullogik aber lassen eben so kuhl wie ihre 
skeptischen Widerlegungen. Auch scheint fur eine Beachtung der 
Angriffe gegen die einzelnen Ergebnisse der alten Physik hier nicht 
der Ort. Nur das zentrale Prinzip, dessen Erforschung den Inhalt 
der gesamten Naturwissenschaft bildet, und seine Kritik kommt 
in Betracht. Gerade auf diesem Punkte aber entfaltet die Skepsis 
auch eine ihrer Glanzleistungen. Der Inhalt, um den es sich 
handelt, ist das Gesetz der Kausalitat, und seine Kritik hatte, 
wie wir sahen, einer der grofiten Vertreter der Skepsis, Aenesidem, 
ubemommen. In der Ethik haben sich die Anschauungen zwar 
mit den Zeiten auch gewandelt, aber von einem geschlossenen 
Fortschritt hier sprechen zu wollen, ware mindestens sehr gewagt 
Die wichtigsten Einwande der Skepsis gegen die angeblichen 
Wissensinhalte des sittlichen Bewufitseins sind auch heute noch 
ernster Beriicksichtigung wert; nicht minder, was gegen die Dogmen 
der religiosen Erkenntnis von skeptischer Seite ist aufgebracht 



Zweites Kapitel. Die Darstellong des griechischen Skeptizismus. 8 1 

worden. Hier, in der Begriindung der ethischen und religiosen 
Skepsis, fallt der Lowenanteil dem akademischen Skeptizismus, 
naher dessen Fuhrer Kameades, zu. Demnach woilen wir, was 
die Polemik gegen das inhaltliche Wissen und den Inhalt der Wissen- 
schaften anlangt, uns auf den Angriff der Skepsis gegen den 
Haupterkenntnisstoff im Physischen, Metaphysischen und Ethischen 
beschranken: auf die Behandlung der Thesen, dafi an der Erkenn- 
barkeit eines gesetzmafiigen Naturzusammenhangs, der 
Gottheit, der Werte grundsatzlich zu zweifeln sei. 

Die Erkenntnis der kausalen Zusammenhange, der Be- 
ziehungen zwischen Ursache und Wirkung, gait bis auf die jungste 
Zeit als der Nerv des naturwissenschaftlichen Verfahrens. Die Natur- 
wissenschaft soil die gegebenen Erscheinungen (etwa den Vorgang 
des Blitzes) als Wirkungen auf notwendige Ursachen (Entladung 
elektrischer Energie) zuriickfuhren , und andererseits aus einem 
gegebenen Phanomen (z. B. der elektrischen Energie) womoglich 
seine samtlichen Wirkungen (die Analyse des Wassers in H 2 
und O usw.) ableiten. Sollte sich nun zeigen, dafi das Kausa- 
litatsprinzip ein reines Wahngebilde ohne objektive Geltung ist, 
dafi es in Wahrheit gar kein ursachliches Wirken gibt und geben 
kann, so wiirden nach dieser Anschauung nicht nur alle Ergebnisse, 
sondem auch die gesamten Aufgaben der Naturwissenschaft dahin- 
fallen, und jeder Inhalt dieser Disziplin verlore alien Sinn. Daher 
ist die Anstrengung der Skepsis vomehmlich darauf gerichtet, 
diesen grundlegenden Begriff der Kausalitat zu untergraben. Auf 
alle erdenkliche Weise, tiefsinnig und sophistisch, mit schwerem 
und leichtem Geschiitz ist sie hier vorgegangen. Wir heben nur die 
bedeutendsten Beweisgruppen, in erster Linie die klassischen des 
Aenesidem, heraus, die uns sowohl von Sextus wie von Diogenes 
in klarer Wiedergabe erhalten sind. 71 ) 

Sollte es Ursache und Wirkung in der Natur geben — schliefit 
Aenesidem — so mufi entweder Korperliches Ursache von K6rper- 
lichem, oder Unkorperliches Ursache von Unkorperlichem, oder 
Korperliches Ursache von Unkorperlichem, oder Unkorperliches 
Ursache von Korperlichem sein. Alle vier Falle sind unmoglich, 
also gibt es keine Ursache. Korperliches kann nicht Ursache von 
Korperlichem, Unkorperliches von Unkorperlichem werden. Ein 
Korper kann weder durch sich selbst noch durch Verbindung mit 
einem andem Ursache eines andem Korpers werden. Nicht aus 
sich: denn er kann nicht mehr und nichts anderes bewirken, als 

Richter, Skeptizismus. 6 



82 


Enter Abschnitt. Die griechische Skepsis. 


er selbst ist, als in seiner Natur, seinem Wesen liegt; nicht durch 
Verbindung mit einem anderen: denn diese beiden zusammen 
konnen auch, sozusagen, nicht aus ihrer Haut heraus, kdnnen nur 
bewirken, was sie beide zusammen sind und nicht mehr. Dieses 
Mehr aber wird gerade beim Kausalprinzip gefordert Weiter: ein 
Kdrper, der Ursache eines anderen wird, wird aus einem zwei, 
und wenn er durch Verbindung mit einem anderen wirkt, werden 
aus zwei Korpem drei; so auch wiirden aus diesen zwei oder drei 
Korpem, wenn anders sie wieder zu Ursachen von anderen werden, 
vier oder sechs; aus den vier — acht u. s. f. ad infinitum; so dafi 
aus einem einzigen Kdrper schliefilich eine unendliche Anzahl 
(z. B. aus einem Samenkom ein ganzer Wald) entstunde. Das 
aber ist widersinnig. Dieselbe Unbegreiflichkeit entsteht, wenn 
Unkorperliches Ursache von Unkorperlichem (also etwa eine Vor- 
stellung Ursache einer anderen Vorstellung) sein soli. Niemals 
ist die Schwierigkeit zu umgehen, dafi aus einer Einheit eine 
Vielheit, aus der Eins die Unendlichkeit entsteht. Noch undent- 
barer aber sind die beiden ubrigen Falle, in denen angeblich Kor- 
perliches Unkorperliches (etwa die Lichtstrahlen eine Lichtempfin- 
dung), oder Unkdrperliches Korperliches (etwa der Wille eine 
Armbewegung) bewirkt Das ist nach Aenesidem alles aus dem 
Grunde unmoglich, weil Ursache und Wirkung niemals als vdllig 
ungleichartig zu denken sind. Wie kann ich mir eine Wirkung 
denken, die mit der Ursache auch nicht das geringste gemein 
hat? Finden wir es doch schon unsinnig, dafi aus einer Platane 
ein Pferd oder aus einem Pferd ein Mensch entstehen sollte. Um 
wieviel unsinniger ist der Gedanke, Korperliches konne aus Gei- 
stigem, Geistiges aus Korperlichem hervorgehen! Soweit reicht 
mit Sicherheit die Beweisfuhrung des Aenesidem. Moglich ist, dafi 
auch von den zahlreichen anderen Argumentengruppen sich noch 
einige auf Aenesidems Urheberschaft zuruckfuhren. So das Dilemma: 
Entweder ist etwas als Ruhendes Ursache von Ruhendem, oder als 
Bewegtes von Bewegtem, oder als Ruhendes vonBewegtem, odei als 
Bewegtes von Ruhendem. Alle vierFalle sind gleicherweise unmoglich. 
Die ersten beiden deshalb, weil hier Ursache wie Wirkung sich im 
gleichen Zustande befinden und man deshalb beide auch mit gleichem 
Rechte sowohl als Ursache wie als Wirkung ansprechen kann. Ist die 
ruhende Saule Ursache des ruhenden Epistyliums, oder das ruhende 
Epistylium Ursache der ruhenden Saule? Ist das bewegte Rad Ur- 
sache von der Bewegung des drehenden Mannes, oder der drehende 



Zweites Kapitel. Die D&rsteilung des griechischen Skeptizismus. 


83 


Mann Ursache der Radbewegung? Aber Ruhendes kann eben- 
sowenig Ursache von Bewegtem, noch Bewegtes Ursache von 
Ruhendem sein, wegen der Heterogenitat beider Glieder. Weiter: 
die Ursache ist entweder zugleich, oder vor, oder nach der Wir- 
kung. Nach der Wirkung ist absurd, denn dann ware der Sohn 
vor dem Vater, die Ernte vor der Saat. Vor der Wirkung nicht; 
denn solange die Wirkung nicht da ist, der Sohn, ist auch das 
betreffende Objekt nicht Ursache, der betreffende Mensch nicht 
Vater. Ursache und Wirkung sind als solche nur durch einander 
verstandlich, weil sie notwendig aufeinander bezogen sind. Sie 
miissen also zugleich sein. Das geht aber wieder nicht an, weil 
dann kein Kriterium mehr bestande, was Ursache und was Wirkung 
ist. Noch ein Widersinn im Begriff der Kausalit&t ist dieser: die 
Ursache kann nicht aus eigener Kraft wirken, z. B. das Feuer nicht 
aus sich allein brennen; sonst wiirde es immer brennen. Aber 
auch nicht in Mitwirksamkeit einer passiven Materie; also nicht 
mit dem Holz zusammen. Denn warum soli das Feuer hier mehr 
Ursache des Brennens genannt werden als das Holz? Beide sind 
zum Brennen gleich unentbehrlich. So wenig als in der Silbe di 
d mehr Ursache der Silbe ist als i, sowenig ist die Flamme 
mehr Ursache des Brennens zu nennen als das Holz. Passive 
Ursachen gibt es also nicht. Aber aktive auch nicht, wie ge- 
zeigt worden, also iiberhaupt keine. Mit noch anderen, weniger 
emst zu nehmenden Gruppen skeptischer Einwande gegen den Ur- 
sachbegriff halten wir uns nicht auf. Sie sind alle in derselben 
antithetisch-disjunktiven Form abgefafit: entweder dies oder jenes 
oder das, aber weder dies noch jenes noch das — also nichts. 

Wahrend nun diese Einwande, wollten wir denselben voile 
Beweiskraft zugestehen, vollauf geniigen wiirden, das Kausalprinzip 
als ein widerspruchvolles und irrefuhrendes hinzustellen, hat Aene- 
sidem, abgesehen von seiner Polemik gegen die Moglichkeit kau- 
salen Wirkens iiberhaupt, noch acht Tropen verfafit, welche 
die hauptsachlichen und kaum vermeidlichen Gefahren in der Er- 
kenntnis der Kausalitat, falls solche doch in der Natur bestehen 
sollte, aufzahlen . 79 ) Es sind folgende: 1. die angenommene Ur- 
sache entzieht sich dem Augenschein und wird durch die Erschei- 
nungen nicht zweifellos bezeugt, bleibt also Hypothese; 2. man 
leitet aus einer Ursache ab, was ebensogut aus anderen Ursachen 
folgen konnte. 3. Geordnete Erscheinungen werden auf Ursachen 

zuruckgefuhrt, denen die gleiche Ordnung fehlt 4. Von sichtbaren 

6 * 


8 4 


Enter Abschnitt Die griechitcbe Skepsis. 


Vorgangen wird in gewagter Analogic mit zu grofier Sicherheit 
auf unsichtbare geschlossen. 5. Die (Natur) - Forscher gehen von 
strittdgen Ursachen , den Grundstoffen Oder Elementen, nicht von 
allgemein zugestandenen Satzen aus. 6. Manche beachten nur die 
Naturerscheinungen, die zu ihren Voraussetzungen stimmen , aber 
nicht auch diejenigen, welche ihnen widersprechen. 7. Oft setzt 
sich die kausale Erklarung mit ihren eigenen Voraussetzungen in 
Widerspruch. 8. Sie erklaren eine zweifelhafte Erscheinung aus 
einer ebenso zweifelhaften. — Beispiele zu diesen methodologischen 
Fehlem, die immer in der Wissenschaft gemacht worden and 
und auch heute noch gemacht werden , anzufuhren , erscheint 
uberfliissig. 

Mit alledem, und das ist bedeutsam, wollen die Skeptiker 
nicht etwa positiv behaupten, dafi es keine Ursachen und kerne 
Wirkungen in der Natur gabe. Im Gegenteil. Sie verschliefien 
sich der naheliegenden Annahme, es gabe urs&chliches Wirken 
in der Natur, keineswegs: gabe es keine notwendig wirkenden 
Ursachen, so wiirde ja „Alles aus Allem“, Pferde aus Mausen 
und Elefanten aus Ameisen entstehen konnen. Deswegen ist es 
durchaus glaublich, dafi Ursachliches besteht; zugleich aber auch 
glaublich, dafi es nicht besteht — aus Griinden , die uns jetzt 
bekannt sind. Was bleibt da anderes ubrig, als die skeptische 
Erklarung, sich weder fur das eine noch das andere zu entscheiden, 
wegen der Isosthenie der Griinde? 

Damit verlassen wir den Kampf der Skepsis gegen den 
Inhalt des naturwissenschaftlichen Erkennens. Die skeptische Kritik 
an dem Begriff des Atoms und des Elements (den „stofflichen 
Anfangen"), 78 ) des physikalischen Korpers 74 ) und der Mischung 75 ) 
(was wir heute Verbindung nennen), an den Begriffen des Ent- 
stehens und Vergehens, 76 ) an den Bewegungstheorien, 77 ) an der 
Raum- und Zeitvorstellung 78 ) lassen wir beiseite. Sie beruhren 
den Inhalt unserer heutigen Physik und Chemie kaum mehr. Wohl 
aber tut dies die skeptische Analyse des Kausalprinzips, die wir 
in den philosophischen Theorien neuerer Zeit wieder werden auf- 
leben sehen. 


Jetzt folgt das Vorgehen der griechischen Skepsis gegen die 
religiosen Wissensinhalte. 79 ) Es ist interessant und be- 
merkenswert, dafi gleich am Eingang ihrer Untersuchungen uber 
Gottesglaube und Religion die Skepsis nicht die Fragen: ob Gdtter 



Zweites Kapitel. Die Darstellung des gxiechischen Skeptizismus. 


85 


sind und welche Eigenschaften ihnen zukommen , aufwirft, sondern 
dafl sie zuerst erortert, wie die Menschen wohl zu den Vor- 
stellungen der Gotter gekommen sein mogen. Damit 
schenkte sie aber von vomherein dem, was wir heute Religions- 
psychologie nennen wiirden, eine Beachtung, die alien dog- 
matisch-religiosen Denkem naturgemafi fremd ist. Selbstverstand- 
lich klingen auch diese religionspsychologischen Praludien ganz 
skeptisch aus: ob die Begriffe von Gottern nur aus derVerehrung 
nutzlicher Dinge wie Brot, Wein, Feuer, Wasser, oder der Furcht 
vor gewaltigen Naturphanomenen wie Donner und Blitz, Sonnen- 
und Mondfinstemissen, oder aus den Traumgesichten, oder der 
Beobachtung der regelmafligen Bewegungen der Gestime, oder 
aber aus den Machtspruchen gewaltiger Heroen, die, um mehr 
Bewunderung und Ehrfurcht zu erzwingen, sich eine gottliche 
Macht angedichtet haben — ob die Begriffe von Gott aus solchen 
oder noch anderen Ursachen entstanden sind , ist nicht mit Sicher- 
heit auszumachen. Von weitertragender Bedeutung aber ist die 
Antwort und ihre Begriindung, welche die Skeptiker zu der zen- 
tralen Frage aller Religionsphilosophie gegeben haben, ob es 
Gotter gibt? Wahrend die dogmatischen Philosophen auf diesem 
Punkte sich in zwei Lager spalten, von denen das eine behauptet, 
es gabe Gotter (namlich die Theisten), das andere, es gabe keine 
(namlich die Atheisten) — kommt die Skepsis zu dem Ergeb- 
nis: „man konne nicht mit mehr Grand behaupten, dafi Gotter 
seien, als dafi keine seien“, weil die Grunde auf beiden Seiten 
gleichwogen. 

Um das zu zeigen, entfaltet die griechische Skepsis nun alle 
Beweise , welche von den dogmatischen Philosophen fur das Dasein 
Gottes aufgebracht wurden und nur von einigem Werte sind, in 
ihrer ganzen Kraft 80 ) Ein Leser, dem diese Partien vor Augen 
kamen und der nicht wiifite, welcher Sekte ihr Verfasser zu- 
gehort, wiirde auf einen iiberzeugten Gottverehrer schliefien; 81 ) 
so unparteiisch ist hier die Wiedergabe der gegnerischen Ansichten. 
Aber dann folgt auch deren Widerlegung auf dem Fufie. Die 
Beweise, welche das Altertum, (besonders die Stoa) fur das Dasein 
Gottes aufgebracht hat, sind nach skeptischer Ansicht im wesent- 
lichen drei. Einmal der Beweis aus dem consensus gentium, 
der 6vfi<poovia rtapct itatiiv avSpcortoig. Er besagt, dafi alle 
Volker, Griechen und Barbaren, seit ewigen Zeiten an Gotter 
glauben, wenn auch ihre Begriffe im einzelnen iiber die Art dieser 


86 


Enter Atwdmitt Die griechische Skepsis. 


Gotter noch so weit auseinander gehen. Falsche Meinungen aber 
und wandelbare Dinge dauem nicht lange; sie sterben mit denen 
aus, um deren willen sie erhalten wurden. Der Gotterglaube nun 
hat sich unwandelbar erhalten — also sind Gotter. Ein zweiter 
Beweisgang lautet: Die Ordnung, Schonheit und Harmonie der 
Welt, die regelmafiigen Bewegungen der Gestime, die mit Vemunft 
und Einsicht begabten Geschdpfe — all das setzt notwendig einen 
allweisen ersten Urheber voraus, d. h. einen Gott. „Wenn auf 
einem Olivenbaum, 44 so schlofi Zeno, „melodisch klingende Floten 
wiichsen, wurde man wohl zweifeln, dafl sich in dem Olivenbaum 
eine Wissenschaft des Flotenspieles befande? Wie? Wenn Pla- 
tanen rhythmisch tonende Saiteninstrumente trugen? so wurde man 
sicherlich urteilen, in den Platanen wohne Tonkunst. Warum sollte 
man also die Welt nicht fur beseelt und weise halten, da sie aus 
sich beseelte und weise Wesen hervorbringt? 44 8 *) DieserBeweis, den 
die Griechen den Beweis aus der kosmischen Ordnung (rpoxog 
rrjz xo6ptxrjg St ardgsGog) nannten, und den wir heute den 
physiko-theologischen Gottesbeweis zu nennen pflegen, und ebenso 
das erste Argument aus dem Consensus gentium sind durch das 
ganze Mittelalter hindurch bis auf unsere Tage herab bei Theo- 
logen und Metaphysikem immer wiederkehrende Erwagungen ge- 
blieben. Nicht minder das dritte Argument, das sich aus den 
widersinnigen Folgerungen (ix rear dxoXoSovvToov atonoov) 
der Gottlosigkeit herleitet: Wenn es keine Gotter gibt — so 
lautet die diirre Struktur dieses Beweisganges — so gibt es auch 
keinen Glauben an Gotter, keine Gotterverehrung, kein gottseliges 
Leben, keine Religion und keine Heiligkeit. Nun gibt es aber 
alles dies — also — . 

Allen drei Beweisgangen aber lassen sich gewichtige Gegen- 
griinde entgegenstellen. Der Consensus gentium, wenn er wirk- 
lich bestiinde, kann niemals etwas fur die Wahrheit einer An- 
sicht verbiirgen. Die Vorstellungen der plumpen Majoritat, der un- 
gebildeten Masse sind ein bedenklicher Stiitzpunkt far die Religion. 
Aber ganz abgesehen davon besteht dieser Consensus gar nicht 
Sind denn wirklich alle Volker liber das Dasein von Gottern einig? 
gibt es nicht erklarte Atheisten? Kann es nicht auch barbarische, 
wilde Volkstamme geben, die von einem Gott nicht die geringste 
Vorstellimg haben? 83 ) — Ebensowenig halt der Beweis aus der 
Ordnung und Zweckmafiigkeit der Welt, aus der Erschaffung 
vemunftiger Kreaturen Stich. 1st denn die Welt uberhaupt durch- 



Zweites Kapitel. Die DanteUong des griechischen Skeptizismos. 


»7 


gangig zweckmafiig eingerichtet? Wie erklaren sich dann Obel, 
Not und Leiden aller Art, die dem Menschen Gefahr und Ver- 
derben bringen? 84 ) Und ist die Vernunft nicht etwa eine zwei- 
schneidige Gabe, oft genug Werkzeug der Bosheit und der Nieder- 
tracht? 85 ) Aber selbst zugegeben, dafi Zweckmafiigkeit in der 
Welt sei, dafi diese Welt die schonste und die beste sei (wie die 
Stoa behauptete), warum mufi sie deshalb das Werk eines Gottes 
sein? Warum kann nicht die Natur, nach ihr immanenten phy- 
sikalischen Gesetzen, die Welt hervorgebracht haben? Kennen 
wir denn die Krafte der Natur wirklich so gut, um die Unmog- 
lichkeit dieser Annahme darzutun? Wer wollte sich diese Einsicht 
wohl anmafien? 86 ) — Dafi die Skeptiker auch mit dem dritten 
Einwand aus der Unsinnigkeit der Folgerungen spielend fertig 
wurden, wenn sie sich uber die beiden ersten Herr gezeigt hatten, 
wird man sich denken konnen. 

Den gleichen Widerspriichen wie der Gottesbeweis aber ist 
der Gottesbegriff mm ausgesetzt. 87 ) Und zwar vor allem der 
Begriff eines personlichen Gottes. Hier legt die Skepsis ruck* 
sichtslos alle Folgerungen blofi, zu denen die Vermenschlichung 
der Gotter, der grobere wie der feinere Anthropomorphismus, 
notwendig hindrangt. Ist Gott ein Lebewesen, ein Zoon, wie die 
Stoa annahm, so hat er wie jedes Lebewesen auch Sinne, und 
zwar die grofitmogliche Anzahl, vermutlich noch mehr als funf, 
als die entwickeltsten Lebewesen, die wir kennen. Dann schmeckt, 
riecht und hort er; aber dann schmeckt er auch Saures und Bitteres, 
hort Dissonanzen so gut als Konsonanzen; kurz er erleidet all die 
Unlust und Beschrankungen, die an die Funktion des sinnlichen 
Wahmehmens nun einmal notwendig gebunden sind. Auch ist 
er verganglich wie alles Sinnliche. Das aber ist mit der Voll- 
kommenheit und Allgenugsamkeit Gottes unvereinbar. Aber auch 
wenn wir auf Gott nur die hochsten Eigenschaften eines Lebewesens, 
die moralischen, iibertragen wollen, geraten wir in Widerspriiche. 
Denn alle Tugenden konnen wir Gott nicht zusprechen, wie sie 
doch andererseits fur ein vollkommenes Wesen erfordert werden. 
Gott kann z. B. nicht Mafiigkeit, Enthaltsamkeit, Geduld besitzen; 
denn jede dieser Tugenden setzt eine Unvollkommenheit voraus, 
in deren Cberwindung sie besteht. Geduldig, so bemerkt Sextus 
feinsinnig, ist der, welcher unter Brennen und Schneiden stark 
bleibt, nicht der, welcher Honigtrank schliirft; und Unvollkommen- 
heiten erdulden, kann doch von Gott nicht ausgesagt werden. 


88 


Ersler Abschnitt. Die griechische Skeptis. 


Auch Tapferkeit kann Gott nicht zugesprochen werden, da sie 
nur fur den auszuiiben ist, dem etwas furchtbar erscheint; Gott 
aber erscheint nichts furchtbar. Auch Seelengrofie geht ihm ab, 
da er sich uber nichts Unangenehmes, Kleinliches, Schmerzliches 
erheben kann. Selbst die Weisheit kann keine Eigenschaft Gottes 
sein, denn sie besteht ja in der Einsicht von dem, was gut, bose, 
was gleichgiiltig ist. Wie aber soil Gott dies kennen, wenn er 
es nicht selbst erlebt hat? Gott kann so wenig Schmerz und 
Leiden verstehen, wie der Blinde sich von rot oder grun eine 
Vorstellung machen kann. Darum besitzt auch Gott keine Kunst, 
keine rixvi 7, die immer in der miihsamen Erarbeitung des Er- 
reichten besteht. Kommen aber Gott von Natur alle Vollkommen- 
heiten zu, so kann man von einer Kunst bei ihm ebensowenig 
reden, wie bei Froschen oder Delphinen von der Kunst des 
Schwimmens. Aber auch ganz allgemein — alle offenen und 
versteckten Anthropomorphismen beiseite gelassen, ist Gott nicht 
denkbar. Denn er ist weder endlich noch unendlich. Endlich 
nicht, weil jede Endlichkeit eine Beschrankung ist, d. h. eine Un- 
vollkommenheit, und das Unendliche dann vollkommener ware als 
Gott. Unendlich nicht, weil Gott dann an keinem Orte ware, 
also unbeweglich, und also leblos. Vor allem kann man Gott 
nicht die Haupteigenschaft, um deren willen man an ihn glaubt, 
die Vorsehung zusprechen. 88 ) Gerade das Walten einer Vor- 
sehung aber war von den Stoikem in alien Tonarten besungen 
worden. Hier stellt uns die Skepsis nun folgende heikle Alter- 
native: entweder Gott ubt fiir alles Vorsehung oder nur fur einiges. 
Fiir alles nicht, denn die Unzahl der Obel und Schlechtigkeiten 
in der Welt, das Gluck der Bosen und das Ungluck der 
Guten 89 ), konnen doch unmoglich als Werke der Vorsehung 
angesehen werden. Also nur fur einiges. Warum aber nicht fur 
alles? Vier Moglichkeiten stehen ofTen — alle gleichermafien 
absurd. Entweder Gott kann fur alles und will fiir alles Vor- 
sorge tragen — woher dann die Obel in der Welt? Oder Gott 
will zwar, kann aber nicht — wie vertragt sich das mit Gottes 
Allmacht? Oder er kann zwar, will aber nicht — wie vertragt 
sich das mit Gottes Glite? Oder er kann nicht und will nicht — 
dann ist Gott sowohl schwach als schlecht. Man sieht, die Dis- 
junktion ist vollstandig, und jedes ihrer Glieder erhebt eine neue, 
schier uniiberwindliche Schwierigkeit gegen den Glauben an eine 
Vorsehung. 



Zweites Kapitel. Die Darstelluog des griechischen Skeptizismus. 


89 


Hatte die Skepsis Argumente von solchem Kaliber zur Zer- 
setzung jeglicher Gottesvorstellung zur Verfugung, so kann man 
sich denken, dafi es ihr leicht wurde, spielend die schon an sich 
und in sich wankende Spezialreligion des Hellenismus zu zer- 
storen. Den ganzen Aberglauben der Divination, auf welche die 
Stoiker so grofien Wert legten, der Wahrsagekunst und der Vogel- 
schau deckten die Skeptiker in seiner Ruckstandigkeit auf; 90 ) dem 
gesamten Polytheismus des Volksglaubens hielten sie unter an- 
derem 91 ) die nach Art der Soriten geformten Erwagungen ent- 
gegen, dafi wegen der wesentlichen Gleichartigkeit des vermeint- 
lich Gottlichen mit dem anerkannt Ungottlichen die Grenzen fliefiend 
seien und so alles entweder vergottlicht oder entgottlicht werden 
miisse: 1st Zeus ein Gott, so mufi es auch sein Bruder Poseidon 
sein; wenn dieser, dann auch der Stromgott Achelous und der 
Nilus; aber auch die Quellen des Nilus, alle anderen Bache usf. 
Sind Sonne und Mond Gottheiten, so auch die ubrigen Planeten, 
so auch die Fixsteme; und wenn diese, so auch der Regen- 
bogen und die ubrigen Himmelserscheinungen, Wolken, Regen 
und Sturm. 92 ) 

In dieser und ahnlicher Weise zogen die Skeptiker gegen 

den Dogmatismus der Volksreligion zu Felde. Wohlverstanden 

immer nur gegen den Dogmatismus der Religion , nicht gegen 

diese selbst. Denn in Bezug auf die religiosen Erkenntnisse stehen 

» 

sich, wie bei jedem materialen Erkenntnisinhalt, gleich starke, 
sich die Wage haltende Erwagungen gegeniiber. Fur den Skeptiker 
folgt daraus der totale Zweifel iiber den betreffenden Gegenstand, 
nicht aber eine Negation der positiven Ansicht Er bekampfi also 
nicht so sehr das Dasein der Gotter, als die zuversichtlichen Aus- 
sagen des Dogmatikers iiber dasselbe. Dies ist wichtig im Auge 
zu behalten, um den Kern der skeptischen Bemiihungen nicht 
mifizuverstehen. 

Wie der Inhalt der Naturwissenschaft dadurch hinfallig wurde, 
dafi ihm durch die Zersetzung seiner Basis gewissermafien der 
Boden unter den Fiifien entzogen wurde, wie die Religionsphilo- 
sophie unter den Schlagen gegen grobe wie verfeinerte Gottes- 
vorstellungen in sich zusammenstiirzte, so verlore nun auch die 
gesamte Moralwissenschaft — eine in damaliger Zeit bliihende 
Disziplin — alien Sinn, wenn ihre obersten Begriffe sich als wider- 
spruchvoll und unhaltbar erweisen sollten. 93 ) Auf dies Ergebnis 
werden die Anstrengungen der skeptischen Ethik gerichtet sein 


90 


Enter Abichnitt Die griechische Skepsu. 


mfissen. Der moralphilosophische Standpunkt dieser griechischen 
Skeptiker laflt sich in den einen Satz zusammenfassen: die Er- 
kenntnismoglichkeit der sittlichen Werte wird bezweifelt Und die 
Begrfindung, ebenso knapp formuliert: wir erkennen die sittlichen 
Werte nur wie sie uns erscheinen, nicht wie sie an sich sind. 
Aber warum? Hauptsichlich sind es zwei Gedankenreihen , welche 
diese skeptischen Thesen stfitzen sollen. i. Wir erkennen die sitt- 
lichen Werte nur, wie sie uns erscheinen; denn das, was an sich, 
<pv6% i, gut oder schlecht ist, mufite fur alle in gleicher Weise gut 
oder schlecht sein; so wie der Schnee, weil er seiner Natur nach 
kalt ist, alle frieren macht, und das Feuer, weil es seiner Natur 
nach warm ist, alle warmt, so mufite etwas, das seiner Natur 
nach gut oder schlecht ist, auch alien gut oder schlecht erscheinen. 94 ) 
Aber auf nichts, was fur gut oder schlecht gilt, trifTt diese Be- 
dingung zu. Von den bisher fur sittlich oder unsittlich aus- 
gegebenen Werten erfreut sich kein einziger allgemeiner An- 
erkennung. Und das gilt sowohl fur die Begriffe, welche die 
Laien (IStdrrat), als fur diejenigen, welche die Philosophen auf- 
gestellt haben. 95 ) Nehmen wir die einzelnen Menschen vor, so 
sehen wir, dafi die einen dies, die andera jenes als ein Gut erachten; 
die einen Ruhm, andere Gesundheit, noch andere Reichtfimer. Jeder 
halt das fur ein Gut, was seine Individualist am meisten reizt 96 ) 
Noch deutlicher wird der Widerspruch uber die sittlichen Werte, 
wenn wir die ganz getrennten Moralanschauungen der verschiedenen 
Volker und NationaliSten ins Auge fassen. Mit einer Fulle von 
Beispielen 97 ) ist hier die griechische Skepsis bei der Hand — Bei- 
spiele, die sie den Sitten und Gesetzen, dem aufieren Brauche, 
ja dem, was bei den verschiedenen Volkera fur schdn oder hafi- 
lich gait, sowie den spezifisch moralischen Wertungen gleichmafiig 
entnimmt. So gelte bei den Griechen die Paderastie fur wider- 
gesetzlich, bei den alten Thebanem aber sei dies nicht der Fall 
gewesen. Es gibt Volker, bei denen es Sitte ist, dafi die Madchen 
die Mitgift aus der Buhlerei zusammenbringen. Rauberei zu 
treiben scheint Griechen und Romem eine Ungerechtigkeit, den 
Ciliciern sogar rfihmlich. Daneben aber wird auch der Unter- 
schiede darin gedacht, dafi die einen Volker Ohrringe tragen, 
andre nicht, einige die Neugeborenen tatowieren, andre nicht 
Weiter wies man auf Abweichungen in den Kultusgebrauchen bin: 
bei den Tauriem in Skythien war es Brauch, die Fremden der 
Artemis zu opfem; in Rom und in Griechenland ist es verboten, 



Zweites Kapitel. Die Darstellung des griechischen Skeptizismus. 9 1 

einen Menschen an heiliger St&tte zu toten usw. Aus alledem 
schlofi die Skepsis, dafi die sogenannten sittlichen Werte, die 
ay add und xaxd nicht an sich (<pv(fei) oder absolut genommen 
so oder so beschaffen seien, sondem nur in bezug auf 98 ) die 
einzelnen Individuen oder Volker, auf Romer, Agypter, Inder. Die 
namliche Relativitat der ethischen Werte erhellt auch, wenn man 
sich von den moralischen Anschauungen der Laien ab- und den- 
jenigen der Philosophen zuwendet") Auch hier nirgends ein 
fester Punkt, kein einziges von alien Philosophen anerkanntes Gut. 
Man zeigte triumphierend auf die Meinungsverschiedenheiten in 
den moralphilosophischen Elementarfragen zwischen Cynikern und 
Cyrenaikem , Stoikern, Epikuraem , Akademikem und Peripatetikem. 
Man stellte die Anschauung des Aristipp , der die sinnliche Lust 
zum hochsten Gut erhob, dem Ausspruch des Cynikers gegeniiber: 
„Rasen mdchte ich lieber, als mich freuen 14 ; man nahm irgend 
einen Begriff wie den der Gesundheit vor 100 ), um nachzuweisen, 
wie er in den verschiedenen Philosophenschulen bald als hdchstes 
Gut (Simonides), bald als Gut zweiter Ordnung (Krantor), bald 
als iiberhaupt kein Gut (Stoiker) ist hingestellt worden. Also 
sowenig wie unter Volkem und Laien, sowenig herrscht unter 
den Philosophen uber die moralphilosophischen Objekte Einig- 
keit Ein allgemeingultiger absoluter Wert, dessen Kriterium ware, 
dafi er auf alle eindeutig wirkte, hat sich noch nicht gezeigt. 

Aber noch auf einem ganz anderen, in seiner Ausfuhrung 
nicht minder geistreichen Wege sucht man die Unerkennbarkeit 
der ethischen Grundwerte darzutun. Diese zweite Gedanken- 
reihe besteht vor allem in der zersetzenden Kritik der bisher auf- 
getretenen moralphilosophischen Anschauungen. Ein Einblick in 
diese einschneidende Kritik mag wenigstens die weittragendsten 
Einwande der ethischen Skepsis beriicksichtigen, ihre Polemik 
gegen Einzelheiten dagegen (wie gegen die Giitereinteilungen u. a.) 
als nur von ephemerem Wert beiseite lassen. Zweifellos eines der 
bedeutsamsten Bedenken, 101 ) das eigentlich die Grundlage der ge- 
samten antiken Ethik im Innersten beruhrt, ist gerichtet gegen 
die Bestimmung des Guten als das zur Gluckseligkeit Fiihrende, 
oder das Niitzliche , oder das um seiner selbst willen Erstrebenswerte 
— Bestimmungen, in denen, wie Sextus mit Recht meinte, die 
meisten antiken Philosophen einig sind. Aber — so verlauft nun der 
skeptische Gedankengang weiter — durch all das erfahre ich uber 
das Gute selbst gar nichts ; was das Gute ist , wird mir nicht gesagt. 



92 


Enter Abscbnitt Die griecbiache Skepsis. 


Nur von einer spezifischen Eigenschaft des Guten erhalte ich besten- 
falls Kenntnis, namlich, dafi es zur Gluckseligkeit fuhrt, oder nfitzt, 
oder erstrebenswert ist. Aber entweder kommen diese Eigen- 
schaften auch anderen Dingen zu und sind also kein Kriterium 
fur das Gute; das eigentfimliche Wesen des Guten wird uns durch 
sie nicht vermittelt; oder sie kommen nur dem Guten zu; dann 
miifite ich mir von einer spezifischen Eigenschaft eines Dinges aus 
das Wesen des Dinges vorstellen konnen, was nicht angeht So 
wenig wie ein Ochs durch das Brfillen, noch ein Pferd durch das 
Wiehern erklart werden kann, weil ich, um Wiehem und Brfillen 
zu verstehen, schon Pferd und Ochsen kennen mufi, so wenig 
kann ich das Gute durch die ihm eigentfimlichen Eigenschaften 
erlautem, weil ich dazu das Gute schon kennen miifite. Also der 
umgekehrte Weg ware der richtige. Erst miifite das Wesen, der 
Inhalt des Guten angegeben werden und dann daraus abgeleitet, 
dafi das Gute nfitzt, zur Gluckseligkeit fuhrt, erstrebenswert ist. 
Den besten Beweis fur diese ihre Anschauung, dafi man auf dem 
iiblichen Wege nicht weiterkommt, sehen die Skeptiker in der 
Tatsache, dafi aus den allgemeinen Bestimmungen fiber die Glfick- 
beforderung, den Nutzen, das Erstrebenswerte des Guten der tat- 
sachliche Inhalt des Guten, das, was nun gut ist, nicht abgeleitet 
werden kann. Denn fragt man die Philosophen, welche in den 
angefuhrten Bestimmungen alle einig sind, was denn zum Gliicke 
fuhre, was niitze, was erstrebenswert sei — so gehen die bis 
dahin Einigen weit auseinander, indem die einen die Lust angeben, 
andere die Tugend, andere die Schmerzlosigkeit, noch andere noch 
anderes. Woher diese Widerspriiche, wenn in den gegebenen 
Bestimmungen nicht nur Eigenschaften, sondem das Wesen des 
Guten erfafit ware? 

Nicht minder totlich wird von der skeptischen Kritik eine im 
Altertum sehr beliebte Sanktion des Sittlichen getrofien, namlich 
die Zurfickfuhrung des Sittlichen auf das Natfirliche. Das ver- 
nunftgemafie Leben ist sittlich, denn es ist das naturgemafie — 
in der Vemunft besteht die wahre Natur des Menschen, batten 
die Stoiker gelehrt. Die Summierung der Lust, das Streben nach 
Schmerzlosigkeit ist sittlich, denn es ist natfirlich — Tier und 
Mensch fliehen von Natur den Schmerz und suchen die Lust. So 
die Cyrenaiker und Epikuraer. Hier machen nun die Skeptiker 
darauf aufmerksam, einmal, wie leer und abstrakt dieses Prinzip 
des Natfirlichen wieder ist und wie es als solches den verschiedensten, 



Zweites Kapitel. Die Darstellung des griechischen Skeptizismus. 


93 


ja entgegengesetzten Inhalten offen steht. Unter der Sanktion des 
Natiirlichen, so meinte die Skepsis, 10 *) kann ich jeden beliebigen 
Inhalt in das Prinzip der Sittlichkeit hineintragen ; ich kann sagen: 
von Natur erstrebenswert sei der Mut , weil Lowen von Natur zum 
Mutigsein neigen und Stiere und Hahne und einige Menschen — 
ich kann aber auch sagen: von Natur erstrebenswert sei die Feig- 
heit, da Hirsche und Hasen und andere Menschen von Natur zur 
Feigheit neigen. Oder, um gleich auf die Grundgegensatze im In- 
halt der nacharistotelischen Moralphilosophie zu kommen, ich darf 
mich nicht mit Epikur darauf berufen , dafi alle Lebewesen nach Lust 
streben und die Lust als das natiirliche Objekt des Willens auch 
das sittliche sei; denn der stoische Weise z. B. sucht Anstrengung, 
Arbeit und Miihen auf und flieht die Lust. Darin betatigt er ja 
eben nach stoischer Lehre die wahre Natur des Menschen! Aber 
diese Lehre ist ebenso einseitig, solange der epikureische Weise 
die Lust erstrebt und aller Arbeit und Muhe, welche nicht einen 
hoheren Lust- als Unlustertrag abzuwerfen verspricht, aus dem 
Wege geht. Aufierdem sind die auf der Briicke des Natur- 
prinzips sich aufbauenden moralischen Analogien zwischen den 
verschiedenen Naturwesen, also zwischen Mensch und Tier, ge- 
fahrlich, weil sie zu einer vorgefaflten Deutung tierischer Instinkte 
durch menschliche Vernunftgriinde, und menschlicherEntschliefiungen 
durch animalische Triebfedern verleiten; und unter dem schiitzen- 
den Mantel eines Begriffs Natureigenschaften der Tiere einfach 
auf den Menschen und vice versa iibertragen. Wenn von stoischer 
Seite 104 ) gegen die Lustlehre Epikurs geltend gemacht wurde, daft 
bereits unter den Tieren grofimiitige und nur um des Ehrenhaften 
( yevvaiov ) willen unternommene Handlungen vorkamen, wie die 
Zweikampfe zwischen Hahnen und Stieren, welche bis zum Tode 
ohne Aussicht auf Lust miteinander streiten, so ist in Erwagung 
zu ziehen, daft blinde Instinkte nicht moralische Handlungen sein 
konnen, dafi aber auch das instinktive Motiv des Kampfes hier 
keineswegs die Ehre, sondem lediglich [die Fuhrung der Herde ist. 
Vor allem aber beweisen diese Analogien niemals, dafi, was fiir 
ein Lebewesen natiirlich ist, es auch fiir die Exemplare einer 
andera Gattung sein mufi. Erstrebten wirklich von Natur alle 
Tiere Lust, so ware damit die Natiirlichkeit des Luststrebens fiir 
die Menschen nicht im mindesten dargetan — und gibt es auch 
wirklich von Natur selbstlose Handlungen unter den Tieren, so 
wstre dadurch die Selbstlosigkeit als fiir den Menschen natiirlich 



94 Enter Abschnitt Die griechische Skepsis. 

keineswegs erwiesen. So ist der Begriff des Naturlichen ahnlich 
wie der der Gluckseligkeit oder des Nutzens ein leerer abstrakter 
Begriff, der aus sich heraus keinen Inhalt hergibt, vielmehr solchen 
erst von anderswoher zu empfangen hat Damit genug der Proben 
von der skeptischen Kritik moralphilosophischer Theorien. Diese 
Kritik hatte keinen andem Zweck als auch die vorhingenannten, 
mehr systematischen Argumente, namlich die Unerkennbarkext der 
sittlichen Werte darzutun. Damit reiht sich die Ethik nur in den 
einheidichen Plan des skeptischen Lehrgebaudes ein. Was aus 
anderen Grunden von den sinnlichen Dingen, von Baum und Haus 
erwiesen wird, gilt nun auch von den sittlichen Dingen: ihr An- 
sich bleibt unerkennbar. Das skeptische Vermogen, die 6x&rrzxTf 
Suvapiz, uber die Beschaffenheit der Dinge an sich einander ent- 
gegengesetzte, gleich gut begriindete Thesen aufsteUen zu konnen, 
erstreckt sich nun auch auf die Moralphilosophie. Dafi der Mord, 
der Diebstahl usw. an sich gut sei, kann ebenso leicht bewiesen 
werden, wie dafi diese Handlungen bose sind. Beide Beweise 
haben gleich recht und gleich unrecht Denn sie streiten um ein 
unerkennbares Etwas. Und so war es kein sophistisches Kunst- 
stuck, sondem ganz im Einklang mit den tiefsten ethischen Ober- 
zeugungen der Skepsis, wenn einer ihrer grofiten Vertreter in ver- 
antwortungsvoller Mission nach Rom gesandt den einen Tag fur, 
den andem gegen die Gerechtigkeit sprach. 105 ) 

Wir wurden uns aber ein einseitiges und unvollstandiges Bild 
dieser ethischen Skepsis der Griechen bilden, wenn wir auf die 
negativen Resultate allein unsera Blick richten wollten. Vielmehr 
gilt es noch, den zwar magercn, aber fur die Beurteilung dieses 
Skeptizismus um so wichtigeren positiven Kern herauszuschalen. 
Wir haben schon wiederholt betont, dafi die Pyrrhoniker zwar das 
Ansich der Dinge fur unerkennbar hielten, die Auffassung sinnlicher 
Wahraehmungsbilder aber, der <pcny6p.sva y der Phanomene als 
Bewufitseinstatsachen durchaus anerkannten. Und die Parallel- 
erscheinung findet sich nun auf ethischem Gebiete: auch hier be- 
zweifeln sie die Erkenntnis der absoluten Werte, des Guten und 
Bosen an sich, verschliefien sich aber nicht der Einsicht, dafi uns 
Verschiedenes als gut, anderes als iibel erscheine. Fragen wir 
nun aber, was auf sittlichem Gebiete den Erscheinungen der sinn- 
lichen Dinge, also dem Gesichtsbilde eines Baumes im Gegensatz 
zum Baum an sich entspreche, so erhalten wir die unerwartete 
Antwort: Die Oberlieferung der Sitten und Gesetze. 106 ) Was 


/ 



Z writes Kapitel. Die Daretellung des griechischen Skeptizismus. 


95 


die Sitten unsres Landes, was Brauch und Gesetz vorschreiben, 
das „erscheint“ uns als gut, das Gegenteil als schlecht. Fromm- 
sein z. B. als ein Gut, Dnfrommsein als ein Gbel. Nur dafl Fromm- 
sein an sich ein Gut, Unfrommsein an sich ein Obel sei, wird 
bezweifelt 

V. Negative und positiye Konsequenzen des Skeptizismus. 

Wir haben uns in der Darstellung des griechischen Skepti- 
zismus an dessen urspriingliche Problemstellung gehalten: Wie 
sind die Dinge beschaffen? wie miissen wir uns zu ihnen verhalten? 
was folgt fur uns aus diesem unserm Verhalten? Die skeptische 
Losung des i . Problems ist mit einiger Ausfuhrlichkeit bereits be- 
handelt worden. Fassen wir dieselbe in wenige Satze noch ein- 
mal zusammen und sehen zu, was aus denselben fur die Entschei- 
dung der noch ausstehenden (2. und 3.) Fragen fur Folgerungen 
erwachsen. 

Was die BeschafFenheit der Dinge anlangt, so steht jeder 
Aussage uber dieselbe mit gleich gutem Recht eine andre gegen- 
fiber. Und diese Gleichkraftigkeit, diese Isosthenie von These und 
Antithese ist kein Zufall, sondem notwendig und wohlbegrfindet. 
Denn alle Erkenntnismittel , durch welche die BeschafFenheit der 
Dinge aufgefaCt werden konnten, sind trugerisch: Sinne und Ver- 
nunft fiihren, sowohl jedes fur sich als auch beide zusammen, zu 
widerspruchvollen Resultaten. Der Schatz der Argumente fur die 
Unzuverlassigkeit der sinnlichen Erkenntnis war in den Tropen 
des Aenesidem niedergelegt worden. So wenig wie die sinnliche 
Wahmehmung aber, enthfillt uns nun das vernfinftige, logische, 
begriffliche Erkennen die BeschafFenheit der Dinge. Die skep- 
tische Polemik gegen die BegrifFe, gegen Schliefien und Beweisen, 
gegen die Moglichkeit eines Wahrheitskriteriums; ihre Kritik der 
Induktion, die Zusammenfassung aller wesentlichen Punkte in der 
Zersetzung beider Erkenntnisarten durch die funf Tropen Agrippas 
— all das ist uns noch frisch in der Erinnerung. Ebenso die 
Zweifel nicht nur an denFormen, sondem auch an dem Inhalt 
unsrer vermeintlichen Erkenntnisse : der Sturz der einzelnen Wissen- 
schaften, der Natur-, der Religions-, der Moralwissenschaft. Die 
Folge von alledem ist die Losung des ersten Problems: die Be- 
schafFenheiten der Dinge sind unerkennbar, oder, vorsichtiger 
ausgedriickt, sind unerkannt. Und zwar der Dinge in der 
weitesten Bedeutung des Wortes; es ist ebensowenig zu erkennen 


96 


Erster Abschnitt. Die griechische Skepsis. 


moglich, wie das Ding „Tisch“ oder das Ding „Atom u oder 
das Ding „Tugend“ oder das Ding „Gott“ beschaffen ist. Man 
sieht, an Extensitat lafit der griechische Skeptizismus nichts zu 
wiinschen ubrig. Denn er erstreckt sich auf alle nur erdenk- 
baren Erkenntnisgebiete. Aber von der anderen Seite darf uns 
diese Totalitat nicht verleiten, die Einschrankungen in dem 
Satze: „Die Beschaffenheiten der Dinge sind unerkennbar “ neben 
seiner gewaltigen Ausdehnung aufier acht zu lassen. Diese Ein- 
schrankungen treten auch mit jener allgemeinen Ausdehnung gar 
nicht in Widerstreit. Sie betreffen namlich gar nicht die Gebiete, 
auf denen der Satz gilt, sondem den Sinn, in dem er gilt. Diesen 
erfafit nur, wer sich gegenwartig halt einmal, was der Begriff der 
Dinge fur die Skepsis bedeutet, und dann, dafi der Satz jede 
dogmatische Auslegung von sich weist. „ Dinge “ sind in dem 
skeptischen Satze nur als Dinge an sich, als Grund der Erschei- 
nungen zu verstehen, wie aus allem bisher Gesagten erhellen mufi; 
also der Skeptiker sagt nicht, dafi er die Beschaffenheiten der ihm 
erscheinenden Dinge nicht erkenne; dafi ihm der Honig nicht 
siifi, der Mord nicht schlecht, Gott nicht vorsorglich „erscheine“; 
sondem nur, dafi er nicht wisse , ob diese Eigenschaften dem Honig 
an sich, dem Morde und Gott an sich zukamen. — Unter dem 
„sind unerkennbar" darf nicht dogmatisch die ewige, prinzipielle 
Unerkennbarkeit verstanden werden; sondem nur, dafi diese Dinge 
bis zum gegenwartigen Augenblick unerkennbar zu sein scheinen. 
Wenigstens dem Pyrrhoniker, der den dogmatischen Negativismus 
einiger Akademiker verwirft. Denn sonst wiirde er mit sich selbst in 
Widerspruch geraten; erkennt er doch keine generellen Wahrheiten 
an, sondem nur individuelle, d. h. seine subjektiven Bewufitseins- 
zustande. Nach diesen Vorerinnemngen wird es leicht sein, die Ant- 
worten auf die zwei noch ausstehenden Fragen zu geben. Die erste der- 
selben lautete: Wie miissen wir uns zu den Dingen verhalten? Hier 
lafit sich die Antwort der Skepsis am klarsten unter zwei Gesichts- 

i 

punkten betrachten; jeder Teil der Antwort entspricht dabei einem 
bestimmten Teile der Frage. Denn auch diese spaltet sich ganz natur- 
gemafi in die beidenProbleme: was diirfen wir den Dingen gegenuber 
nicht tun, und was durfen wir tun? Die Antwort wird also nur 
dann vollstandig sein, wenn sie unser negatives und positives Ver- 
halten den Dingen gegenuber zum Ausdruck bringt Mit dem 
negativen Verhalten beginnen wir. Es ist fur die Skepsis, ihrer 
vorwiegend destruktiven Tendenz entsprechend, das wichtigere. 



Zweites Kapitel. Die Dantellung des griechischen Sleep tizismus. 


97 


Aus der Dnerkennbarkeit der Dinge folgerten die griechischen 
Zweifelschulen zunachst ganz allgemein, dafi sich der Mensch den 
Dingen gegeniiber nur spahend (das ist die ursprungliche Bedeutung 
von skeptisch), nur zuriickhaltend (ephektisch), immer forschend 
(zetetisch), niemals iiberzeugt (dogmatisch), stets verlegen (aporetisch) 
verhalten miisse. Daher nannten sich die Anh&nger dieser Lehre: 
Skeptiker, Zetetiker, Aporetiker, Ephektiker — auch wohl 
nach dem Stifter der Schule Pyrrhoniker. 107 ) Doch batten manche 
gegen die letztere Bezeichnung etwas einzuwenden: da namlich 
der Mensch nach den Lehren der Skepsis nichts als seine eigenen 
Bewufitseinszustande erkennt , so kann er nie sicher sein, diejenigen 
eines anderen (also etwa die Seelendisposition eines Pyrrho) zu 
besitzen. 108 ) Es ist ebenso nur eine Konsequenz der Prinzipien, 
wenn die griechische Skepsis es ablehnte, in gleicher Weise wie 
die anderen, dogmatischen Genossenschaften, eine Schule, Sekte, 
Partei (aflpetitg) genannt zu werden, — welches immer die Zustim- 
mung zu einem geschlossenen System von Lehransichten bedeutet 
— sondem es vorzog, sich selbst als eine Richtung (ayGoyrj) zu 
bezeichnen. 10 *) Im einzelnen aber ergibt sich aus dieser Philo- 
sophic der totalen Unwissenheit noch folgendes: konnen wir die 
wirkliche Natur der Dinge an sich nicht erkennen, so diirfen wir 
auch nichts iiber dieselbe aussagen, sondem miissen uns des 
Urteils uber sie vollig enthalten. Und zwar gleichermafien nach 
der veraeinenden wie nach der bejahenden Seite. Ich darf also 
nicht (wie die skeptische Ansicht oft mifiverstanden wird) aus der 
Unerkennbarkeit der Gotter z. B. schliefien, dafi es keine Gotter 
gibt. Das Urteil des Skeptikers ist weder positiv, noch negativ, 
sondem neutral. Die Epochs definierte die griechische Skepsis 
daher als „ein Stillstehen der Einsicht, infolgedessen wir weder 
etwas aufheben noch setzen". 110 ) Von diesem Verhalten aus er- 
ledigt sich die Frage: treibt der Skeptiker eine Wissenschaft? 
von selbst. Die Antwort kann nur vemeinend lauten. Denn wir 
hatten schon friiher einmal bemerkt, dafi das ganze Altertum (im 
Gegensatz zu gewissen neueren Richtungen) unter der Wissenschaft 
die Erforschung eben der verborgenen Natur der Dinge an sich 
und ihrer notwendigen Zusammenhange, nicht aber die methodische 
Beobachtung und Gruppierung der Erscheinungen versteht Darum 
betonten die griechischen Skeptiker durchaus, dafi sie keine Wissen- 
schaft betrieben. Mit Physik, Logik und Ethik befafiten sie sich 
nur, um jeder These eine gleichstarke Antithese gegenuberstellen 

Richter, Skeptizismus. 7 



9 8 


Enter Abschnitt. Die griechische Skepsis. 


und dadurch den Zusammenbruch dieser Disziplinen bewirken zu 
konnen. 111 ) Ganz im Einklang mit diesen Grundsatzen hat die 
Skepsis eine Reihe von Redensarten ausgebildet, von denen die 
wichtigsten und ihre Kommentierung durch die Skepsis hier auf- 
gefuhrt werden mogen. Zunachst begegnen wir uberall in den 
Schriften des Sextus bei der Entwicklung seiner Ansichten den 
Konjunktiven : es durfte, es mochte, es kdnnte scheinen, ebenso 
einem zur stehenden Phrase gewordenen „ vielleicht"; dafi diese 
Redewendungen die Unentschlossenheit und vorsichtige Zuruck- 
haltung des Skeptikers auch bei den scheinbar einfachsten und 
selbstverstandlichsten Satzen zur Schau tragen woUen, leuchtet ein. 
Eine Reihe sehr typischer Ausdriicke, die auch von der Schule 
selbst als skeptische Redensarten, tixetrrixal <pooyai^ bezeichnet 
wurden lls ), sind die folgenden: 

Um nichts mehr, ovSir paWov — was bedeuten sollte: 
um nichts mehr dies als jenes; z. B. der Honig um nichls mehr 
sufi als bitter. Schon Demokrit hatte den gleichen Ausdruck ge- 
braucht. Aber, wie die Skepsis meinte, in dogmatischer Ver- 
wendung. Dem Demokrit war der Honig nicht mehr sufi als bitter, 
weil er weder sufi noch bitter war, sondem in Wahrheit nur ein 
Komplex qualitadoser Atome. Dieser dogmatischen Lehransicht 
pflichtete der Skeptiker naturlich nicht bei. Ihm bedeutet das 
ovdiv fidXXov nicht: weder — noch, sondem: vielleicht ist er sufi, 
vielleicht ist er hitter, vielleicht keines von beiden. Manche aber 
druckten den skepdschen Standpunkt schon durch die gramma- 
tikalische Konstruktion aus, indem sie den Inhalt in eine Frage 
kleideten und statt ovShv pidXXor zu behaupten , xi ptdXXor, um 
was mehr? fragten. Wir werden in ahnlicher Weise spater die 
Weltanschauung eines andem grofien Skeptikers, — Michel de 
Montaignes — in dem Erzittem einer bestindigen Frage: Que 
sais-je? ausklingen sehen. 

Auch die Ausdrucke vielleicht, tax** es ist moglich, 
ife6xi, es kann sein, irSixetat zahlt der Skeptiker zum festen 
Bestande seines Lexikons; sie bedeuten ihm und stehen ihm fur: 
vielleicht ist es, vielleicht ist es nicht, es ist mdgHch, dafi es ist, 
und dafi es nicht ist, es kann zwar sein, dafi es ist, es kann aber 
auch sein, dafi es nicht ist 

Die skeptische Redensart alles ist unbestimmt, xecrx* 
aopi&ca, bemuht sich Sextus moglichst vor dogmatischen hfifi- 
verstandnissen zu schiitzen. Alles bedeutet hier nur: dies, was der 



Zweites Kapitel. Die DarsteUung des giiechischen Skeptizismus. 


99 


Skeptiker von den bei den Dogmatikem vorkommenden Aussagen 
uber reale Dinge verfolgt hat; „ist unbestimmt u steht auch nicht 
ala dogmatische Aussage fiber das Sein dieser Dinge, von denen 
der Skeptiker ja nichts weifi, sondem fur: erscheint mir un- 
bestiinmt Das gleiche gilt von dem 

ich bestimme nichts, ovShr opiZoo\ womit der Skeptiker 
nur sagen will: ich befinde mich fiir jetzt in einem solchen Zu- 
stande, dafi ich nichts von den Dingen, welche unter diese augen- 
blickliche Untersuchung fallen, in dogmatischer Art setze oder auf- 
hebe. Die gleichen Erganzungen sind bei den Worten: 

alles ist unauffafibar, navta axataXipcra, ich fasse nichts 
auf, hinzuzudenken. Immer nur handelt es sich hier um Aus- 
sagen, die der persdnliche, gegenwartige Zustand des Pyrrhonikers 
fiber die Objekte, wie sie unabhangig vom Subjekt oder an sich 
bestehen, fallt. Niemals beansprucht diese Aussage allgemeine 
Gultigkeit fur andere Zeiten und andere Wesen; niemals betrifft 
der Gegenstand, fiber den sie berichtet, die subjektiven Phano- 
mene. So verstehen wir nun auch besser, was die Skepsis eigent- 
lich mit der Urteilsenthaltung und der Aussagelosigkeit ausdrucken 
wollte. 

ich halte an mich, hrixco, bedeutet nur: ich vermag nicht 
zu sagen, welchen der in Rede stehenden Ansichten man glauben 
mufl und welchen nicht. Damit wird nur gemeint, dafi die Ansichten 
uns alle gleich glaubwurdig erscheinen, nicht, dafi sie gleich glaub- 
wiirdig sind. In gleicher Weise ist die skeptische Aphasie, die 
Aussagelosigkeit, nur so zu verstehen, dafi sie ein Abstandnehmqn 
von der Aussage bedeutet, die (nicht etwas fiber die Erscheinungen 
sondem) etwas fiber die verborgene Natur der Dinge an sich be- 
jaht oder vemeint; und selbst das soil nicht heifien, dafi die Dinge 
von Natur so beschaffen sind, dafi sie zur Aussagelosigkeit ndtigen, 
sondem der Skeptiker meldet mit der Aphasie nur einen subjek- 
tiven Bewufitseinszustand. Nun auch vertieft sich unser Vqrstand- 
nis der skeptischen Isosthenie, der Gleichkraftigkeit des entgegen- 
gesetzten Behauptens. Jeder These steht eine gleichkraftige Anti- 
these gegenuber, ist das Prinzip dieses Verfahrens. Aber die 
einzelnen Worte in diesem Satze bedfirfen der Einschr&nkung; 
unter „Jede“ ist jetzt nur noch „jede vpn mir dem Skeptiker 
durchgepriifte These 11 , nicht etwa jede im absoluten Sinne zu ver- 
stehen; „ These" bedeutet nur die Aussage fiber die verborgene 
Natur der Dinge, nicht fiber der en Erscheinungen; und endlicb bei 

7 * 



IOO 


Erster Abschnitt Die griechische Skepsis. 


dem „steht eine gleichstarke Antithese gegenuber" ist ein „wie 
mir scheint“ stillschweigend hinzuzufugen. 

Aus dieser Kommentierung , die der griechischen Skepsis selbst 
entstammt, ist ersichtlich, dafi die skepdschen Redensarten nicht 
an sich und fur alle Zeiten, sondem nur relativ, namlich fur den 
Skeptiker, und auch fur ihn nur in dem Augenblick, in dem er 
diese Ansichten ausspricht, Geltung haben sollen. Damit erledigt 
sich der Einwand 9 die Pyrrhoniker seien nur dogmatische Nega- 
tivisten: wahrend die positiven Dogmatiker behaupten, man konne 
die Beschaffenheiten der Dinge erkennen und die Wahrheit finden, 
behaupten die Skeptiker nicht etwa ebenso entschlossen, be- 
stimmt und in dem gleichen Sinne, sondem durchaus in indivi- 
dueller, temporarer und objektiv-realer Einschrankung das 
Gegenteil. 

Nicht minder geschickt verstanden sie es, den bedenklicheren 
Hieb der Dogmatiker zu parieren, wenn diese darzutun suchten, 
dafi die skeptischen Redensarten, wie: alles ist unbestimmbar, un- 
aufFafibar usw. sich selber aufhoben. Denn, wenn alles unbe- 
stimmbar ist, so auch dies, dafi alles unbestimmbar ist. Da dieser 
Konsequenz nicht auszuweichen war, so gaben die Skeptiker als 
die Klugeren hier durchaus nach, indem sie zugestanden: aller- 
dings hoben sich diese Redensarten, als dogmatische Thesen gefafit, 
selber auf. Das kame aber der Sache der Skepsis durchaus nur 
zugute. Denn erstens gabe es dem Skeptiker Anlafi nochmals zu 
betonen, er behaupte ja gar nicht, dafi alles unaufFafibar, dafi etwa 
die Natur der Dinge eine grundsatzlich unerfafibare sei, sondem 
nur, dafi ihm alles unaufFafibar erscheine; dieser sein eigener 
Gemutszustand (xaSog) aber, den er erleide, sei der einzig voll- 
kommen gewisse, unerschutterliche Rest aller Behauptungen eines 
Menschen, konne durch nichts aufgehoben werden, und nur ihn 
verkunde er. 11 *) Als Redensarten von uberindividueller und uber- 
momentaner Geltung kehrten die tixerttvcal <poovai — lafit man sie 
selbst, was logisch durchaus zulassig ware, nicht die einzige Aus- 
nahme der durch sie verkundeten Regeln sein 114 ) — allerdings die 
todliche Spitze gegen sich selbst; zugleich aber gegen die Dinge, 
uber die sie Aussage machten. Sie wirken hier also wie ein 
Purgativ, das nicht nur die Flussigkeiten aus dem Kdrper fort- 
raumt, sondem auch sich selbst mit den Flussigkeiten zugleich 
entFemt 115 ); sie gleichen dem Feuer, das mit dem StofF, den es 
verbrennt, zugleich sich selbst verzehrt 116 ); und wer sie vertritt, 



Zweites Kapitel. Die Darstellung des griechischen Skeptizismus. 


IOI 


tut nichts andres wie ein Mann, der die Leiter, auf deren Stufen 
er die Hohe erklommen, danach mit dem Fufie umstofit. 117 ) Ge- 
schickter als durch diese ebenso ubermutigen wie geistreichen Ver- 
gleiche war der Vorwurf von der Selbstaufhebung der skep- 
tischen Grundsatze — wenn er iiberhaupt zu parieren ist — 
kaum abzuwehren. 118 ) 

Man wird den Eindruck gewonnen haben, daft die griechische 
Skepsis an Folgerichtigkeit und Kiihnheit auch in der Losung des 
zweiten Problems: wie mussen wir uns zu den Dingen verhalten? 
nichts zu wunschen ubrig lafit. Wenigstens was das negative 
Ergebnis anlangt. Sehen wir zu, ob das Gleiche auch fur den 
positivenTeil zutrifft. Diese positive Seite ist nicht ohne Interesse. 
Durch sie gewinnt die Skepsis uberhaupt erst wieder Fuhlung mit 
dem Leben. Bestiinden die praktischen Folgerungen des theoreti- 
schen Skeptizismus einzig in der eben gezeichneten Negation, so 
bliebe dem Skeptiker nichts ubrig als sprachlos einzurosten oder 
allenfalls in stumpfsinniger Untatigkeit durch das Leben hinzu- 
dammem. Das taten aber zumal die jungeren Skeptiker keines- 
wegs. Sie waren streitlustige, zum Teil hoch gebildete, in einem 
festen Beruf stehende Manner. Sextus war ein angesehener Arzt, 
der neben seiner medizinischen Praxis umfangreiche philosophische, 
von zielbewuftter Denkart zeugende Biicher verfafitel Erkauften 
die Skeptiker dies positive Verhalten den Dingen gegeniiber nur 
durch eine grobe Inkonsequenz, durch einen offenen Abfall von 
ihrer Theorie der Epochs und Aphasie, so kann es uns nicht 
weiter interessieren. Dem ist aber nicht so. Auch die positive 
Seite im skeptischen Verhalten den Dingen, der Welt, dem Leben, 
selbst der Wissenschaft gegeniiber haben diese Manner entwickelt 
und begriindet. Dies positive Verhalten wird sich naturgemafi aus 
dem positiven Teil der skeptischen Theorie, aus der Anerkenntnis 
der Erscheinungen, der <paiv6/jiera , herleiten. Deren Wirklichkeit 
zu bezweifeln, kam dem Skeptiker niemals in den Sinn. Unter 
Erscheinungen im weiteren Sinne versteht die Skepsis immer unsre 
passiven, von selber evidenten, sich uns ohne unser Zutun auf- 
drangenden Bewufttseinsinhalte. 119 ) Diese bestehen zunachst in den 
elementaren Trieben und Gefuhlen , wie in dem unwillkiirlichen Ab- 
lauf unsrer intellektueUen Funktionen, der Empfindungen und der Ge- 
danken. So erkennt der Skeptiker an, daft ihn hungert und diirstet, 
daft ihm der Honig siifi, die Luft warm oder kalt erscheint, und hier 
halt er mit seinem Urteil nicht zuriick. 120 ) Da er die Realitat dieser 



102 


Erster Abschnitt. Die griechische Skepsis. 


psychischen Zustande als unmittelbarer Erlebnisse nicht im geringsten 
bezweifelt, so gibt er sie nicht nur mit Worten zu, sondem fugt 
sich ihnen auch durch die Tat; d. h. er iflt, wenn er Hunger, und 
tr inlet, wenn er Durst hat; er str&ubt sich auch nicht gegen die 
Empfindungen und Gedanken, die auf ihn einsturmen. Denn 
die Befriedigung der animalischen Funktionen setzt ja nicht die 
geringste dogmatische Oberzeugung von der wirklichen Beschaffen- 
heit der Dinge an sich voraus, so wenig wie dies der Ablauf der 
Wahmehmungen und logischen Operationen fur sich betrachtet 
tut. Diesen Teil ihres positiven Verhaltens nannte die Skepsis: 
nach Anleitung der Natur leben (namlich die naturlichen 
Funktionen des Wahmehmens und Denkens vollziehen), txprjyrfitt 
<pv6ixjf, xaS* tfv qjvtiixdbg aitferjTixol xai rorfztxoi und sich 

der Notigung durch die Zustande (des Hungers, Durstes usw.) 
fugen, naStibv avayxy, xa$* rjr Xt pog yJkv in\ tQoqrijv fffiag oStj- 
yet , diipog Sh iit\ 7tOfjta. ltl ) 

Aber sowohl auf emotionalem wie intellektuellem Gebiet ging 
die Skepsis fiber diese positiven Rudimente hinaus. Wollte man 
sich in seinem Willen nur von den elementaren Begierden lenken 
lassen, so hatte das Leben je nach der Individuality seines Tragers 
sich in wfistem Taumel oder fauler Gieichgfiltigkeit, stets aber in 
einem richtungslosen, von den zwingenden Bedurfnissen des Augen- 
blicks eingegebenen Verhalten erschopft. Ein irgendwie einheit- 
lich geordnetes oder gar ffir alle in ihnlicher Weise ablaufendes 
Handeln nach der Richtschnur allgemeingfiltiger Normen wfire aus- 
geschlossen. Dennoch versuchte die Skepsis die Berechtigung zu 
einem solchen aus ihrer Theorie heraus sich zu erobem. Das ge- 
schah, als sie die Frage beantwortete: wie der Skeptiker in sitt- 
licher, religioser, politischer Beziehung zu leben habe. Hier nam- 
lich konstruierte die Skepsis im Gebiete der Werte, die den Willen 
leiten sollten , die namlichen Unterschiede wie im Gebiet der Wirk- 
lichkeit. Als Erscheinungen und Zust&nde gelten ihr hier die Sitten, 
die religiosen Gebrauche, die politische Verfassung des Landes, 
dem man angehort. 1 ”) Ihnen unterwirft sich der Skeptiker an- 
sichtslos (aSoZatitGog), d. h. ohne davon fiberzeugt zu sein, dafi 
sie das an sich Gute, Gottliche, politisch Richtige verkfinden. 1 * 8 ) 
Pyrrho selbst war Oberpriester und verwaltete dies Amt durchaus 
im Einklang mit seiner skeptischen Lehre! Die Oberlieferung 
durch die Sitten und Gesetze ist also neben der Anleitung 
durch die Natur und der Abnotigung durch die Zustande das dritte 



Zweites KapiteL Die Darstellung des griechischen Skeptizismus. 103 

Kriterium 124 ), das der Skeptiker fur sein positives Verhalten den 
Dingen gegenuber besitzt Er wird ebensowenig morden und 
stehlen, wie diirsten und hungem, oder die siifie Empfindung, die 
der Honig ihm erregt, bestreiten; sondern er lebt den Gesetzen, 
Sitten und religiosen Vorschriften gemafi als durchaus brauchbarer 
Staatsbiirger. 

Dem erhoht-positiven Verhalten seines Willens aber geht nun 
auch eine mehr anteilnehmende Stellung seines erkennenden Ver- 
standes zur Seite. Nur im Voriibergehen nehmen wir davon Notiz, 
dafi ganz vereinzelt in den Schriften der Skeptiker sogar der Ver- 
such gemacht wird, die eigenen Parteigenossen als die eigentlich 
Erkenntnisfreudigen hinzusteUen: „denn nicht fur die, welche nicht 
zu wissen eingestehen, wie die Dinge an sich beschaffen sind, ist 
es widersprechend sie noch zu erforschen, wohl aber fur diejenigen, 
welche diese genau zu kennen wahnen; denn fQr die einen ist die 
Forschung schon ans Ziel gelangt nach ihrer Annahme, fur die 
andem aber ist das, worauf jede Forschung beruht, noch vor- 
handen, die Meinung namlich, noch nicht gefunden zu haben 14 . 125 ) 
Aber diese AufTassung ist nach den grundsatzlichen Bedenken 
gegen jede Erkenntnis einer objektiven Realitat und mehr noch 
gegen alle logischen Operationen ganz dem Geist der Schule zu- 
wider, und wer das Wesen des Skeptizismus hierin erblickt, darf 
sich jedenfalls nicht auf die Pyrrhoniker — trotz der Selbstbezeich- 
nung: die Suchenden — berufen. 12 ®) Ganz im Geiste der voll- 
ausgebildeten Lehre aber ist es: die Obemahme eines Berufs, 
einer Kunst {tixyrj) mit den theoretischen Voraussetzungen fur 
vereinbar zu halten. Soweit die Berufswahl AusfluG jenes un- 
widerstehlichen Dranges ist, dem wir in der Befolgung von Sitte, 
Religion und Verfassung folgen sollen, wlirde sie kein neues Mo- 
ment zutage for dem. Aber die Skepsis flihrte sie als ein beson- 
deres Kriterium fur unser Verhalten im Leben an und nicht ohne 
Grund. In der Ausubung eines Berufs sah sie nicht nur die Unter- 
werfung unsres Willens unter eine zwingende Erscheinungsnorm, 
sondem vor allem die Betatigung einer Erkenntnis, die gerecht- 
fertigt werden mufite. Das ist der vierte und letzte Punkt Frei- 
lich scheint es, als ob das iiber ihn zu Sagende nur fur die jungeren 
Skeptiker, etwa nach Aenesidem, Geltung hatte, wahrend die vorigen 
drei FaUe, in denen sich der Skeptiker im Leben bet&tigt und zu 
den Dingen Stellung nimmt, schon nachweislich von Pyrrho gelehrt 
und — gelebt worden sind. 



104 


Efster AbsdmitL Die griechische Skepsis. 


Wie aber kann der Skeptiker einen Beruf ubernehmen — 
etwa den der Medizin — wenn er die wirkliche Beschaffenheit der 
Dinge fur schlechthin unerkennbar halt, die Gultigkeit des Kausal- 
prinzips und der logischen Normen anzweifelt und die Induktion 
als ungenugendes Erkenntnismittel verwirft? Auch auf diesem 
heiklen Punkte verweigert uns der griechische Skeptiker die Ant- 
wort nicht. 1 * 7 ) Wieder geht er von den Erscheinnngen und Zu- 
standen, als unsern inneren Erlebnissen, aus. Er wird sich also in 
seinem medizinischen Beruf nur an diese halten; er beobachtet 
z. B. die Erscheinung der Schweifiabsonderung, des Wundseins, 
der Fieberhitze. Das steht mit seinen skeptischen Grundthesen 
nicht im Widerspruch. Aber mit der Beobachtung der Erschei- 
nungen ist es nicht getan. Um Krankheiten zu behandeln, mufi 
sich der Arzt auch iiber den Zusammenhang der Erschei- 
nungen orientieren; er mufi wissen, was Schweifiabsonderung, was 
Wunden, was Fieber hervomift, und welche Arzneimittel diese Er- 
scheinungen zum Schwinden bringen. Glaubt man nun mit den 
Dogmatikem, dafi diese Vorgange in einer ewig gleichen, not- 
wendigen und in den Dingen selbst begrundeten Kausalverknupfung 
bestehen (dafi etwa Fieber notwendig Pulsbeschleunigung hervor- 
ruft und Quecksilber notwendig die Fiebertemperatur sinken macht), 
so kann der Skeptiker dem naturlich nicht beistimmen. Denn von 
absoluten und notwendigen, durch die Dinge selbst bedingten Ge- 
setzen weifi der skeptische Relativist nichts, und dem Kausalprinzip 
kann er nach Aenesidems vemichtender Kritik desselben keine 
Gultigkeit zuerkennen. Dennoch — und das ist das Wesentliche 
— macht sich auch der Skeptiker nicht nur Vorstellungen von 
den Erscheinungen, sondera auch vom Zusammenhang der Erschei- 
nungen. Dieser Zusammenhang kann von ihm weder an der Hand 
des Kausalprinzips erschlossen noch durch irgendwelche Beschaffen- 
heit der Dinge an sich erkannt werden. Seine Auffassung beruht 
vielmehr einfach auf der ofters gemachten Beobachtung von der 
zeidichen Folge oder dem zeitlichen Zugleichsein zweier Erschei- 
nungen. Tritt nun die eine Erscheinung ein, so erwartet auch 
der Skeptiker, dafi jetzt die andre Erscheinung, die er oft mit der 
ersten verbunden gesehen hat, eintreten werde. So zweifelt er 
nicht daran, dafi, wenn Rauch aufsteigt, Feuer da sein wird, und 
ebensowenig, dafi, wo eine Narbe sichtbar ist, eine Wunde da- 
gewesen sein mufi. Alles das aber erwartet er nicht, weil er die 
Erkenntnis gewinnt, im Wesen vieler brennenden Korper liege es, 



Zweites Kapitel. Die Darstellung des griechischen Skeptizismus. 105 

ein Gemisch von Gasen und festen Teilchen in die Luft aufsteigen 
zu lassen, im Wesen der fleischigen Gewebe, sich zur Narbennaht 
zusammenzuschliefien, sondern nur weil er in vielen Fallen die be- 
obachteten Erscheinungen (Rauch — Feuer, Wunde — Narbe usw.) 
zusammen verbunden oder aufeinander folgend gesehen hat. 

Und da ist es nun fur das zahe Festhalten an dem eigenen 
Grundstandpunkt bezeichnend, dafl die Skepsis diese Erwartung 
nicht als einen aktiven logischen Prozefl etwa in der Form eines 
Induktionsschlusses von vielen Fallen auf alle ansah — hatte 
sie doch durchaus die Induktion als Erkenntnisvehikel verworfen 

— sondern diese Erwartung gleichfalls rein als ,,Erscheinung“, 
und als „Zustand“ fafite, unter Wahrung der ganzlichen Passi- 
vitat dieser Vorgange. Ausdrucklich wird die Erkenntnis des Er- 
scheinungszusammenhangs den „abgenotigten Zustanden 1 * 1 * 8 ) unter- 
geordnet; wie iiberall, so fugt sich*auch hier der Skeptiker nur 
einem erlebten Erscheinungsbild (< tpavratiia na^rftixrj). 133 ) Die leider 
nur sparlichen Andeutungen uber den Unterschied des anzeigenden 
und des erinnernden Zeichens weisen die Richtung, in der 
dieser Vorgang zu suchen ist. Wahrend die Skepsis namlich jedes 
anzeigende Zeichen (piyxetov IvSeixtixov) — wie wir bereits sahen 180 ) 

— verwarf, bekennt sie sich ebenso ausdrucklich zu der Anerkennt- 
nis des erinnernden Zeichens (6ij/jLeiov vno\ivvfi%ixoY ). Wollen wir 
in uns verstandlicher Sprache den Unterschied beider Zeichen- 
gruppen formulieren, so ware zu sagen: das anzeigende Zeichen 
dient dazu, die unbekannte Natur der Dinge an sich vermbge der 
aktiven logischen Operationen zu ermitteln; das erinnemde Zeichen 
dient dazu, die zurzeit unbekannten Erscheinungen durch den 
passiven Zwang der Assoziation zu erkennen. m ) Das er- 
innemde Zeichen ist vom Leben beglaubigt ( vno rov fttov 7C£7ti- 
dTii/ierov) 13 *), von der Erfahrung (IftMEipcog) bestatigt. So erkennt 
der Skeptiker nicht nur Erscheinungen, sondern auch den Zu- 
sammenhang der Erscheinungen, und diesen zwar: nicht durch 
logische Analyse, sondern assoziative Synthese. Dabei handelt es 
sich um den Zusammenhang solcher Erscheinungen, von denen nur 
ein Glied in der sinnlichen Wahmehmung gegeben ist, das andre 
aber als Vergangenes, Zukiinftiges oder gegenwartig Verschleiertes 
nicht unmittelbar wahrgenommen werden kann. „Das erinnemde 
Zeichen, das zugleich mit dem Bezeichneten sinnfallig beobachtet 
worden ist, fuhrt uns, sobald es sich darstellt, wahrend das Be- 
zeichnete unsichtbar geworden ist, zur Erinnerung des mit dem 



io6 


Enter Abschnitt Die griechische Skepsis. 


Bezeichneten zugleich Beobachteten, wahrend dieses augenblicklich 
sinnfallig sich nicht darstellt, wie beim Rauche und dem Feuer. 
Diese beiden namlich sahen wir oftmals im Zusammenhang mit- 
einander bestehen, und nun erinnera wir uns sogleich, wie wir 
das eine sehen, namlich den Rauch, an das andre, namlich das 
unsichtbare Feuer. Derselbe Fall trifft auch zu bei der Narbe, 
die der Wunde folgt, und bei der Herzverletzung, die dem Tode 
vorangeht; denn, wenn wir eine Narbe sehen, erinnera wir uns 
der vorangegangenen Wunde und beim Anblick der Herzverletzung 
sehen wir den kommenden Tod voraus. Das ist die Art des er- 
innemden Zeichens. u 1S4 ) So vermag auch der Skeptiker fiber den 
Umkreis des unmittelbar Gegebenen hinausschreitend eix\e gewisse 
Regelmafiigkeit im Erscheinungslauf zu erkennen, dadurch die Zu- 
kunft vorauszusehen, die Vergangenheit zu durchdringen, das in 
der Gegenwart Verborgene doch vorhanden zu wissen. Er besitzt 
eine gewisse Beobachtungsmethode (trfprjrtxrf axoXovSia) im Ge- 
biet der Erscheinungen , „nach der er sich erinnert, welche Erschei- 
nungen er mit welchen, welche vor welchen, welche nach welchen 
gesehen hat, und aus der Erinnerung der ersteren die fibrigen 
ins Gedachtnis zurfickruft". 186 ) Mehr aber bedurfte es seiner 
Meinung nach nicht, um die Erkenntnisaufgaben eines Berufs zu 
erfullen. 

Hier nun liegt die Brficke, durch die sich die Skepsis dem 
Methodus unter den Arzteschulen verbunden fuhlte. Auch diese 
Sekte glaubte ihr Heilverfahren nur auf ein Sichleitenlassen durch 
die Erscheinungen zurfickzufiihren. Krankheitszustande und Heil- 
mittel sind nach ihr unloslich in unsem Vorstellungen als assoziative 
Faktoren verbunden; jene weisen auf diese als ihre Anzeige (ev- 
deigtg): Zusammenziehung auf Lockerung, Erschopfiing auf deren 
Aufhebung usw. „A11 diese Behauptungen der Methodiker konnen 
meiner Ansicht nach untergeordnet werden dem aus Erlebnissen 
fliefienden Zwange“. 186 ) Ja fur so stark hielt Skepsis und Methodus 
diesen intellektuellen Zwang, daft sie ihn uneingeschrankt dem 
emotionalen gleich setzte: vor Schmerz und Unbehagen zu flfichten. 
Wie der Hund sich den Dorn aus der Pfote zu entfernen sucht, 
wie der Erhitzte in die kfihle Luft drangt, der Durstige zum Trank 
— genau so zieht fur den Skeptiker und den gleichgesinnten Medi- 
ziner eine sinnliche Wahrnehmung die Vorstellung der mit ihr stets 
zusammen beobachteten nach sichl 187 ) Dagegen lehnte Sextus die 
Verwandtschaft mit den medizinischen Empirikern deshalb ab, 



Zweites Kapitel. Die Darsteliung des gricchischen Skeptmsmus. 107 

weil diese sich nicht nur personlich auf die Aussage iiber die Er- 
scheinungen beschrankten, sondem — ahnlich der Behauptung einiger 
Akademiker I88 ) — die Dinge an sich grundsatzlich fur unauffafibar 
hielten. Der Skeptiker fuhlt sich verpflichtet, dieser dogmatisch- 
negativistischen Note gegenuber seinen eigenen von den Methodikem 
geteilten Standpunkt abzugrenzen: dafi die Unerkennbarkeit der 
Dinge nur Gegenstand einer individuell-giiltigen Aussage sein konne. 
Bis auf diesen Punkt, der doch nur eine Ansicht iiber die von 
Skeptizismus wie Empirismus in ihrer Forschung unberucksichtigt 
gelassenen Dinge an sich betrifft, scheinen die positiven Methoden, 
nach denen beide Schulen die Erscheinungswelt durchmusterten, 
vor aliem die entscheidende Lehre vom erinnemden Zeichen, sehr 
ahnliche gewesen zu sein. Wenn es wahr ist, dafi Galen in seiner 
Darsteliung der empirischen Methode hauptsachlich dem Skeptiker 
Menodotus als Gewahrsmann folgt, so hatten die Skeptiker 
sogar noch viel weitere Gebiete der Erkenntnismoglichkeit er- 
schlossen — so weite , dafi man kaum mehr versteht, wie so scharf- 
sinnigen Mannem die Unvereinbarkeit dieser Folgerungen mit den 
eigenen Grundvoraussetzungen entgehen konnte. Dann namlich 
hatten die Skeptiker mit den Empirikem verschiedene Arten der 
Beobachtung unterschieden und die ,,naturlichen“ und „zufalligen“ 
gegen die beabsichtigten und wohldurchdachten , die TTfprjdig fiiifiitf- 
Tixrj abgegrenzt. Letztere bestand darin, die Wirkung eines Mittels 
in ahnlichen Fallen wiederholt zu beobachten, und dabei das Ein- 
treten des Erfolges — ob immer, ob oft, ob ebenso oft wie der 
Mifierfolg, ob seltener — zahlenmafiig festzustellen. Die Krank- 
heiten sind rein nach ihren Symptomen, den konstanten und in- 
konstanten, nicht zu definieren, sondem zu beschreiben. Dabei 
ist die eigene Arbeit durch die geschichtlichen Zeugnisse der Vor- 
ganger in vorsichtiger Beriicksichtigung von deren Glaubwiirdigkeit 
zu ergSnzen. Wo aber direkte Beobachtung und Beobachtung 
andrer uns im Stich lassen, da mufi der Analogieschlufi von Ahn- 
lichem auf Ahnliches (rj tov ojioiov petafiatiig) uns weiterfuhren. 
Solange nun das Experiment nicht den Erfolg dieser Analogie 
entschieden hat, ist ein solcher nur mdglich, hochstens wahr- 
scheinlich. Hat aber nur ein einziges Experiment ihn bestatigt, so 
ist er auch absolut gewifi! Und ausdriicklich unterscheidet Menodot 
den rohen und unmethodischen Empirismus (irrationalem eruditionem) 
von der denkenden Erfahrung, wie es spater von Bacon so ener- 
gisch geschah. 



108 Enter Abschnitt Die griechische Skepsis. 

Wenn auch die Skeptiker in der Darlegung der positiven 
Teile ihrer Philosophic aufierst reserviert und fast verlegen sich 
ausdriicken, so ist doch kein Zweifel, dafi wir es hier mit der 
Ausbildung einer rudimentaren empiristischen Theorie im 
Sinne des neueren Positivismus zu tun haben. Es sind hier 
Gedanken Humes und Mills vorgeahnt , ja in einer Knappheit und 
Schlichtheit ausgesprochen, dafi der Kenner in bewundemdem 
Staunen sich gestehen mufi: das Wesentlichste auch der aller- 
modemsten philosophischen Betrachtimgsweise ist von der Antike 
in grandioser Einfachheit verkundet worden 1 Zumal die Verwandt- 
schaft mit Hume und der ganzen Richtung , die gerade heute 
wieder besonders eifrig in dessen Spuren wandelt, ist geraderu 
verbluffend. Wenn man mit Verstandnis und im Bewufitsein, dafi 
bei den sparlichen Fragmenten, die uns gerade von diesem Teil 
ihrer Lehre uberkommen sind, jeder Satz gnindlich aufgenommen 
sein will, die betreffenden Partien in des Sextus Schriften sich 
vornimmt, so erscheinen dieselben geradezu wie ein komprimierter 
Extrakt von Humes breiter Kausalitatsanalyse. Auch der Pyrrho- 
niker glaubt — mit Hume — dafi an inhaltlichen Erkenntnissen 140 ) 
wir allein etwas von den unmittelbar gegebenen Erscheinungen 
und dem Zusammenhang dieser Erscheinungen wissen konnen. In- 
wieweit diesen Erscheinungen und diesem Zusammenhang eine 
objektive Realitat entspricht, bleibt zweifelhaft. Auch der Pyrrho- 
niker glaubt — mit Hume — dafi dieser Zusammenhang einzig 
aus der Erfahrung — by experience nennt es der eine, durch 
fiiGotixal ijirteiplai der andre — uns bekannt wird. Auch der 
Skeptiker glaubt — mit Hume — diese Erfahrung dadurch be- 
dingt, dafi eine Erscheinung, die mit einer andem oft zusammen 
oder kurz nacheinander im Bewufitsein war, bei emeutem Auf- 
treten sofort die andre Vorstellung passiv nach sich zieht — als 
erinnemdes Zeichen wirkt, nennt es der eine, sich mit ihr asso- 
ziiert, der andre — ; auch der Skeptiker glaubt — mit Hume — , 
dafi die auf solche Weise gewonnene Erkenntnis des Erscheinungs- 
zusammenhangs zur praktischen Orientierung in der Welt genugt, 
zur Obemahme einer tixYV sagt der eine, to the regulation of 
our conducts der andre. Man sieht: wahrend die pomphafte 
Kausalitatskritik Aenesidems kaum mit einem Gedanken Humes 
empiristische Theorien streift, haben wir hier in den wenigen zum 
Teil verstiimmelten Zeilen von unbekannter Hand fast alle wesent- 
lichen Punkte dieser Theorie in nuce vor uns. Die Lehre vom 



Zweites Kapitel. Die Darstellung des griechischen Skeptizismus. 109 

erinnemden Zeichen und das Bekenntnis zu ihm als der einzigen 
Quelle, aus der fiber nicht unmittelbar Gegebenes sich eine richtige 
Vorstellung machen lafit, bei der skeptischen Haltung einem ab- 
solut-realen und absolut gfiltigen Kausalprinzip gegenuber — dies 
ist zweifellos der modemste Teil am Pyrrhonismus. 

Freilich ein grofier Unterschied in der Bewertung dieser 
Gedanken besteht zwischen den heutigen Positivisten und den 
antiken Skeptikem. Diese hielten an dem Bestehen einer realen, 
unabhangig vom Bewufitsein befindlichen und gesetzmafiig geord- 
neten Wirklichkeit streng fest, und nur die Erkenntnis dieser Wirk- 
lichkeit und ihrer Gesetze war ihnen Wissenschaft. Deshalb glaubte 
der Skeptiker mit blofier Beobachtung der Erscheinungen und der 
Vorstellung ihres Zusammenhangs an der Hand des erinnemden 
Zeichens keine Wissenschaft zu betreiben , sondem nur eine prak- 
tische Kunst, eine itxyiu eine Routine. Nur vorfibergehend macht 
der BegrifF der rixvrj den Ansatz, sich zu einer systematischen, 
theoretischen Erscheinungslehre auszuwachsen. 141 ) Der Positivist 
von heute bezweifelt entweder das Dasein einer unabhangig vom 
Bewufitsein befindlichen und gesetzmafiig geordneten Wirklichkeit, 
oder leugnet sie ganz, oder — mit einigen Akademikem und 
medizinischen Empirikem — hfilt sie fur grundsatzlich unerkennbar. 
Daher scheidet ihm diese als Objekt wissenschaftlicher Forschung 
von vomherein aus, und wenn er die Erscheinungen methodisch 
beobachtet und aufs einfachste beschreibt, und, gleichfalls die Not- 
wendigkeit und Allgemeingultigkeit eines realen Kausalprinzips als 
Erkenntnisobjekt verwerfend, die Erkenntnis der Naturgesetzlich- 
keit auf die Registrierung bisher stets beobachteter Erscheinungs- 
zusammenhange herabstimmt, so halt er dies sein Verfahren fur 
das allein wissenschaftliche. Allerdings steht ihm als gewaltiges 
Hilfsmittel die Anwendung der logischen Operationen, deren sub- 
jektiver Verbindlichkeit er sich nicht entzieht, zu Gebote, w&hrend 
die Skeptiker durch ihre Zersetzung auch dieser fur alle Erkennt- 
nis absolut unentbehrlichen Prinzipien sich den Ausbau ihrer posi- 
tivistischen Theorie rettungslos verdarben, ja von vomherein un- 
moglich machten. Es bildeten sich aber die antiken Zerstorer der 
Wissenschaft von dieser eine noch hohere und erhabenere Vor- 
stellung als heute deren eifrigste Verteidiger und Bearbeiter. So 
sind die alten Skeptiker vom modemen Standpunkt betrachtet: 
Positivisten, und die modemen Positivisten, am antiken Mafistab 
gemessen: Skeptiker. 142 ) Aber wie die ganz grofien Geister in 



I IO 


Enter Abschnitt Die griechische Skepsis. 


ihren Werken stets Ansatze zeigen, die uber die Schranken ihres 
Landes, ihrer Zeit, ja ihrer Individualist hinausweisen, so scheint 
ein schwer deutbarer Text Aenesidems anzuzeigen, dafi dieser 
Mann bereits den Wahrheits- und ErkenntnisbegrifF des Altertums 
durchbrochen und zwar nicht einen neuen an dessen Stelle gesetzt, 
aber doch neben dem alten eingefuhrt habe. Fast gewinnt es Wahr- 
scheinlichkeit, dafi von Aenesidem neben der antiken Aufiassung 
von Wahrheit und Erkenntnis als von einem Wissen um die Dinge an 
sich auch ein Wahrheits- und Erkenntnisbegriff 2. Ordnung, 
ein empirisch-positivistischer Wahrheitsbegriff aufgestellt worden 
sei. Danach sei diese Wahrheit 2. Ordnung: das alien gleich Er- 
scheinende (xom»s (pairojxerov), nicht im Sinne einer Korrespon- 
denz der Vorstellungen mit den Dingen an sich, sondem rein einer 
subjektiven Allgemeingultigkeit. 148 ) Von hier aus ware die Brucke 
zu schlagen gewesen zu einer wirklich ausgebildeten empiristischea 
Theorie, in der man die Aufiassung von Erscheinungen und Er- 
scheinungszusammenhangen nicht als etwas Minderwertiges, nur 
vom Leben Aufgedrungenes und von wahrer Wissenschaft weit 
Abgeriicktes angesehen und den Mut zu begrenzter, aber um so 
sichrerer, weil auf erkenntniskritischer Besinnung fufiender, geistiger 
Arbeit gefunden hatte. Aber es blieb bei dem Ansatz und sollte 
noch einundeinhalb Jahrtausende wahren, bis der geistige Samen, 
der hier ausgestreut war, Fruchte trug. 

Die jungeren Pyrrhoniker hatten dem Erkennen neben den 
unmittelbaren Erlebnissen ein neues Gebiet erschlossen: den Zu- 
sammenhang der Erscheinungen. Dadurch, dafi wir imstande sind, 
gewisse Regeln im Verlauf der Erscheinungen durch den Zwang 
der Assoziation zu erkennen, kdnnen wir auch von Zukunftigem, 
Vergangenem, gegenwartig nicht Wahmehmbarem, kurz von nicht 
unmittelbar Erlebtem uns theoretisch richtige Vorstellungen machen, 
praktisch unsem Willen leiten lassen. Beides ist auch fur den 
empirischen Arzt unentbehrlich, der ja nicht nur Krankheiten und 
Heilmittel zu erkennen, sondern letztere auch zu verordnen , viel- 
leicht in Anwendung zu bringen hat. Aber was der Pyrrhonismus 
nicht geleistet hatte, und worin sich am deutlichsten das durch- 
aus Embryonale dieser positivistischen Theorie bewahrt, das war 
die Untersuchung uber den Gewifiheitsgrad, der all diesen Vor^ 
stellungen eignet. Auf der einen Seite scheint durch die Betonung 
ihrer ganzlichen PassivitSt, ihres reinen Erscheinungscharakters 
dieser Gewifiheitsgrad der hdchstmdgliche zu sein, gleich dem 



Zweites Kapitel. Die Darstellung des griechischen Skeptizismus. Ill 

unsrer unmittelbaren Erlebnisse — andrerseits konnte so scharf- 
sinnigen Mannem unmoglich das oftmalige Versagen der Kongruenz 
zwischen Vorstellungs- und Ereignisverkettung entgehen; einmal 
huldigen sie dem ziemlich ausgebildeten methodologischen System 
der „Empiriker“, ja waren vielleicht dessen geistige Urheber — 
dann wieder hilten sie sich &ngstlich, die Begriffe des Forschens, 
der Wahrheit und Wahrscheinlichkeit, des Wissens und der Wissen- 
schaft auf dem fraglichen Gebiete anzuwenden. 

Hatten so die Pyrrhoniker zwar den Kreis der zu erkennenden 
Objekte fast zu demjenigen der modemen Wissenschaft erweitert, 
aber die Gultigkeit solcher Erkenntnisse nicht kritisch untersucht, 
so dafi die eigentlich erkenntnistheoretische Begriindung ihres 
Positivismus zur Halfte ungelost bleibt, so haben umgekehrt die 
Akademiker in dem Beitrag, den sie zu den positiven Teilen 
des Skeptizismus beisteuerten , den Kreis der Gewifiheitsgrade 
erweitert, aber die Objekte, von deren Erkenntnis diese verschie- 
denen Gewifiheitsgrade gelten sollen, unbestimmt gelassen. So 
wird der materiale Charakter des Pyrrhonismus, der formale 
der akademischen Skepsis bis in die verwickeltsten Probleme hinein 
gewahrtl 

Die Lehre von den Stufen der Gewifiheit haben die Akade- 
miker in ihrer Theorie der Wahrscheinlichkeit, ihrem Probabilis- 
mus niedergelegt. 144 ) Zwei Gebiete waren es, auf denen sie solche 
Gradunterschiede geltend machten: das Gebiet der Wirklichkeits- 
erkenntnis und das Gebiet der Werterkenntnis, das der <pavra6iat 
und das der xpi6i$ tcav ayaScov xa\ xaritov. 

Mittel der Wirklichkeitserkenntnis sind die sinnlichen Wahr- 
nehmungen. Diese sind von verschiedener Glaubwurdigkeit und 
Oberzeugungskraft: manche Wahmehmung scheint uns wahr, ist 
wahrscheinlich (ejjupa6ig, Tt&avrj), eine andre scheint uns nicht 
wahr, ist unwahrscheinlich (a7t£jj,<pa6v5, artstStiz, anlSavos). 
Die wahrscheinlichen k6nnen eine Wahrscheinlichkeit erster, 
zweiter oder dritter Ordnung besitzen, je nachdem sie nur 
einfach wahrscheinlich (aTtXdog mSavai), oder wahrscheinlich und 
durchgepriift (n&ava\ xa\ Sie^oadevpivai) oder wahrscheinlich, 
ringsum gepriift und unentziehbar (TtiBctval xa\ 7tBptoo8%vpiyai xal 
axepUhra&rot) sind. 145 ) Einfache Wahrscheinlichkeit ist z. B. meine 
Wahrnehmung, wenn ich in einem dunklen Hause ein gewundenes 
Seil bdpi plotzlkhen Eintritt fur eine Schlange halte; wahrschein- 
lich und durchgepriift, wenn ich an der Bewegungslosigkeit, der 



II 2 


Ersler Abschnitt Die griechische Skepsis. 


Farbe, der Fiihllosigkeit und den iibrigen Umstanden das Seil als 
Seil erkenne; wahrscheinlich, durchgepruft und unentziehbar — 
hier fuhren wir das Beispiel im Sinne der Skepsis selbstandig 
weiter 146 ) — wenn auch die Mdglichkeit, es handle sich um eine 
tote, seilfarbene Schlange, zuruckgewiesen und nichts gegen die 
Annahme eines Seiles spricht. Demnach wiirde das Wahrschein- 
liche erster Ordnung erzielt bei einer Wahmehmung, die an 
sich selbst und auf den ersten Blick hin den Eindruck der Wahr- 
heit, nicht der Tauschung macht Das Wahrscheinliche zweiter 
Ordnung dort, wo alle naheren Umstande die Wahrheit bestatigen: 
der kritisch gepriifte Zustand des Urteilenden (ob sein Gesicht scharf 
genug), des beurteilten Objekts (ob es nicht zu klein zur Beobach- 
tung), des zwischenliegenden Mediums (ob die Luft nicht dunkel), 
des Abstands und der Entfemung (ob zu nah Oder zu weit), des 
Orts, der Zeit usw.; die Wahrscheinlichkeit dritter Ordnung, 
wenn gegen eine Wahmehmung vom zweiten Wahrscheinlichkeits- 
grad aus der Fiille der mit ihr verketteten Glieder keine Gegen- 
instanz ersteht, die uns vom Glauben an die Wahrheit unsrer Vor- 
stellung „abzieht". 

Also wenn bei meiner Wahmehmung des Sokrates weder 
Farbe, noch Grofie, noch Gestalt, noch Hal tun g, noch Kleidung 
mir dabei unrecht gibt, dafi ich den Sokrates vor mir zu haben 
glaube; wenn vielmehr alle positiven Anzeichen meinen urspriing- 
lichen Glauben bestarken und keines ihn erschuttert. 

Diese probabilistische Theorie wiirde nun um ein Gewaltiges 
an Bedeutung gewonnen haben, wenn diese Schule sich ganz klar 
uber die Art der Objekte geworden ware, von denen eine solche 
wahrscheinliche Erkenntnis moglich ist. Wahr oder falsch — so 
lehrte Karneades 14 7 ) — ist eine Vorstellung in Hinblick auf das, 
was durch diese Vorstellung erfafit wird; wahr, wenn sie mit dem 
Vorgesteilten iibereinstimmt (6v/jupoovog r<p tpavratitcp ist), falsch, 
wenn sie nicht Qbereinstimmend, 6id<p<joro<s t mit dem Vorgesteilten 
befunden wird. Wahrscheinlich oder unwahrscheinlich ist aber eine 
Vorstellung in Hinblick auf den Vorstellenden (natd trfv 7tpdg tor 
tpavratfiovfjLevor 6xi(ftv); hier scheint die eine Vorstellung wahr, 
die andre Vorstellung falsch zu sein (wir wissen, unter welchen 
Umstanden). Danach bestunde die Differenz zwischen wahrer und 
wahrscheinlicher Vorstellung darin, dafi diese nur fur das Subjekt, 
?ne an sich Giiltigkeit hat. Was fiir uns heute den Hauptunter- 
hied beider Erkenntnisstufen ausmacht: der Unterschied in den 




Zwdtes KapiteL Die Dintelhuig det griecbUcben SkeptUlwnu*. I I i 


Gewifiheitsgraden wurde von der Akademie durch jcne ganz 
andre Trennung in absolut-reale und nur relativ-aubjcktl ve 
Erkenntnisse ersetzt Die Grade der Gewiflheit kommen Mod 
innerhalb der wahrscheinlichen und unwahrscheinlichen Krkenrit- 
nisse in Betracbt. Weicht somit die Akademie in ihrer Definitk/n 
der WahrscheinHchkeit in Obereinstimmung mit der ursprfmglfchen 
Bedeutung anch des deutscben Wort t* (wahr acheinen irn Gegen- 
satz zu wahr sein) von dem modernen Begriffsgebraudbe ah, v> 
lafit sie ferner tmentscbiedeu, wekhen Inhait, wek.hen Objekf*- 
krds die uns wahr schemenden VorsteUungen ha ben wJlen. *Wzt 
man fur wahr die obcge ErkUrring des Wort** *tn, v> (blgf, daft 
cfie uns in Cberemstimmung mit dem vorgestellren Gegenttand f,e - 
fmcflich scheinenden VorateCungen wahrv.heinlidhe , daft aloo dte 
Objekte wahrscfiemfirher Vortteilungen die Lhnge an *v.h, da* Vor- 
gesteCte, n hne^ inttmtifMra *ind, and eine Vofifei'.ung, aelehe 
die subjekove Gewiftheit mit w.h fuhrt, d.e fy.nge an *ieh v«» 
wiederznspiegein. ware erne wahrtdhe-.r.i.ehe Vor«re:'..».vg feigeget* 
mm spridn: die dr.gnoCiiefi - aegari-r.-H'jrtdfce These duster Vfcide, euae.v* 
der die Ding* an den gr'.nrl'tarxif.c iner'aft'r.ar tind trs'/xr f.wA\t. 
minder die Begrindiing diese* ta«« :n der JCarneade* atv/ die 
Geacfewarigfem der -enzeinea Yauirindi* die m* •♦rieiuedene 
Eilier der Ding* ie&n. iir die deni-eiiung der D*n$*. «n sex 
annnerkaani. nacir* Hirtnaert dertr.nder* audit die air/ •z<y t »u*j| 
Eeissieie, n. denea nema.ii dan Y-tmsui.ti*: rv’j'Jten h'ldVutim^ 
irttd Ding ax ficit. ir.ndem miner rmr rrneJieit r'l-i va t u « uul 
ingtTr.rt .vi « *-- Degemaanrt un.r»r irtttrienemiudien 
Y~ rmnl mnptn. jki tcrnhr •ni'Jien dail Uier.de* »;*r.«de de. \.wge:r:u 
verdgftmr der Tarmiraea YmiSiaute Iir die A.'<.*art»".iu. der ,hr 

uange vnauon*r vr.t derm , 'je:/i.ti»er".!>;r.r:i' fie tie 
sea xesrenen/ten '.a.ir r-uter iar>.-;ait e ir.te. V »n*t 

dad 






Erster Abschnitt. Die griechische Skepsis. 


114 

lichkeit einer Strickerscheinung garantieren, sagen nichts daruber 
aus, ob das Ding an sich Strick dieser Strickerscheinung entspricht; 
ob ich kurz oder lang beobachtet, ob bei dunkler oder heller Luft, 
ist fur die Richtigkeit meiner Vorstellung, wird sie an der Kon- 
gruenz mit dem Ding an sich gemessen, vollig gleichgultig — 
wie Akademiker 148 ) und Pynhoniker gemeinsam hervorhoben ; aber 
fur die Entscheidung, ob ich eine Wirklichkeitserscheinung oder 
eine Illusionsvorstellung vor mir habe, sind sie von grdfiter Wich- 
tigkeit. 

Es ware nun ungeschichtlich, wenn wir das voile Bewufitsein 
davon, mit der Wahrscheinlichkeitslehre sich auf das Gebiet der 
Erscheinungszusammenhange beschrinkt zu haben, den Akade- 
mikern zuerkennen wollten. Vielmehr ist deren eigene Darstellung 
auf diesem Punkte schillemd und schwankend. Dafi in ihr aber 
wichtige neue Einsichten verschlossen liegen, leuchtet ein: auch 
innerhalb der Erscheinungserkenntnis — das ist der Sinn dieser 
Lehre — mufi zwischen Wirklichkeits- und Unwirklichkeitserkennt- 
nis geschieden werden. Der Prfifstein dafiir, ob einer Wahmehmung 
objektiver Wirklichkeitswert oder nur subjektiver (Unwiridichkeits -) 
Wert zukommt, ist damit gegeben, ob die betreffenden Wahraeh- 
mungen mit andem Wahmehmungen nach den empirischen Regeln, 
welche die Erscheinungswelt beherrschen, verbunden sind; der Zu- 
sammenhang der Erscheinungen entscheidet fiber den objektiven 
Erkenntniswert einer Wahmehmung. Unwillkfirlich wird man an 
Kants Definition der empirischen Wirklichkeit erinnert: als „wirk- 
licher Wahmehmung nach den Analogien der Erfahrung, welche die 
reale Verknfipfung in einer Erfahrung uberhaupt darlegen 44 . 148 ) 

Damit erhalt die positivistische Theorie der Pyrrhoniker erst 
ihre philosophische Vervollstandigung. Dem Pyrrhoniker war die 
Orientierung in der Erscheinungswelt dadurch moglich gemacht, 
dafi er sich den gegenwartigen Erscheinungen als unmittelbaren 
Erlebnissen fugte, und fiber die nicht gegenwartigen durch die 
passive Assoziation seiner Vorstellungen sich fur unterrichtet hielt 
Der Akademiker ahnt, dafi auch zum Sichzurechtfinden in der Er- 
scheinungswelt hohere Ansprfiche erfullt werden mfissen; rUfi wir 
dazu bei den unmittelbar gegebenen Wahmehmungen bereits uns 
fragen mfissen: ist diese Wahmehmung eine wirklich vorhandene 
Erscheinung oder eine nur im Him des Subjekts vorhandene Ein- 
bildung ? und dafi wir diese Frage nur danach entscheiden konnen, 
ob die betreffende Wahmehmung nach den empirischen Regeln 



Zweites Kapitel. Die Darstellung des griechischen Skeptizismus. 1 1 5 

des objektiven (aber darum noch nicht absolut-realen) Erscheinungs- 
zusammenhangs verlauft. 

Der eigentlich philosophische Kern dieser Hinweise aber ist 
in der Betonung der aktiven Operationen zu suchen, ohne die 
auch eine Durchforschung der Erscheinungswelt aussichtslos ist. 
Wollen wir nichts weiter als leben, also die elementarsten Be- 
diirfnisse befriedigen, etwa essen, wenn wir hungrig sind (geschweige 
denn einen Beruf ubemehmen und eine tixyy ausiiben), so diirfen 
wir uns nicht an den gegebenen Wahmehmungen geniigen lassen; 
vielmehr miissen wir diese bereits auf ihren Erkenntniswert der 
Erscheinungswirklichkeit gegenuber untersuchen. Dieser Wert 
wird durch die mogliche oder unmogliche Eingliederung in den 
Zusammenhang der wirklichen Erscheinungen nach den Regeln 
dieses Zusammenhangs ermittelt; diese Regeln sind ihrerseits nicht 
durch willenlose Hingabe an die Assoziation, sondem nur durch 
tatiges Heranziehen der positiven und negativen Instanzen festzu- 
stellen, durch das „ Ringsheruraprufen und Durchspahen", wie es 
der Akademiker drastisch ausdriickte. Und je nach dem Umfang 
dieser aktiven Operationen und je nach ihrem Ergebnis erwachsen 
fur die Erkenntnis der Erscheinungswelt verschiedene Gewifiheits- 
grade. 

Jetzt verstehen wir auch die innersten Motive fur den von 
Sextus so ausdriicklich hervorgehobenen Unterschied , der die pyr- 
rhonische uud die akademische Art des „Oberzeugtseins“ (ns&rtSai) 
voneinander scheidet. Die Oberzeugung namlich kann auf passiver 
Hingabe oder auf aktiver Zustimmung beruhen. „Deshalb, da ja 
die Partei des Kameades und Klitomachus behauptet, mit starker 
Zuneigung (peta npogxXitiscQS 6<po6pa$) wiirden sie iiberzeugt und 
gebe es etwas Wahrscheinliches , wir aber (die Pyrrhoniker) gemafi 
dem Nachgeben schlechtweg ohne Anteilnahme (xata to aTtXdog 
ebcsir avev jrpo&taSeiaz), so diirften wir uns auch hierin von 
ihnen unterscheiden.“ 150 ) 

Somit verteilt sich das Verdienst um die Entwicklung der 
positiven Partien, um die Erkenntnis einer Erscheinungswelt, zwischen 
den beiden Richtungen folgendermafien: Die Pyrrhoniker haben 
als die Objekte einer moglichen Erkenntnis die Erscheinungen und 
den Erscheinungszusammenhang hingestellt, in der Art dieser Er- 
kenntnis aber vollige Passivitat walten lassen und sich — trotz 
der Billigung der empiristisch-medizinischen Methoden — iiber 

die Gewifiheitstufen der einzelnen Erscheinungserkenntnisse philo- 

8 * 


Enter Abschnitt. Die griechische Skepsis. 


1 16 

sophisch nicht ausgelassen; die Akademiker haben die Objekte 
mdglicher Erkeontnis nicht so fest bestimmt, dafur aber in der 
Art der phanomenalen Erkenntnis die Aktivitat des Erkenntnis- 
prozesses betont und, je nach der Handhabung desselben, Gewifi- 
heitsgrade seiner Ergebnisse aufgestellt. 

Was nun das zweite Gebiet anlangt, auf dem wahrschein- 
liche Erkenntnis zu erarbeiten moglich ist, die sittlichen Werte, 
so sind wir hier leider zu wenig uber die Anschauungen der skep- 
tischen Akademiker unterrichtet, als dafi eine philosophisch irgend- 
wie fruchtbare Behandlung derselben moglich ware. Zwar scheint 
aus einem Satze des Sextus hervorzugehen, dafi diese Schule auch 
eine probabilistische Ethik fiir moglich hielt 151 ), und eine wahr- 
scheinliche Erkenntnis dessen , was gut, was schlecht , was sittlich 
gleichgultig sei, zu gewinnen gestrebt habe; aber die Kriterien, nach 
denen hier die wahrscheinliche Vorstellung sich herausbildete, sind 
uns nicht fiberliefert. 

Ahnlich der Pyrrhonischen hat nun auch die Kameadische 
Schule nicht nur die positiven Elemente in der Erkenntnis, son- 
dem auch in der Willensmotivation naher untersucht Daher 
zeigt sich in der Losung des Problems ein lehrreicher Parallelismus. 
Wie der Pyrrhoniker sich von den sinnlichen Eindrucken und den 
sich aufdrangenden Gedanken zum Wahmehmen und Denken be- 
stimmen liefi, wie er, von den konventionellen ethischen, politischen, 
religiosen Werterscheinungen fiberwaltigt, sich der Autoritat von 
Sitte, Verfassung, Religion fugte, wie er durch die assoziative Er- 
kenntnis von Erscheinungszusammenhangen den arztlichen Beruf 
ausfiben zu dfirfen glaubte, so liefien die Akademiker ihren Willen 
in geringfugigen Sachen von der Wahrscheinlichkeit erster Ordnung, 
bei solchen von grofierer Wichtigkeit von der Wahrscheinlichkeit 
zweiter Ordnung, und bei solchen, in denen unsre Gluckseligkeit 
auf dem Spiele stand, von der Wahrscheinlichkeit dritter Ordnung 
leiten. Aber sich zum Betrieb einer Wissenschaft durch diese 
Wahrscheinlichkeitstufen bestimmen zu lassen, kam ihnen gleich- 
falls nicht in den Sinn. Neben der praktischen Wichtigkeit der 
Vorfalle wurde noch die jeweilig verfiigbare Zeit in Anschlag ge- 
bracht, deren Dauer immer nur die Anwendung gewisser Wahr- 
scheinlichkeitskriterien erlaubte. Im Kriege ist es z. B. fur einen 
Verfolgten unmoglich, die Besetzung eines Grabens durch den 
Feind nach dem Maflstab der Wahrscheinlichkeit zweiter oder 
dritter Ordnung festzustellen. So wird in der Lebensfiihrung die 



Zweites Kapitel. Die DarsteUung des griechischen Skeptizismus. 1 1 7 

Berficksichtigung der Wichtigkeit einer Handlung und der zeitlichen 
Umstande entscheidend fur die Wahl der Vorstellungen , nach denen 
sich unser Wille richtet. l52 ) 


Das Gesamtbild der griechischen Skepsis ist nun aber erst 
ein vollstandiges, wenn wir auch die Antwort auf die dritte und 
letzte Grundfrage in dasselbe eingetragen haben werden: was 
erwachst aus dem skeptischen Verhalten zu den Dingen? 

Wir wissen es schon aus dem Munde Pyrrhos 158 ): die Un- 
erschfitterlichkeit ( atapaSia ), die Leidlosigkeit (artaSeux) , die 
Gleichgfiltigkeit (adiatpopia) sind die unausbleiblichen Folgen des 
skeptischen Verhaltens. 158 ) In ihnen aber besteht nach dem spat- 
griechischen Ideal: die Glfickseligkeit (evdatpovia). Erstaunt fragt 
man sich: warum folgt die Ataraxie aus dem skeptischen Ver- 
halten? Darauf antwortet die Skepsis 154 ): Die Unerschfitterlichkeit 
ist „Ungestortheit und Windstille der Seele" {flvxffe aoyXrfiia xa\ 
yaXifyotrfg). 166 ) Wer nun von den Dingen glaubt, dafi sie schon 
oder hafilich, gut oder schlecht ihrer Natur nach sind, der lebt 
in dauernder Bedrangnis und Beirrung. Denn mit Macht wird er 
das Gute erstreben und das Bose fliehen, von einer bestandigen 
ethischen Unruhe geplagt Hat er aber etwas Gutes erreicht, dann 
ist er in Angst und Sorge, dafi er das Gute nicht verliere. So 
wird der Dogmatiker hin- und hergeworfen zwischen Skrupeln und 
Noten. Der Skeptiker aber, der zu der Giite und Schonheit, der 
Schlechtigkeit und Hafilichkeit der Dinge keine Stellung nimmt, 
kann auch durch diese Werte nicht beirrt werden. Sie sind ihm 
gleichgfiltig, adtatpopa , ganzlich neutral. Er denkt: was ich nicht 
weifi, macht mich nicht heifi. Wer z. B. den Reichtum, den Ruhm, 
die Liebe nicht fur an sich wertvoll oder wertlos halt, der wird 
diesen Gaben weder nachjagen noch angstlich aus dem Wege gehen, 
und so wird die Quelle aller Unruhe vermieden. Er wird sich aber 
auch fiber den Erwerb dieser sogenannten Gtiter nicht freuen , fiber 
deren Verlust nicht betrfiben, kurz an ihrer Gegenwart oder Ab- 
wesenheit nicht leiden. Er lebt wirklich in diesen Fallen unbeirrt 
und leidlos; ohne innere Aufregung, vollig friedlich (elprjvaiog fttog), 
das heifit im Sinne jener Zeit, vollig glficklich. So leidet der Skep- 
tiker weniger als der Dogmatiker. Die Stifter der Schule glaubten 
sogar die ganzliche Leidlosigkeit aus den skeptischen Grundsatzen 
entwickeln zu kfinnen. Ihr Blick war so nach innen gekehrt, dafi 


1 1 8 Enter Abschnitt Die griediische Skepsis. 

nur die aus der Seele selbst geborenen Leiden in das Sehfeld ihres 
Bewufitseins fielen ; sie hatten so tief an rein geistigen Scbmerzen 
gelitten und andre leiden sehen, dafi sie die grundsatzliche Ver- 
schfittung jeder Leidensquelle ethischen, asthetischen, religiosen 
Ursprungs als Befreiung von allem Leid fiberhaupt empfanden. 
Gab es noch andre Scbmerzen — fur das Gluck des innerlich Ge- 
lassenen kommen sie nicht in Betracht. Aber als der grofie skep- 
tische Stil eines Pyrrho in der Tradition erlosch, als sich das 
Bedfirfnis geltend machte , dialektisch seine Lehren scharf zu for- 
mulieren und sich den Dogmatikem gegenfiber keine Blfifie zu 
geben, als der skeptische Heroismus verschwand und man keinen 
Grund hatte, was man mit dem Gefuhl nicht beiseite liefi, in Ge- 
danken zu fibersehen: da wurde auch das skeptische Lebensideal 
dahin abgeschwacht, dafi man sich von der Leidlosigkeit auf das 
mafivolle Leiden, von der dnc&zict auf die jierpojrdSeia zurfickzog. 

Man trennte scharf zwischen den Leiden, die aus unsera ver- 
nfinftigen Ansichten (xata Xoytxrfv 66£ar) fiber den Wert der 
Dinge entspringen und denjenigen, welche in unsrer sinnlichen 
Natur (xard aXoyov aitiSrjffscov rtaSog) ihren Ursprung nehmen; 
die einen gehen auf eine freiwillige, die andem auf eine not- 
wendige Stellungnahme zurfick. Zur ersteren Gruppe gehdren 
die Ndte, welche ein bestimmtes ethisches oder fisthetisches Dogma 
fiber die Wertverhaltnisse mit sich bringt und von denen die 
vorigen Beispiele ein paar Proben gaben; zur zweiten Gruppe 
rechnet alles Leid, das mit der physischen Natur des Menschen 
untrennbar verknupft ist, fiber das die Seele mit ihren philosophi- 
schen Anschauungen keine Gewalt hat Leidet der Skeptiker auch 
nicht daran, dafi er das absolut Schone nie voll geniefien, das 
absolut Gute nie voll verwirklichen kann, weil er fiber das Abso- 
lute sich fiberhaupt keine Gedanken macht, so kann er doch das 
Unbehagen des Durstes und Hungers, die qualvollen Schmerzen 
bei manchen Krankheiten nicht dadurch aufheben, dafi er zweifelt, 
ob Durst, Hunger und Schmerzen an sich ein Obel, die Befreiung 
von ihnen an sich ein Gut ist So leidet auch er in den ihm 
„abgendtigten Zustanden u (ir roig xccTTjvayxa6jzivotg ). Aber 
er leidet mafivoll, mafivoller als ein dogmatisch denkender Mensch. 
Quantitativ kommt eine Ffille von Leid ffir ihn in Wegfall, und 
qualitativ sind die Leiden, denen er nicht entgehen kann, milder 
als die des Dogmatikers. Denn er verstarkt sein Leiden nicht 
noch durch ein theoretisches Dogma. Aus feinsinniger Psychologie 



Zweites Kapitel. Die Darstellimg des griechischen Skeptudsmus. 119 

und tiefdurchdachtem ethischen Erleben heraus fand die Skepsis 
das Apercu: dafi derjenige doppelt leidet, der das Leid, das ihn 
trifft, an sich fur ein Obel halt. So geschieht es wohl, dafi die- 
jenigen, welche operiert werden, unter dem Messer des Chirurgen 
oft weniger leiden als die Umstehenden, die den Schmerz an sich 
fur ein Obel halten und durch diese rein gedankliche Ansicht 
grofiere Qualen erdulden als die physischen Schmerzen des Patienten 
es sind. „Oder sehen wir nicht, dafi auch bei denen, die geschnitten 
werden, oft der Patient und Geschnittene selbst tapfer die Qual 
der Operation ertragt, ohne bleich zu werden noch von der Wange 
sich Tranen zu wischen, denn ihn erreicht nur die Bewegung des 
Schneidens; der neben ihm stehende aber erbleicht, zittert, schwitzt, 
wird schlapp, sowie er auch nur einen kleinen Blutstrom gewahrt 
und bricht schliefilich lautlos zusammen; nicht des Schmerzes wegen 
— denn dieser trifft ihn gar nicht — sondera wegen seiner Ansicht, 
der Schmerz sei ein Obel. So ist manchmal die Erschutterung 
grofier, welche die Meinung, ein Obel sei wirklich ein Obel, her- 
vorruft, als diejenige, welche das sogenannte Obel selbst mit sich 
bringt." 15€ ) Demnach trifft den Skeptiker nur insofern Unruhe und 
Qual, als er als endliches Geschopf unfreiwilligen und unvermeid- 
lichen Zustanden ausgesetzt ist. Und auch diesen Leiden, fur die 
nicht ihm, sondera der Natur die Schuld zukommt, weifl er durch 
seinen Standpunkt die scharfste Spitze abzubrechen. Er allein er- 
reicht so den grofitmoglichen Grad von Gluck und Frieden. 

Was uns hier in der Ant wort auf die letzte Frage enthullt 
wird, ist zugleich Anfang und Ende, Ursache und Wirkung, Samen 
und Frucht der skeptischen Philosophic. Als Anfang, Ursache und 
Samen eine Hoffnung, als Ende, Wirkung und Frucht eine Er- 
fullungl Denn das stille Gluck des unbewegten Seelenfriedens war 
das Ideal, dem der antike Skeptizismus sein Dasein verdankt. 
Auf der Suche nach diesem Ideal, das Pyrrho, der erste Skeptiker, 
in Asien bei den weltfluchtigen, indischen Asketen aufgelesen haben 
mag, entdeckte man auch den Weg zu ihm, den Weg des totalen 
und radikalen Zweifels. Nicht also sind Adiaphorie , Ataraxie und 
Apathie rein gedanklich herausgearbeitete Folgen unsres Nicht- 
wissens um die Beschaffenheit der Dinge und unsrer Urteilsenthaltung, 
sondera die Sehnsucht nach ihnen ist das innere Feuer, das die 
gedankliche Arbeit des Skeptikers lautert und durchgluht. Darum 
war Pyrrho in erster Linie Moralist und nicht Erkenntnistheoretiker. 
Darum auch ordnet sich die skeptische Anschauungsweise in die 


120 


Erster Abschnitt. Die griechische Skepas. 


grofie nacharistotelische moral philosophische Bewegung ein, als Er- 
ganzung zu den im Grunde vom gleichen Geiste beseelten dogma- 
tischen Lehren der Stoa und Epikurs. Els sind alles Aste am 
Stamme des Eudamonismus; aber wahrend die dogmatischen 
eudamonistischen Schulen die Gluckseligkeit als das hdchste Gut 
nicht nur erstrebten , sondem auch erkannten , teilt der eudamo- 
nistische Skeptizismus nur diesen Willen mit ihnen, nicht ihre 
Oberzeugung. Dafl in der Tat auch der Skeptizismus aus eudamo- 
nistischer Sehnsucht heraus erwachsen ist, dafiir besitzen wir schla- 
gende Zeugnisse. Schon Timon hatte seine drei Grundfragen und 
ihre Entscheidung fur alle, die nach der Gluckseligkeit streben, 
bestimmt 157 ); Sextus nennt geradezu bewegendes Prinzip der 
Skepsis (apxffv airtciStf): die Hoffnung, unbeirrt zu bleiben 158 ), 
und bezeichnet die Ataraxie selbst als letztes und hochstes Ziel, 
als den einzigen Selbstzweck des Skeptikers. 159 ) Dort beschreibt 
er uns auch, wie gar wunderbar der Weg entdeckt wurde, der 
dahin fuhrt Man glaubte, echten antik-philosophischen Geistes 
voll, das Gluck stehe und falle mit dem sicheren Wissen um die 
Wahrheit Und siehe da, dieser Glaube ging in Erfullung — aber 
aus Griinden, welche die gerade Umkehrung der eigenen Motive 
bedeuteten! „Hochbegabte Menschen namlich kamen, beirrt durch 
die Ungleichmafligkeit in den Dingen und unentschieden, welchen 
von ihnen sie mehr zustimmen sollten, dahin, zu untersuchen, was 
wahr sei bei den Dingen und was falsch, um infolge der Ent- 
scheidung hieruber nicht mehr beirrt zu sein u . 160 ) Aber, sobald 
man in dem Sinne zu philosophieren begann, stiefi man auch schon 
auf die Gleichkrafitigkeit der Thesen, die Isosthenie; unfahig, die 
Widerspriiche zu entscheiden, enthielt man sich desUrteils; sowie 
aber der Skeptiker an sich hielt, „gesellte sich ihm gleichsam von 
ungefthr die Unerschiitterlichkeit, wie demKorper derSchatten". 161 ) 
Die ersehnte Ataraxie war auf nicht geahntem Wege gefunden. So 
erging es dem Skeptiker wie dem beriihmten Maler Apelles. Als 
dieser ein Pferd malte — so geht die Sage — und den Schaum 
am Maule trotz aller Miihe nicht herausbrachte, gab er es auf und 
schleuderte den Schwamm, in dem er die Farben von den Pinseln 
abzuputzen pflegte, gegen sein Werk. Der aber habe bei seiner 
Beriihrung eine getreue Nachbildung des Schaumes hergestellt. — 
Damit schliefit sich der Kreis dieser Philosophic; ihr Ende weist 
wieder auf den Anfang zuriick. Sie suchte in der Losung der 
letzten ihrer drei Hauptfragen logisch nachzuweisen: wie allein 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 


121 


aus dem Zweifeln das Gluck erwachse; sie macht uns dabei das 
psychologische Gestandnis , dafi allein aus demWillen zum Gluck 
ihr Zweifeln erwachsen sei. Das Gleichnis aber von wenigen Zeilen, 
in das sie dies Gestandnis hullt und mit dem wir die Darstellung 
des antiken Skeptizismus beschliefien, gemahnt durch seinen tief- 
sinnigen Obermut noch einmal mit aller Eindringlichkeit an die 
Wucht der seelischen Erlebnisse, die auch dem abstrakten Formalis- 
mus, derEmsigkeit im Zerstoren, der Skrupellosigkeit in denMitteln, 
den dialektischen Spielereien dieser Schule als wahrhaft philosophi- 
sches Motiv zugrunde liegt. 


Drittes Kapitel. 

Die Eritik der griechischen Skepsis. 

L Das allgemeine Prinzip der Isosthenie. 

Haben wir die Pause zwischen diesem Kapitel und dem 
vorigen dazu benutzt, um einen gewissen Abstand von den Theo- 
rien des griechischen Skeptizismus zu gewinnen, so dafi vor unserm 
innera Auge sich die grofien und leitenden Ziige dieser Philosophic 
als ein Ganzes herausheben , so ist der rechte Augenblick ge- 
kommen, um an die Beurteilung einer solchen Anschauungsweise 
heranzutreten. Daher mag die Kritik wiederum den drei Grund- 
fragen folgen: wie sind die Dinge beschaffen? oder, subjektiv aus- 
gedruckt, was konnen wir von den Dingen erkennen? wie miissen 
wir uns zu ihnen stellen? und was erwachst uns aus dieser Stellung- 
nahme? 

Das skeptische Generalprinzip in der Losung des ersten 
Problems war die Isosthenie gewesen, die Behauptung: jeder 
These uber die Beschaffenheit der Dinge lasse sich eine gleich- 
kraftige, d. h. gleich gut begriindete Antithese gegenuberstellen. 
Man wird zunachst nach allem Vorausgegangenen nicht bestreiten 
konnen, dafi die griechische Skepsis das Prinzip der Isosthenie in 
kuhner Durchfuhrung und in einfacher Grofie angewandt hat. Es 
ist in der Tat, wie es von den Skeptikem im Gegensatz zu den 
Sophisten gehandhabt wurde, ein monumentales Prinzip. Und 
alles Grofie ist lehrreich. Durch ihr gerades und unbeirrtes Denken, 
durch ihren Radikalismus in den Theorien erwiesen sich diese 
Skeptiker als echte Griechen. Sie setzten wirklich alles zueinander 



122 


Enter Abschnitt. Die griechische Skepsis. 


in Widerspruch: Sinnliches zu Sinnlichem , Begriffliches zu Begriff- 
lichem und Begriffliches zu Sinnlichem. 1 ) Jede Halbheit ist der 
antiken Skepsis fremd. Satze wie: der Honig ist sfffi — der Honig 
ist bitter, das Ruder ist krumm — das Ruder ist gerade, ursach- 
liches Wirken besteht — ursachliches Wirken besteht nicht, es 
gibt Gotter — es gibt keine Gotter, der Schnee ist schwarz — der 
Schnee ist weifi, waren Beispiele der Isosthenie. Aber nicht nur 
die kiinstlerischen Eigenschaften, die reine Form, die echt griechische 
Kuhnheit der gedanklichen Konsequenz haben wir hier zu be- 
wundern; auch inhaltlich ist dies Prinzip einer ernsten Beruck- 
sichtigung wert 

Zunachst ist die Isosthenie, wenn wir mit ihrer schwachsten 
Bedeutung beginnen, fur gar viele angebliche Erkenntnisse des ge- 
wohnlichen Lebens wie der Wissenschaft eine unumstofiliche 
Tatsache. Geben wir nicht im taglichen Leben hundertmal Ur- 
teile ab, denen sich mit gleich guten Griinden ganz andere Ur- 
teile entgegenhalten lassen? Wer sich in ruhigen Stunden gewissen- 
haft daraufhin pruft, wird dem nicht zu widersprechen wagen. Man 
denke nur an das ganze Parteiwesen in jeglicher Gestalt, im Leben 
des Einzelnen und des Staats, in Kunst und in Wissenschaft. Hier 
wird ein ganzer Kreis von Losungen uber letzte, theoretisch noch 
lange nicht spruchreife Fragen bedingungslos angenommen und 
sein Inhalt mit Eifer verteidigt. Hier stehen sich wirklich oft rechte 
und linke Seite wie These und Antithese, wie Ja und Nein gegen- 
uber; aber wer objektiv entscheiden soil, wird sich oft genug 
sagen miissen, dafi der Liberate nicht schlechter begriindet als 
der Konservative, der modeme Asthetiker nicht schlechter als sein 
klassischer Gegner, der Atomistiker nicht schlechter als der Energe- 
tiker, dafi — um in der skeptischen Terminologie zu reden — 
die vdllige Isosthenie hergestellt ist. Wenn wir uns dennoch der 
einen oder der andern Seite zuneigen, so tun wir es meist aus 
ganz andern Motiven, aus bestimmten Sympathien oder Anti- 
pathien, die unabhangig von Oberzeugungen durch Grunde, diese 
Grunde letzten Endes nur als Mittel gebrauchen, ihre eigenen 
Zwecke zu erreichen. Eine Begrundung, die eine uns sympathische 
Sache vertritt, „iiberzeugt“ uns mehr als eine anders gerichtete, 
nicht minder schliissige. Der Lebensinstinkt zwingt den Erkenntnis- 
trieb in seinen Dienst und verdunkelt ihm den Blick dermafien, 
dafi er die logische Isosthenie von Griinden und Gegengrunden 
nicht zu erkennen vermag. Wie ware es sonst mdglich, dafiz.B. 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 1 23 

in der politischen Stellungnahme , die theoretisch eine Abfindung 
mit den heikelsten Fragen der Soziologie, der Nationalokonomie, 
der Ethik und Geschichtsauffassung voraussetzt, im grofien und 
ganzen die Parteien sich mit den Standen decken? Fallen etwa 
zufallig Menschen auf die gleiche Losung der angeregten Fragen, 
welche zufallig dem gleichen Kreise angehoren? Ihre Grunde sind 
hier gewifl nicht — ihre Giiinde. Man zahle nur die Sozialdemo- 
kraten in der Aristokratie, und die uberzeugten Konservativen 
unter den Fabrikarbeitern, die Anhanger der allgemeinen Ver- 
mdgensverteilung unter den Kapitalisten und der Zentralisation der 
Vermogen unter den Armen! Sie alle vertreten nicht das Inter- 
esse der Wahrheit, sondem das ihrer eigenen Person. Das ware 
nun an dieser Stelle ganz gleichgultig, wenn nicht dadurch, dafi 
man die personlichen Willensziele im Mantel theoretischer Systeme 
auftreten lafit — die skeptische Isosthenie diese Systeme beherrschte! 
Wer das einmal begriffen hat, dem scheinen alle ,,Parteigrunde“, 
in denen der Verstand nach Diktat des Willens arbeitet und so 
dessen Blofie zu decken sucht, von vomherein bruchig, fadenscheinig 
und langweilig. Die skeptische Isosthenie ware der Inhalt einer 
sehr trivialen und veralteten Wahrheit, wenn die Menschen wirk- 
lich davon durchdrungen waren, dafi — nach dem augenblicklichen 
Stand unsres Wissens und durch die Verwicklung mancher Umstande 
— sich viele Ansichten vorlaufig gerade so gut halten liefien wie 
ihr Gegenteil. Das aber wollen die wenigsten einsehen. Die Majo- 
ritat aller Menschen — der grofien Staatsmanner, Kiinstler, Ge- 
lehrten nicht ausgenommen — ist von der alleinigen Richtigkeit 
ihrer Ansichten, besonders wo dieselben irgendwie personliche 
Interessen beriihren, auf das allerfesteste iiberzeugt. Man ist ent- 
schlossener Dogmatiker, dogmatischer Raucher *) oder Temperenzler, 
dogmatischer Wagnerianer oder Antiwagnerianer, dogmatischer 
Konservativer oder Liberaler, dogmatischer Mechanist oder Vitalist. 
Gegen diese dogmatische Denkart kann nun die skeptische Isosthenie, 
wie alle skeptischen Prinzipien, als heilsames Zuchtmittel im Dienste 
der Wahrheit 8 ) ihre Wirkung tun. Aber ein heilsames Zuchtmittel 
braucht noch kein durchaus wahrer Satz, der psychologische 
Kern nicht zugleich ein logischer zu sein. 

Ein weiterer Vorzug des isosthenischen Prinzips besteht darin, 
dafi diese Denkart uns ein hochst fruchtbares methodologisches 
Hilfsmittel an die Hand gibt. Einer unter den ersten grofien philo- 
sophischen Methodikem der neueren Zeit, Lord Francis Bacon 



124 


Eister Abschnitt Die griecbische Skepsb. 


hat (ubrigens ganz unabhangig von der antiken Skepsis) dar- 
auf hinge wiesen, daft man es als eine der vomehmsten Regeln 
bei jeder wissenschafllichen Untersuchung zu beachten habe: eine 
Eigenschaft, nach der geforscht wird, nicht nur da zu beobachten, 
wo sie auftritt , sondem auch diejenigen Falle zu sammeln, in 
welchen sie nicht auftritt, aber zu erwarten stande. In Baconischer 
Sprache: die positiven Instanzen sind durch die negativen Instanzen 
zu kontrollieren und zu erganzen. 4 ) Hatte man diesen Rat ofter 
befolgt, so wurde manch irrige Ansicht aus dem Leben und aus 
der Wissenschaft langst entschwunden sein. Hatte man — meint 
Bacon — etwa alle die (negativen) Falle ebenso gewissenhaft ge- 
sammelt, in denen Ahnungen und Traume nicht eingetroffen sind, 
wie die positiven, so wurde vermutlich kein Mensch mehr an ein 
unerklarliches Eintreffen von Ahnungen und Traumen glauben. 
Man hat sehr gut diese Betonung der Gegeninstanzen als den kri- 
tischen Widerspruchsgeist in der Baconischen Methodenlehre be- 
zeichnet. 5 ) Ohne ihn wird heute keine wissenschaftliche Unter- 
suchung von einigem Wert mehr angestellt. Es ist der Geist der 
skeptischen Isosthenie — zum Forschungsmittel umgedeutet. 

Endlich hat Hegel das isosthenische Prinzip, welches Bacon 
von jedem einzelnen Forscher als eine Regel unter vielen gehand- 
habt sehen wollte, geradezu zur alleinigen metaphysischen Me- 
thode erhoben, deren sich die Weltvernunft bedient, um den Fort- 
schritt in der geistigen und jeder Entwicklung herbeizufuhren. Denn 
wer erkennte nicht das wohlbekannte Antlitz der Isosthenie darin 
wieder, nur jetzt ins Oberlebensgrofie gesteigert, wenn dieser Meta- 
physiker der Evolution behauptet: ein bestimmtes philosophisches 
System (A) ruft durch den inneren Widerspruch, den es erregt, 
ein sich entgegengesetztes (B) hervor; beide zusammen aber ein 
drittes (C), welches, die Einseitigkeiten von A und B fallen lassend, 
die wahren Kerne erhaltend, die Gegensatzlichkeit iiberwindet und 
so die vorhergehenden Systeme zu hoherer Einheit versohnt; C 
erzeugt seinen eigenen Antipoden D, die Antithese C — D die Syn- 
these E usf. So sollte die Wahrheit stufenweise erklommen werden 
auf der fortlaufenden Leiter der philosophischen Systeme. Diese 
selbst aber sind nichts andres als Grade der Selbsterkenntnis der 
alleinen gottlichen Vemunft, oder hohere Stufen des Weltprozesses. 
Aber auch die niederen Stufen zeigcn eine Art von physischer 
Isosthenie. „Das Forttreibende ist die innere Dialektik der Ge- 
staltungen diese Widerlegung kommt in alien Ent- 


Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 


125 


wicklungen vor; die Entwicklung des Baumes ist Widerlegung 
des Reims, die Blute die Widerlegung der Blatter, dafl sie nicht 
die hdchste wahrhafte Existenz des Baumes sind. Die Blute wird 
endlich widerlegt durch die Frucht; aber sie kann nicht zur Wirk- 
lichkeit kommen ohne das Vorhergehen aller friiheren Stufen.“ 6 ) 
Wird auch der besonnenere Denker sich dem verfuhrerischen Bilde 
nicht gefangen geben durfen, die gesamte Entwicklung des Geistes 
nur als die stetige Oberwindung relativ gleich wahrer Gegen-Satze 
anzuschauen, so wird er doch der ihres metaphysischen Gewandes 
entkleideten Bedeutung der Isosthenie als Triebkraft und Anreiz 
zu geistigem Fortschritt die Berechtigung und der genialen Aus- 
gestaltung derselben zu ubermachtigem Wuchs wenigstens die Be- 
wunderung nicht versagen. Und so untergrabt die Isosthenie hier 
nicht die Erkenntnismoglichkeit der Wahrheit; sie bildet vielmehr 
die Stufen, auf denen man zum Thron der Wahrheit hoher und 
hoher hinaufsteigt, und zugleich das kraftigste Motiv, diese Hohe 
zu erklimmen. 

Aber all das beriihrt den eigentlichen Kern der skeptischen 
Isosthenie noch nicht. Es betrifft dieselbe nur in ihrer abge- 
schwachten oder gesteigerten, und stets in umgedeuteter Form. 
Wir durfen uns aber in der Kritik der wichtigsten Frage nicht ent- 
ziehen und miissen sie klar und eindeutig stellen. Hat die antike 
Skepsis mit der Behauptung: jeder These (iiber die Beschaffenheit 
der Dinge) steht eine gleichkraftige Antithese gegeniiber — den 
Satz genau so aufgefafit, wie er in der Schule gemeint 
war — recht oder unrecht? Hier nun ist grofie Vorsicht ge- 
boten. Es scheint ja zunachst widersinnig, den Satz in dieser 
urwiichsigen Form und in seiner ganzen Ausdehnung vom Stand- 
punkt des modemen Menschen noch zugeben zu wollen. Aber wir 
wissen ja schon, wie er verstanden sein will. Wenn auch in der 
ersten Timonischen Grundfrage , soli ihre Beantwortung wirklich die 
Ansicht des ausgebildeten Pyrrhonismus begreifen, der Ausdruck 
„ Dinge “ dahin interpretiert werden mufi, dafl er sogar die rein 
formalen logischen und die mathematischen Aussagen mitumspannt, 
so haben doch die Skeptiker diese rein formalen Bewufitseinsfunk- 
tionen, deren Wahrheit zu bezweifeln uns heute schwer in den Sinn 
kame, eigentlich nur angegriffen, um sie als untaugliches Vehikel 
zu objektiver und inhaltlicher Erkenntnis zu erweisen. Speziell 
wo sie das isosthenische Prinzip an einzelnen Beispielen naher ent- 
wickeln, sprechen sie immer nur von den Widerspriichen zwjschen 



126 


Enter Abschnitt. Die griechische Skepsis. 


gegenstandlichen Erkenntnissen, von der artiSedig row npaypa- 
raw. 7 ) Mit objektiver Erkenntnis wiederum ist niemals die Er- 
kenntnis von Erscheinungsobjekten , sondern sind stets nur gemeint: 
Urteile uber die adrjka und vnoxeijura, uber die Dinge, wie sie 
an sich selbst beschaffen sind. Nur unter der Voraussetzung von 
der Unerkennbarkeit der Dinge an sich gilt also die Isosthenie. 
Sie ist demnach ungliltig fur alle Behauptungen uber Objekte, die 
blofie Erscheinungsobjekte sind; sie ist ungiiltig fur alle Subjekte, 
die obige Voraussetzung nicht anerkennen. Die modeme Partei 
aber, die mit der antiken Skepsis auf gleicher Basis steht, kann 
sich auf keinen geringeren berufen als auf Kant Kant und die 
grofie Schule der Kantianer lehren ausdrucklich die skeptische 
Isosthenie fur alle Urteile uber die Dinge an sich. Wenn ich z.B. 
von der Welt als einem Dinge an sich rede, so kann ich — nach 
Kant — mit gleich uberzeugenden Griinden dartun, dafi die Welt 
im Raume Grenzen, in der Zeit einen Anfang hat und ihre Materie 
aus unteilbaren Atomen best eh t, wie die Antithesen, dafi die Welt 
dem Raume nach unendlich, der Zeit nach ewig, der Materie nach 
ins Unendliche teilbar ist Kant hat diese Beweise auch wirklich 
angetreten in dem beruhmten Abschnitt seines Hauptwerks: Von 
den Antinomien (Gesetzwidrigkeiten) der reinen Vemunft Diese 
Antinomien oder Isosthenien dienen ihm dazu, aus den kontra- 
diktorischen Thesen iiber die Dinge an sich die Unerkennbarkeit 
dieser Dinge zu beweisen und andrerseits zum glanzendsten Beleg 
fur die anderwarts bereits bewiesene Unerkennbarkeit. Und so ist 
auch ihm — wie der antiken Skepsis 8 ) — die Isosthenie Methode 
und Ergebnis zugleich. — Es ist richtig, dafi sich die skeptische 
Isosthenie auch in das bedeutendste philosophische System der 
neueren Zeit hiniibergerettet hat Aber bei aller Verwandtschaft, 
die zwischen Kant und diesen antiken Vorlaufern hier besteht, 
diirfen doch die prinzipiellen 9 ) Trennungslinien nicht ubersehen, 
noch verwischt werden. Sie liegen erstens in dem ganz ver- 
schiedenen Zweck, welchcn die Isosthenie bei Kant und den 
Pyrrhonikern verfolgt Diese benutzten sie dazu , um die Unsicher- 
heit von aller Erkenntnis, allem Wissen und aller Wissenschaft 
darzutun, (indem sie stillschweigend nur eine Erkenntnis von den 
Dingen an sich fur wahres Wissen und Wissenschaft ansehen und 
den BegrifT von Erscheinungswissen noch nicht ausgebildet haben); 
Kant dagegen folgerte aus den Antinomien und Isosthenien geradezu, 
dafi Erkennen, Wissen und Wissenschaft nur in der Erscheinungs- 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 


127 


welt Sinn, Bedeutung und sicheres Fortkommen besafien, dariiber 
hinaus aber zu leeren Namen ohne Inhalt, zu wesenlosen Phantasie- 
gebilden herabsanken. Ein zweiter Unterschied betrifft die Objekte, 
von denen die gleichkraftigen Behauptungen gelten sollen. Beide- 
mal sind es die Dinge an sich seibst. Aber bei Kant bedeuten 
diese Dinge an sich, von denen wir nichts wissen konnen, aufier- 
zeithch-aufierr&umliche, ubersinnliche, metaphysische Wesen, und 
sie haben mit den raumlich * zeitlichen Gegenstanden, die wir sehr 
wohl zu erkennen vermogen, nichts gemein; fur die antiken Skep- 
tiker dagegen befinden sich die Dinge an sich im Raum und in 
der Zeit, und sind die sinnlichen, physischen Ursachen unsrer 
Gegenstandvorstellungen. 

Wir sagten: die Isosthenie gelte fur die antike Skepsis nur 
unter der Voraussetzung der Onerkennbarkeit der Dinge an sich. 
Diese Voraussetzung ist aber weder eine naive, stillschweigende 
noch unbewufite, sondem sie tritt bei den Skeptikem als wohl be- 
grundete Behauptung auf. Wir kdnnen die Beschaffenheit der Dinge 
aus dem einfachen Grunde nicht erkennen, weil unsre Erkenntnis- 
mittel, Sinne und Vemunft, anschauliches und begriffliches Er- 
kennen — die einzigen Funktionen, die uns zur Verfugung stehen 
— dazu nicht ausreichen. Demnach hangt auch die Beurteilung 
des skeptischen Urprinzips letzten Endes von der Stichhaltigkeit 
dieser Begriindung ab. 

n. Die sensuale Skepsis. 

Unsre Aufgabe fiihrt also zunachst darauf: an die skeptische 
Theorie von der sinnlichen Wahmehmung, wie sie in den Tropen 
Aenesidems zum Ausdruck gelangte 10 ), den kritischen Mafistab 
anzulegen. 

Suchen wir aus ihr das Bleibende herauszuschalen und das 
Vergangliche auszuscheiden, so lehrt uns gleich der erste Tropus 
eine wichtige Einsicht — Er schlofi aus dem verschiedenen Bau 
der einzelnen Lebe wesen, der Heuschrecke, des Lowen, des Men- 
schen usw., dafi sich die Erscheinungen der gleichen Objekte in 
den einzelnen Organismen verschieden darstellen und es also nie- 
mals auszumachen sei, wer das wahre Bild eines Dinges besitze. 
Dieser Tropus belehrt uns dariiber, dafi all unsre Aussagen liber 
die Beschaffenheit der Dinge nur fur die menschliche Erkenntnis 
•und nur unter ihrer Voraussetzung unbedingt giiltig sind. Die 
Skepsis beschrinkt hier ihren Einwand zwar auf die sinnliche 



128 


Erster Absdmitt. Die griechische Skepsis. 


Erkenntnis; man kann ihn aber getrost auf die gesamte Erkenntnis 
ausdehnen. 11 ) Hatten die Tiere andersartige Erkenntnisbedingungen, 
so ware die skeptische Folgerung unwiderlegbar. 

Nun glauben wir zwar, dafi die Tiere nicht einen ganz anders- 
artigen Raum sehen , nicht vdllig andersartige Farben empfinden, 
nicht ganz andre Verkettungen der Erscheinungen wahrnehmen als 
wir, sondern nur einen entwickelteren oder unentwickelteren Sinnes- 
apparat und ein unentwickelteres Denkvermogen besitzen. Aber wir 
schliefien doch hier zunachst nur aus ahnlichen Wirkungen auf ahn- 
liche Ursachen, namlich aus den unsem ahnlichen tierischen Reak- 
tionen (dem Kratzen des Einlafi begehrenden Hundes an der Tur, dem 
Scheuen des jungen Pferdes vor knattemdem Gewehrfeuer) auf die 
Ahnlichkeit der Empfindungen und Vorstellungen als Ursachen dieser 
Reaktionen. Aber der Schlufi von der Wirkung auf die Ursache 
ist ein gewagter und vieldeutiger. Man kann die Vermutung, dafi 
die tierische Erkenntnis sich zwar dem Grade, aber nicht der Art 
nach von der menschlichen Erkenntnis unterscheide, auch durch den 
sicheren Schlufi von der Ursache auf die Wirkung zu begrunden 
suchen. Die tierischen Sinneswerkzeuge und die Organe der hdheren 
geistigen Fahigkeiten von der Amobe bis zum Gorilla herauf bieten 
inStruktur undFunktion, physikalisch undchemisch, anatomisch und 
physiologisch bei alien der Skepsis zuzugestehenden Abweichungen 
doch homogene Verhaltnisse mit denjenigen im Menschen dar. 
Jetzt schliefit man von der physischen Ursache auf die psychische 
Wirkung oder Begleiterscheinung. 

Aber beidemal ist das Verhaltnis zwischen Ursachen und Wir- 
kungen unmittelbar immer nur fur den Menschen festgestellt, nicht 
fur die Tiere, um die es sich handelt. Bei ihnen kennen wir stets nur 
das eineGlied; im erstenFall die physische Wirkung, im zweitenFall 
die physische Ursache der psychischen Prozesse; das andre Glied, 
die seelischen Aufierungen, erschliefien wir nur durch die Analogie 
mit den Vorgangen in unsrer eigenen Person — ex analogia ho- 
minis. Weil bei uns mit den Reizungen der Netzhaut raumlich 
geordnete Lichtempfindungen regelmafiig verbunden sind, weil wir 
bei heftigen plotzlichen Gerauschen stets zusammenfahren, uber- 
tragen wir diese Kausalzusammenhange oder gesetzmafiigen Parallel- 
erscheinungen (ein Unterschied, dessen Vernachlassigung man an 
dieser Stelle gestatten wird) auch auf andre Lebewesen, bei denen 
uns direkt immer nur das eine Glied dieses Zusammenhangs ge- 
geben ist. Wir schliefien also aus ahnlichen Ursachen (Wirkungen) 



Drittes KapiteL Die Kritik der griechischen Skepsis. 


129 


auf ahnliche Wirkungen (Ursachen). Nun ist die Analogie gewifi 
ein berechtigtes Hilfsmittel, dessen sich Natur- wie Geisteswissen- 
schaft gleichmafiig zu ihrem Fortschritt bedienen. Wenn gar, wie 
in dem vorliegenden Fall, bei dem Schlufi von ahnlichen Ursachen 
auf ahnliche Wirkungen und umgekehrt, die grundsatzliche Ahn- 
lichkeit in der biologischen Struktur aufs genaueste festgestellt 
worden ist und immer mehr festgestellt wird, so steigt da- 
xnit in direktem Verhaltnis ein solcher durch Analogie ermittelter 
Satz an Gewifiheit. Aber allem Zweifel entruckt, soweit das bei 
einem allgemeinen Satz uber faktische Verhaltnisse uberhaupt 
moglich ist, wird er erst dann, wenn seine Richtigkeit durch aprio- 
rische Beweisfuhrung deduktiv, oder induktiv durch Erfahrung 
zwingend erhartet ist. Da es sich bei der Frage: was und wie 
erkennen die Tiere? um kein Problem der formalen Logik noch 
der Mathematik, sondern um eine inhaltliche Aussage uber Tat- 
sachen handelt, die nie rein aus der menschlichen Vemunft ent- 
springen kann, so wird der Analogieschlufi iiber objektive Verhalt- 
nisse nur durch die Probe an der Erfahrung den hochstmoglichen 
Gewifiheitsgrad erreichen. Selbst jedes Urteil uber ursprungliche 
Kausal verhaltnisse, das von gleichen Ursachen auf gleiche Wir- 
kungen schliefit, mufi sich die bestandige Nachpriifung an der Er- 
fahrung gefallen lassen. Denn auch der strenge Kausalitatsglaubige, 
fur den mit dem Vorhandensein einer Erscheinung absolut not- 
wendig als unmittelbare Folge ihre Wirkung gesetzt ist, mufi zu- 
geben, dafi die bestimmten Kausalbeziehungen nur durch die 
Erfahrung erkannt und die bisher erkannten auch durch neue Er- 
fahrungen berichtigt, vielleicht auch umgeworfen werden und als 
verkannte sich erweisen konnten. Stofien wir also auf ein Gebiet, 
wo ein empirisch ermitteltes Kausalverhaltnis in seiner Geltung an- 
gezweifelt wird, so ist der erste Schritt zu deren Rettung die empi- 
rische Nachpriifung. Wo diese ausgeschlossen ist, konnen wir dem 
Zweifel nicht vollig das Tor verschliefien. Vollends, wo es sich 
nur um Analogieschliisse iiber gesetzmafiige Beziehungen zwischen 
Tatsachen handelt, da werden die Zweifel erst recht nur verstummen, 
wenn beide Glieder der erschlossenen Beziehung in ihrer gesetz- 
mafiigen Verbindung erfahrungsmafiig beobachtet worden sind. 
Eine solche Beobachtung aber ist in unsermFalle grund- 
satzlich ausgeschlossen. Denn um das Seelenleben der Tiere 
^das durch unsem Analogieschlufi ermittelte Glied einer gesetz- 
lichen Beziehung) empirisch, d. h. unmittelbar zu beobachten, ware 

Richter, Skeptirismus. 9 


Erster Abschnitt Die griecbische Skepsis. 


13° 

eine direkte Hineinversetzung in die tierische Psyche 
ebenso unerlafiliche , wie unerfullbare Bedingung. Es erlangt also 
unser Urteil iiber tierische Vorstellungen, Erkenntnisprinzipien, und 
damit iiber eine tierische „Wahrheit“ nicht den Gewifiheitsgrad 
empirischer Aussagen iiber unmittelbare Erlebnisse (ich sehe rot) 
oder formaler Anschauungs- und Denknotwendigkeiten (zwischen 
zwei Punkten ist nur eine Gerade moglich, A = A); auch nicht 
die Gewifiheit von Aussagen iiber induktiv ermittelte Kausalver- 
hSLltnisse (Wfirme bewirkt Ausdehnung der Korper); auch nicht 
einmal die Gewifiheit durch Analogie erschlossener, aber an der 
Erfahrung nachprfifbarer, wenn auch nicht nachgeprufler Urteile 
(da Ei und Samen des Menschen den tierischen sehr ahnlich sind, 
so werden auch die kausalen Prozesse im menschlichen Embryo, 
die wahrend der ersten Tage ablaufen, den tierischen sehr ahnlich 
sein). Sondem die Gewifiheit, dafi unsre Erkenntnisbedingungen 
mit nur graduellen Abweichungen auch fur die Tiere gelten , gleicht 
der Gewifiheit von empirischen Analogieschliissen, bei denen die 
Ahnlichkeit der Glieder eine sehr grofie, aber die Bestatigung 
durch Erfahrung ausgeschlossen ist Alle iibrigen Analogieschliisse 
erarbeiten in ihren Folgerungen einen hoheren Gewifiheitsgrad mit 
Ausnahme solcher, die auf geringe Ahnlichkeit gegriindet und gleich- 
falls empirisch niemals zu verifizieren sind. (Da gewisse Pflanzen 
wie die mimosa pudica in ihren Reaktionen eine Analogie mit den 
niederen Tieren zeigen, wird ein bewufites, dem tierischen ana- 
loges Seelenleben als Ursache dieser Reaktionen anzunehmen sein). 
— Bei alledem ist noch der gfinstigste Fall gewahlt, namlich dafi 
meine Erkenntnisbedingungen auch fiber eine RealitSt , die unab- 
hangig von mir besteht, wahre Aussagen zu machen vermogen. 
Leugnet man das und vertritt aus allgemeinen erkenntnistheoreti- 
schen Erwagungen den Standpunkt, dessen Berechtigung erst spater 
erortert werden kann, dafi alle menschlichen Einsichten nur fur 
den Menschen Geltung haben, so ist jeder Spekulation fiber die Er- 
kenntnisart der Tiere von diesem solhumanen Standpunkt aus die 
Spitze abgebrochen. Denn wenn ich mit nur fur mich geltenden 
Erkenntnisbedingungen fiber tierische Erkenntnisbedingungen ein 
Orteil felle, so drehe ich mich vollst&ndig im Kreise. Zwar ge- 
stattet auch der extreme Solhumanist Analogieschliisse von ihn- 
lichen Ursachen auf ahnliche Wirkungen, aber das zu erschliefiende 
Glied darf nicht grundsatzlich aus der Welt der menschlichen Pha- 
nomene herausfallen. 



Driltes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 13 1 

Nur nebenbei sei hier eines weiteren Verdienstes der alten 
Skeptiker gedacht. Wahrend diese Manner die Verschiedenheit 
von Mensch und Tier in erkenntnistheoretischer Beziehung zu ihren 
Zwecken auszubeuten suchten, haben sie umgekehrt die enge Ver- 
wandtschaft beider im zweiten Glied ihres Beweisganges betont 
Indem sie die Keime und Anlagen zu alien menschlichen Bewufit- 
seinsaufierungen bis zu den moralischen hinauf im tierischen Geistes- 
leben aufzeigten, schlossen sie, dafi bei bestehenden Differenzen 
in den Sinneswahmehmungen die Tiere nicht etwa als Wesen von 
ganz anderer und niederer Art „unglaubwurdiger l< seien als ihre 
hochstehenden Briider. Was die Skeptiker hier teils iibertreibend, 
teils erst in rohen Ansatzen aussprachen, ist in der neueren Zeit, 
hauptsachlich seit dem modemen Materialismus 12 ), dann durch den 
Darwinismus eingehend und wissenschaftlich erforscht worden. Sind 
auch die Uniersuchungen — gerade nach ihrer prinzipiellen Seite 
— dariiber noch lange nicht abgeschlossen und stehen wir noch 
heute alle in dieser Bewegung darin, so darf doch wohl die An- 
sicht als die herrschende gelten, dafi auch zwischenTier und Mensch 
die Natur keinen Sprung gemacht habe, sondern in stetigen Ober- 
gangen von dem einen zum andem gelangt sei. 

Die Skepsis hatte in ihrem ersten Tropus eine Armee von 
Gegeninstanzen in den andersgearteten Wahrnehmungen der Tiere 
aufmarschieren lassen, um die Wahrheit aller menschlichen Aus- 
sagen zu verdachtigen. Wir bemiihten uns zu zeigen, dafi ver- 
mutlich die tierischen Vorstellungen nur graduell, nicht prinzipiell 
von den menschlichen verschieden seien, dafi diese Vermutung aller- 
dings (so gut wie jede andre Vermutung dariiber) fur einen be- 
stimmten erkenntnistheoretischen Standpunkt ausgeschlossen sei; 
dafi sie dagegen fur alle, die nicht extreme Solhumanisten sind, 
einen Wahrscheinlichkeitsgrad mittlerer Hohe besafie. Ist sie richtig, 
so wiirde das Tier, dem die vemiinftigen Funktionen des Menschen, 
das heifit die voile Bliite der in ihm selbst schlummemden Er- 
lcenntniskrafte verliehen wiirde, auf Grund seiner tierischen Sinnes- 
data keine dem menschlichen Wissen widersprechende Aussage 
zu machen brauchen, nur, je nach seiner Organisation, dieses 
Wissen auf manchen Punkten nicht erreichen, auf andern iiber- 
fliigeln. 

Wie wir in der tierischen Erkenntnis (vor allem wegen der 
embryonalen Begriffsbildung) eine niedere Stufe vor uns zu haben 
glauben, so ist auch der Gedanke erlaubt, dafi es Wesen gibt 

9 * 





13 2 Erster Abschnitt. Die griechische Skepsis. 

mit hoheren und gesteigerteren Erkenntnisfunktionen, als die mensch- 
lichen es sind. Aber die Annahme von der Existenz solcher 
Wesen, zu der sich etwa ein Leibnitz durch das Kontinuitatsgesetz 
veranlafit sah, ist ein freies Produkt des Den kens, das alien Er- 
.fahrungsboden unter seinen Fufien verloren hat Keine Tatsache 
ist uns gegeben, aus der als Wirkung wir diese Ursache oder aus 
•der als Ursache wir diese Wirkung erschliefien konnten. Immer- 
hin wiirde die menschliche Wahrheit mit einer ubermenschlichen 
und untermenschlichen durchaus die Fiihlung behalten und ihre 
absolute, d. h. fur alle Subjekte verbindliche Geltung ware nicht 
grundsatzlichen Zweifeln preisgegeben. 

Das geschieht erst, wo der Gedanke einer an ganz hetero- 
gene Erkenntnisbedingungen gebundenen Wahrheit vor uns auf- 
steigt. Denn andersgeartete Wesen, — etwa auf dem Jupiter — 
deren Moglichkeit zu leugnen, unsinnig ware, sind uns in ihren 
Erkenntnisprinzipien vollig unbegreiflich. Schon wie ein Wesen 
einen vierdimensionalen Raum anschauen sollte, verstehen wir nicht; 
logisch aber ist es nicht undenkbar, ja selbst mathematisch ist es 
vorstellbar, dafi es geschahe. Wir sind eben ganz an unsre Er- 
kenntnismittel gebunden, konnen unsre Haut nicht sprengen. So 
scheidet das Problem, eine aufiermenschliche Wahrheit zu er- 
kennen, als ein unlosbares aus; vollends aber zwischen dieser aufier- 
menschlichen Wahrheit und der menschlichen zu entscheiden, welche 
die „wahrere Wahrheit" sei, das ist eine Zumutung, die selbst an 
einen Philosophen zu stellen, absurd ware. Denn das wurde ja 
den Besitz von drei Wahrheitsarten voraussetzen, der eigenen, der 
andersgearteten, und einer dritten, an der beide zu messen seien. 
Diese Aufgabe ist aber nicht nur unerfullbar, weil sie Unmogliches 
verlangt, sondem auch weil sie bedenkliche Voraussetzungen hat, 
vielleicht ganz schief gestellt ist, vielleicht gar nicht bestehen kann. 
Denn schon die Frage: wer besitzt die wahre Erkenntnis? ist doch 
wohl nur von unserm, dem menschlichen Standpunkt aus aufge- 
worfen. Fur ein aufiermenschliches Wesen, das den Gegensatz 
von Wahrheit und Irrtum nicht kennte, verlore sie alien Sinn. Ja, 
der blofie Gedanke, dafi es andersgeartete Wesen mit anders- 
gearteten Erkenntnisfunktionen geben konne, fur die also auch 
eine andre Wahrheit bestunde, ist doch schliefilich auch nur gemafi 
den logischen Denkgesetzen des Menschen gefafit und nur durch 
den Satz des Widerspruchs und der Identitat ermoglicht. Und der 
Mensch ist selbst da, wo er sich am weitesten von dem Schwer- 




Drittes Kapitel. Die Kritik der giieduschen Skepsis. 


133 


punkt seiner Erkenntniskrafte wenigstens mit dem freien Flug der 
Gedanken zu entfernen scheint, wenn er auch nur die Denkbar- 
keit (geschweige denn die Vorstellbarkeit) von Geistern behauptet, 
fur deren Erkenntnis andre Regeln und Gesetze gelten — auch 
dann noch ist er mit unzerreifibaren Faden an seine eigene Sphare 
und an die sie beherrschenden Regeln und Gesetze gebunden, 
Selbst die bescheidenste und leerste AufTassung einer aufiermensch- 
lichen Wahrheit, die Konzeption der reinen Moglichkeit einer 
solchen, ist fur den Menschen an die Giiltigkeit seiner Wahr- 
heiten (hier der logischen Axiome) notwendig gebunden, deren 
Ungultigkeit und Unverbindlichkeit gerade in der fraglichen Auf- 
fassung als moglich behauptet wird. Wenn irgendwo, so ist hier 
der Vergleich mit dem Freiherm von Munchhausen am Platze, der 
sich an seinem eigenen Zopfe aus dem Sumpfe ziehtl So ist die 
Wahrheit ein Begriff, der Quelle des menschlichen Geistes ent- 
strdmt, sie zu finden eine Aufgabe, nur von ihm gestellt und 
darum nur von ihm zu losen, ein Knoten, nur von ihm geschiirzt 
und darum nur von ihm zu entwirren. 

Konnten wir uns schon von dem Wahrheitsbegriff ganz an- 
ders gearteter Subjekte nicht die geringste Vorstellung machen, 
ja war die blofie Denkbarkeit desselben von unsern eigenen „Wahr- 
heiten" abhangig, so ist nun eine Wahrheit, die weder fur uns, 
noch fur andre Wesen da ist, eine Wahrheit an sich erst recht 
ein unvollziehbarer Gedanke. Bei Dingen an sich, Wirklichkeit 
an sich laGt sich etwas denken — bei Wahrheit an sich kaum. 
Und doch hat die Wahrheit an sich von Plato bis auf die neuere 
Zeit oft eine Hauptrolle auf der Buhne der philosophischen Systeme 
gespielt. Wahrheit ist, ganz allgemein, die Eigenschaft von Aus- 
sagen, Urteilen und Satzen: ein spezifisches Gefuhl, das Gefiihl der 
Evidenz, notwendig im Menschen auszulosen. Der Begriff: Wahrheit 
ist also eine Abstraktion, die das gewissen konkreten Aussagen Ge- 
meinsame (die bestimmte Gefuhlsbetonung) zum Ausdruck bringen 
soil. Sie ist nichts neben oder uber den einzelnen wahren Ur- 
teilen, sowenig wie die Pferdheit oder Menschheit etwas neben oder 
uber den einzelnen Pferde- oder Menscheneigenschaften ist. So 
bezeichnet, wenn man sich an die einzig verstandliche Bedeutung 
des Wortes halt, Wahrheit bestimmte Beziehungen von Aussagen 
zu einem Subjekte. Das Subjekt ist demnach unerlafllicher Trager 
aller Wahrheit; es gibt nur Wahrheit fur jemand, nicht Wahrheit 
an sich. Indem man nun diejenigen Aussagen, welche fur alle 


134 


Enter Abschnitt. Die griechiiche 


Menschen zu alien Zeiten absolut sicher gelten, als ewige Wahr- 
heiten fafite (veritates aetemae des Spinoza, verit&s 6temelles des 
Leibnitz), nahmen die Wahrheiten den Charakter aufierzeitlicher, 
von den erkennenden Subjekten unabhangiger Prinzipien, und da- 
mit bald — dem Trieb zu metaphysischer Hypostasierung ent- 
sprechend — starrer, selbstandiger Realitaten an. Die Unabhangig- 
keit der Wahrheit vom individuellen Subjekt wurde zu einer Un- 
abhangigkeit vom Subjekt uberhaupt. Damit ist aber zugleich alle 
Fuhlung mit dem ursprunglichen W ahrhei tsbegriff, zu dessen Wesen 
die Beziehung auf das Subjekt gehort, verloren gegangen und eine 
logische wie psychologische Monstrositat (Wahrheit an sich) die 
Folge geworden. 

Wir mussen uns also schon wohl oder ubel von der Scepsis 
belehren lassen, dafi die fur uns sicher erreichbare Wahrheit nur 
auf den Menschen bezogene, und die fur uns uberhaupt vorstell- 
bare Wahrheit nur auf gleichartige Wesen bezogene Wahrheit ist 
Dagegen brauchen wir uns nicht dadurch zu der vorschnellen 
Folgerung hinreifien zu lassen, an der Auffindung der Wahrheit des- 
halb zu verzweifeln. Wir werden allerdings die sicher erkennbare 
Wahrheit nur auf die menschliche Wahrheit kritisch einzuschranken 
und eine gewisse Resignation damit zu bekennen haben. Diese 
wird aber doch wesentlich dadurch erleichtert, dafi aUes, was wir 
schlechterdings nicht vorzustellen vermogen, uns auch nichts an- 
geht, uns nicht beruhrt, uns eigentlich kalt lassen kann. Nur wer 
in den Apfel gebissen hat, verspurt den Reiz, es wieder zu tun 
und ist betrubt, wenn ihm der Genufi versagt wird. Wer sich 
aber gar kein Bild von dieser Geschmacksempfindung zu machen 
imstande ist, wird den Apfel nicht vermissen. Nur die Blind- 
gewordenen sind ungliicklich; die Blindgeborenen nicht Fur eine 
aufiermenschliche Erkenntnis — sollte es eine solche geben — 
sind wir alle blindgeboren. 

Und noch eine weitere Einschrinkung ist unerlafilich. Wenn 
wir von menschlicher Wahrheit und Erkenntnis sprechen, so 
scheidet dabei jene Gruppe unglucklicher Wesen aus dem Begriff 
der Menschheit aus, die an unheilbaren Geisteskrankheiten 
leiden. Auch diesen der pathologischen Psychologie entnommenen 
Gesichtspunkt batten die Skeptiker berucksichtigt und erkenntnis- 
theoretisch ausgebeutet. Zwar findet derselbe in den Tropen, die 
nur die sinnliche Erkenntnis mit ihren Zweifeln benagen, seine 
Stelle 18 ), trifft aber so gut wie die obigen Angriffe das gesamte 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 


*35 


Rustzeug unsres Wissens. Der Durchschnittsmensch, der das gott- 
liche Sctv/Aa&iv, nach Plato die Quelle aller Philosophic, nicht 
kennt, findet es selbstverstandlich , dafi er mit seinen Wahrneh- 
mungen und Begriffen „im Rechte" ist, sein geisteskranker Bruder 
„im Unrecht“. Und das nicht nur, wenn es sich um Halluzina- 
tionen und Visionen, um fixe Ideen und Manien handelt, sondem 
auch dort, wo der Unterschied der Vorstellungen die Elemente 
und Formen des Erkennens gar nicht beriihrt , wo nur die mit den 
gemeinsamen Erkenntnismitteln erarbeiteten Ergebnisse die Fassungs- 
kraft und den Horizont der „gebildeten Majoritat 11 iibersteigen. Da 
wird der Durchschnitt flugs mit der „Nonn“, das so als normal 
Bestimmte mit dem Gesunden, das Anormale mit dem Krankhaften, 
das Pathologische mit dem — Unwahren gleichgesetzt: das Ver- 
dammungsurteil uber die betreffende Einsicht ist die Folge. Will 
es nun das Schicksal, dafi bei solchen, den Massendurchschnitt 
iiberfliegenden Geistem auch die Prinzipien des Erkennens ge- 
stort werden und wirkliche Geisteskrankheit sie beschattet, so findet 
die Masse triumphierend darin die Bestatigung ihres ersten Urteils. 
An Mannern, welche dieses unritterliche Vorgehen haben erfahren 
miissen, bietet die Weltgeschichte keinen Mangel — m&gen sie 
nun Schumann, Holderlin oder Nietzsche heifien. Der griechische 
Skeptiker sieht tiefer als der moderne Philister. Den Ge- 
nius, weil er in hdhere Gegenden stieg .als die Herde, darum fur 
krankhaft, seine Werke fur minderwertig zu erklaren, hatte die 
griechische Kultur schwerlich erlaubt; ob wohl ein gebildeter Athener 
es gewagt hatte, des dunklen Heraklit tiefsinnige Weltdeutung oder 
Platos mystische Ideenlehre als pathologisch zu bewerten und dar- 
aus einen Grand gegen ihren Wahrheitsgehalt zu entnehmen? Der 
griechische Philosoph aber stellt auch noch bei dem in den Grund- 
kraften des Erkennens Gestorten die Frage: was hat Krankheit 
mit Unwahrheit, was Gesundheit mit Wahrheit zu schaffen? Oder 
in der uniibertrefflichen Originalfassung: „Denn so wie die Gesunden 
einerseits gemafi der Natur sich verhalten, namlich der der Ge- 
sunden, andrerseits gegen die Natur, namlich die der Kranken, 
ebenso verhalten sich auch die Kranken einerseits wider die Natur 
der Gesunden, andrerseits gemafi der Natur der Kranken; so dafi 
man auch ihnen, da sie in gewisser Beziehung naturgemSLfi sich 
verhalten, Glauben schenken mufi." 14 ) 

Man sieht: hier wird ein wichtiges erkenntnistheoretisches 
Problem angeschnitten. Geht man von der Annahme einer Wahr- 



136 


Enter Abschnitt. Die griechiache Skepsia. 


heit an sich aus, deren Bedenklichkeit schon beruhrt wurde, so 
ist allerdings nicht einzusehen, ob der Geisteskranke, der eine Schar 
weifierMause durch das Zimmer huschen sieht , ob derGesunde, der 
kein einziges solches Tier erblickt, im Besitz dieser Wahrheit an 
sich sein sollte. Denn warum sollte die „ Wahrheit an sich <( in der 
Wahrheit fur den Gesunden reiner erscheinen als in der Wahrheit 
fQr den Kranken? Die Wahrheit an sich hat a priori mit Gesund- 
heit und Krankheit nichts zu schaffen, steht beiden Begriffen gleich 
nah, weil gleich fern. Etwaige Vorzuge konnten doch nur gemafi 
den Wahrheitsregeln fur eine der Parteien ausgemacht werden, fiber 
deren absolute Verbindlichkeit aber gerade die Wahrheit an sich 
zu Gericht sitzen soil. Der Zirkel ist vollst&ndig und ihm nicht zu 
entrinnen. 

Gilnstiger liegen die Verhaltnisse, wenn wir die Wahrheit in 
ihrer einzig sinnvollen Bedeutung, als Beziehung, und in ihrer 
einzig verwertbaren Bedeutung, als Beziehung auf den Menschen 
fassen. Sieht man von den Voraussetzungen des Solipsismus, 
d. h. von der Meinung ab, dafl nur ich existiere, und gesteht 
man auch andem Menschengeistem Dasein zu, so dfirfen wir die 
pathologischen Aussagen des heilbaren Geisteskranken mit gutem 
Grunde als false he bewerten. Denn sie erfullen die Bedingungen 
nicht, welche unsre und seine Erkenntnisprinzipien an die Wahr- 
heit einer Aussage stellen. Der geheilte Delirant, so gut wie wir, 
glaubt weder vor noch nach seiner Krankheit an die (zukfinftige 
oder vergangene) Erfullung seines Zimmers mit weifien Mausen. 15 ) 
So scheidet die Jagd der Mause, nicht als Tatsache seines Bewufit- 
seins, aber als objektives Geschehnis, aus seinen Annahmen aus, 
und der einheitliche Zusammenhang seiner Erfahrung (der durch 
dasselbe unterbrochen worden ware), die Widerspruchlosigkeit seiner 
Vorstellungen (die mit demselben nicht vorhanden ware) sind wieder- 
hergestellt; darum gilt ihm diejenige Aussage, welche in sein ein- 
heitliches und widerspruchloses, d. h. wahres Weltbild nicht hinein- 
paflt, als falsch. Denn das Falschheitsgefuhl kettet sich — wir 
werden das spater auszufuhren haben — notwendig an alle Urteile, 
die nur einer Erfahrung oder einem unsrer Denkgesetze wider- 
streiten. Aber wie die Mausejagd als objektives Geschehnis aus 
seinem Weltbild ausscheidet, so gliedert sich andrerseits das nach- 
weisbar Wirkliche an ihr, namlich die Vorstellung derselben als 
einer objektiven, einheitlich und widerspruchlos in dieses Weltbild 
ein. So genau der Geheilte es begreift, dafi das einst als wirklich 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 


137 


vorgestellte Ereignis nicht wirklich hat eintreten konnen, weil es 
dem strengen Kausalzusammenhang der Erfahrung, den gesunde 
Erkenntnisprinzipien fur die sinnliche Welt zum mindesten fordern, 
zuwiderlauft, und er deshalb die Irrtumlichkeit der einstigen Aus- 
sage einsieht, genau so gut begreift er nach den namlichen Er- 
kenntnisprinzipien die Notwendigkeit dieser Halluzination im ge- 
gebenen Zeitpunkt; 'er weifl, dafl eine ubermafiige Zufuhr von 
Alkohol den Stoffumsatz in unserm Korper verandert und als 
seelische Begleiterscheinung tauschende Vorstellungen uber die ob- 
jektive Wirklichkeit hervorruft. 16 ) So urteilt der Gesunde wie der 
Geheilte nach den gleichen Erkenntnisprinzipien, denen sich nun 
auch die Aussagen aus der Krankheit unbedingt fugen miissen. 
Der Stempel der Falschheit, der ihnen vom gleichen Subjekt, 
das einst ihr Trager war, aufgedriickt wird, ist das Zeichen ihrer 
Unterwerfung. Es sind demnach die Phantasieurteile des geheilten 
Deliranten fur diesen selbst, wie fur den Gesunden, falsch; fur 
niemanden aber wahr, also iiberhaupt im menschlichen Sinne — 
falsch. 

Anders, wo es sich um unheilbare Geisteskranke handelt. 
Auch deren Aussagen, soweit sie den „gest6rten“ Bewufitseins- 
teilen entspringen, halt der Gesunde natiirlich fur falsch. Aber 
auch der Kranke? „Es gibt eine Natur des Gesunden und eine 
Natur des Kranken". Empfindet auch dieser es als Widerspruch, 
Napoleon I. zu sein? und wenn er es tut, hindert ihn dieses Wider- 
spruchsgefuhl an dem Glauben, er sei der franzosische Kaiser ? 
Hat er vielleicht, wie wir, auch eine einheitliche Erfahrung, oder 
bedarf er, um etwas wahr zu finden, nicht wie wir dieser Einheit- 
lichkeit? Der Geheilte gab uns daruber Aufschlufi, der Unheilbare 
vermag es nicht. Die einzige Probe darauf — Hineinversetzung 
in die Seele des Kranken — ist uns versagt. Und so miissen wir 
auch hier die Mdglichkeit zugeben, dafl fur den unheilbar Geistes- 
kranken eine andre, uns unbegreifliche Wahrheit besteht. Zwar 
wird die Wahrscheinlichkeit davon durch ganz besonders nahe- 
gelegte Analogieschliisse auf eine verschwindend kleine Grofie 
herabgedruckt Die enge Verwandtschaft zwischen den Krankheits- 
bildem Geheilter und Ungeheilter, Geisteskranker mit und ohne 
Krankheitsbewufitsein, die Ahnlichkeit gewisser Zustande in den 
vollig Normalen (Assimilation beim Lesen) mit den pathologischen 
Illusionen 17 ) usw. — all das lafit vermuten, dafi auch der Unge- 
heilte kein anders gerichtetes Wahrheitsgefuhl als der Gesunde 


138 


Enter Abachnitt Die griechiscbe Skepsis. 


besitze; dafi auch bei ihm die namlichen Beziehungen (empirische, 
logische Widerspruchlosigkeit) das Evidenzgefuhl erregen, dafi aber 
diese Beziehungen ihm in ihrer Eigentfimlichkeit auf gewissenGebieten 
nicht mehr klar zum Bewufitsein kommen. Immerhin ist die hier 
erreichbare Sicherheit nur so grofi, wie die Gewifiheit, die eben aus 
derartigen indirekten Analogieschliissen sich ergibt Das betone 
man im Interesse unsrer Wahrheit, der der Philosoph lieber ganz 
gewisse Kriterien in einem kleinen Wirkungskreise verschaffen sollte, 
statt ihre unendliche Giiltigkeit, und sei es auch nur in der mensch- 
lichen Sphare, dogmatisch zu behaupten und dadurch ihre sichere 
Herrschaft im Endlichen zu gefahrden. Dafi die alten Skeptiker hier 
den Finger auf die Wunde legten, zeugt gewifi von dem erkenntnis- 
theoretischen Ernst und Tiefblick, der dieser Schule zu eigen ist 
Die Moglichkeit dieser „ Kranken - Wahrheit “ zugegeben — so gilt 
natfirlich auch von ihr alles, was uber die Wahrheit andersartiger 
Wesen bereits gesagt wurde; sie ist den Gesunden verschlossen, 
und noch viel weniger vermogen diese zu sagen, ob sie oder jene 
Kranken die „wahrere Wahrheit 1 * besitzen. 

So werden wir uns abermals bescheiden mfissen und schon 
ganz zufrieden sein, wenn wir die fur den gesunden Menschen 
bestehenden Wahrheiten zu finden imstande sind. 

Und man halte es nicht fur lficherliche Pedanterie, sondem 
fur erkenntnistheoretische Pflicht, hier den Kreis der erkennenden 
Subjekte noch einmal zu verengen. Streng genommen wissen wir 
nur von den Wahrheitsbedingungen fur das eigene Selbst, weifi jeder 
nur vollig gewifi, was seine eigene Person fur wahr halten mufi. 
Wenn man seine axiomatischen Oberzeugungen auch von alien fibrigen 
normalen Menschen notwendig geteilt glaubt, so sollte man sich 
bewufit sein, dafi auch dieser Glaube zwar auf einem der gesichertsten 
Analogieschlfisse, aber immerhin doch auch nur auf einem Analogic- 
schlufi beruht. Aus den Aufierungen des Wahrheitsbewufitseins 
andrer und ihrer Gleichheit mit dem meinigen, aus den gleichen 
Bau- und Funktionsverh&ltnissen der Bewufitseinsorgane schliefie 
ich auf ein gleiches Wahrheitsbewufitsein als Orsache dieser Aufie- 
rungen, als Begleiterscheinung dieser Funktionen. Alle Bedingungen 
der Analogie, qualitativer, quantitativer Art, sind hier in muster- 
gtiltiger Weise erfullt. Aber die empirische Probe auf die Rich- 
tigkeit, die Prfifung an der Erfahrung ist uns grundsatzlich ver- 
sagt. Und so erreicht auch dieser Glaube nur den grofitmoglichen 
Grad von Gewifiheit, den die Konklusion eines solchen Schlusses 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechuchen Skepsis. 


139 


uber tatsachliche Verhaltnisse eben erreichen kann. Nur unter 
diesem Vorbehalt darf streng genommen von menschlicher Wahrheit 
gesprochen werden. E s ist die Wahrheit fur den Einzelnen, die 
dieser ausGr linden der Analogie zur Wahrheit fiir alleMenschen erhebt. 

Engen wir hier die Problemstellung wieder auf diejenigen Er- 
kenntnisse ein, deren Beurteilung den eigentlichen Kern der zehn 
skeptischen Tropen ausgemacht hatte, so erwarten wir: dafi die 
Prinzipien der sinnlichenErkenntnis beim gesunden Menschen 
uns zur Auffindung der gesuchten Wahrheiten irgendwie behilflich 
sein werden. Aber auch diese Moglichkeit bestreitet die antike 
Skepsis durchaus. Dire zahllosen Angriffe auf die sinnliche Erkennt- 
nis sind nur so viele Variationen des gleichen Themas: die sinn- 
lichen Wahmehmungen sind alle nicht als wahr (glaubwurdig) zu 
erweisen; denn sie fiihren zu unaufloslichen Widerspriichen. Soil 
man einen Satz von so gewichtiger Bedeutung beurteilen, so darf 
eine griindliche Kritik bereits die Voraussetzungen nicht un- 
imtersucht durchschliipfen lassen, auf denen er ruht. Denn der 
Sinn einer erkenntnistheoretischen These und somit ihre Tragweite 
lafit sich nur in solcher Weise zur vollen Klarheit erheben. Wir 
werden sehen, dafi es sich hier um ein ganzes Nest solcher 
Voraussetzungen handelt, mit deren Annahme die skeptische 
Theorie vom Trug aller Wahmehmungen steht und fillt. Diese 
Voraussetzungen beziehen sich naturgemafi alle auf den Sinn, in 
dem man die Satze: eine sinnliche Wahraehmung ist glaubwurdig, 
ist unglaubwurdig, ist triigerisch (d. h. lafit nicht erkennen, ob sie 
glaubwurdig oder unglaubwurdig ist) zu verstehen hat; sie beziehen 
sich alle auf die Aufgabe, die man der sinnlichen Wahmehmung 
stellt und nach deren Losung man die Fahigkeit dieser Funktion 
unsres Bewufitseins beurteilt. Hier lassen sich nun die verschie- 
densten Annahmen machen und sind im Verlauf der Geschichte 
der Philosophie in der Tat gemacht worden. Aber sie alle ordnen 
sich in die drei erkenntnistheoretischen Grundpositionen 
ein, die iiberhaupt die einzig moglichen sind. Wir wollen dieselben 
als extremen Realismus, extremen Idealismus, gemafiigten 
Realismus, der zugleich gemafiigter Idealismus, also Idealrealis- 
mus ist, bezeichnen. 

Von diesen Positionen wird durch die Skepsis zu Tode ge- 
troffen eigentlich nur der Standpunkt des extremen Realismus. 
Man wird nun unschwer zeigen konnen: a) dafi dieser Standpunkt 
es zugleich ist, den die antike Skepsis in ihrer Kritik der sinn- 



140 


Enter Abschnitt Die griechische Skepsis. 


lichen Wahrnehmung einzig und allein zur Voraussetzung hat; b) dafi 
man von diesen Voraussetzungen aus — was die Erkenntnis der 
Dinge durch die isolierten Sinneswahmehmungen betrifft — alter- 
dings unweigerlich zu skeptischen Konsequenzen gedrangt wird; 
c) dafi es aber gar nicht die einzigen Voraussetzungen sind, die man 
machen kann, und dafi die andem erkenntnistheoretischen Grand- 
positioned diesen skeptischen Folgerungen — so, wie sie von den 
Pyrrhonikern gezogen wurden — entgehen. Daneben wird sich 
herausstellen, dafi diese Voraussetzungen der antiken Skepsis nicht 
selbst wieder erarbeitete und begrundete sind, wie diejenigen der 
modernen Erkenntnis theoretiker, sondem logisch willkurliche und 
psychologisch oft unbewufite; dafi sie aber auch keineswegs durch 
die sinnlichen Wahrnehmungen selbst gegeben und dadurch etwa 
eines Beweises uberhoben, sondem erst in einer logischen Aus- 
deutung des gegebenen Tatbestandes gegrundet sind. 

I. Die Anschauungsweise des extremen Realismus in seiner 
positiven Form lafit sich kurz dahin bestimmen: es existieren un- 
abh&ngig vom menschlichen Bewufitsein Dinge, Gegenstande, Ob- 
jekte 18 ), begabt mit Eigenschaften, welche den von uns wahr- 
genommenen wesensgleich sind; indem diese Dinge auf uns irgendwie 
wirken, drucken sie unserm Bewufitsein gewissermafien ihren Stempel 
auf, so dafi der menschliche Geist sie durch diesen Stempel erfafit; 
die Objekte und die subjektiven Wahrnehmungen der Objekte ver- 
halten sich wie das Original zur Kopie, wie die Gestalt zu ihrera 
Spiegelkonterfei. Alle Bestandteile der Wahrnehmung sind, ins 
Objektive umgesetzt, soviele Bestandteile der Dinge selbst, haben 
also alle Wirklichkeitswert, gelten insgesamt von den realen Dingen 
an sich. Man sieht: hier ist der Realit&tswert der Wahmehmungs- 
bestandteile ein extremer. Eine sinnliche Anschauung hat nun also 
die Aufgabe: die Dinge an sich selbst getreulich wiederzugeben, 
und der Sinn der Frage nach der Glaubwiirdigkeit und Wahrheit 
kann hier nur der sein: erfullt eine sinnliche Vorstellung diese 
Aufgabe; d. h. ist sie eine treue Kopistin, ein glatter Spiegel, eine 
fugsame Stempelempfangerin?, oder aber: entstellt ihr Abbild das 
Urbild, bricht ihre Spiegelung die Strahlung des Objekts zur un- 
kenntlichen Karikatur desselben, hindert ihre Eigenart die Zuge 
desStempels, sich unverandert aufzupragen? Der extreme Realist 
positiver Farbung bekennt sich zum Glauben an die erste Moglich- 
keit: die sinnlich wahmehmbaren Dinge (ein Baum, eii^ Tisch) 
konnen vom menschlichen Geist in alien ihren Eigenschaften, so wie 



Drittes KapiteL Die Kritik der griechischen Skepsis. 14 1 

sie an sich selbst sind, erkannt werden, und wie der Geist sie auf- 
fafit (von einigen leicht zu korrigierenden „ Sinnestauschungen u ab- 
gesehen), so sind die Dinge an sich selbst beschaifen. Der Baum, 
dessen Blatter ich grun, dessen Stamm ich braun sehe, dessen 
harte Rinde ich taste, dessen sufie Friichte ich schmecke, dessen 
Rauschen derWipfel ich bore, besitzt auch an sich grune Blatter, 
eine braune Rinde, ist an sich hart, tragt an sich sftfie Friichte 
und seine Wipfel rauschen an sich. Fur die moderae Wissenschaft 
ist diese AufTassung langst gestorben; sie lebt heute nur noch im 
popularen, unkritischen, naiven Bewufitsein (naiver Realismus) 19 ); 
sie ist der erkenntnistheoretische Standpunkt des Durchschnitts- 
menschen, der sich uber philosophische Probleme keine Gedanken 
macht. *°) Die scharfsinnigen Zweifler des Altertums sahen wiederum 
weiter als der heutige Laie. Sie erkannten, dafi bei einem solchen 
Verhaltnis zwischen Ding und Wahrnehmung man an einer positiven 
Losung nicht festhalten konne, diese positive Losung wenn nicht 
in eine negative, so doch in eine skeptische umzuwandeln babe. 
Sie blieben zwar extreme Realist en; aber in Bezug auf die Mog- 
lichkeit, durch die sinnlichen Wahmehmungen die realen Eigen- 
schaften der Dinge zu erkennen, kehrten sie den glaubigen Opti- 
misten den Riicken und wurden unglaubige Pessimisten. In ihrem 
Nachweis von der Notwendigkeit dieses Schrittes liegt 
ihre erkenntnistheoretische Grofitat; in dem Ausgangs- 
punkt, von welchem sie diesen Schritt unternahmen, ihre 
Beschrinkung und ihre Oberwindbarkeit 

Der extreme Realismus der Skepsis erhellt aus nichts so deut- 
lich, wie aus der Art von Widerspriichen, die diese Schule 
zwischen den sinnlichen Wahmehmungen aufgedeckt haben wollte. 
Denn alle Widerspruche, von denen aus man alsbald die Erkenn- 
barkeit der Dinge bezweifelte, sind uberhaupt nur fur die cx- 
trem realistische Perspektive — Widerspruche! 

Dabei hebt sich eine Gruppe realistischer und objektivistischer 
Voraussetzungen von den andern dadurch ab, dafi sie von den 
zwei ubrigen erkenntnistheoretischen Grundpositionen aus gemein- 
sam verworfen wird; dafi die skeptische Entwicklung von Wider- 
spriichen hier als willkurliche (wenn auch unbewufite) Konstruktion 
entlarvt und dieser Angriff auf die objektive Erkenntnis von beiden 
in gleicher Weise abgeschlagen wird. 

Denn wenn wir die Be weise dafiir durchgehen, dafi die sinn- 
lichen Wahmehmungen uns niemals die realen Beschaffenheiten der 


142 


Erster Abschnitt. Die griechische Skepsis. 


Dinge erkennen lassen, so scheidet eine Gruppe derselben als fur 
unsere Zeit uberwunden von vomherein aus. E s ist die des ofteren 
nebenbei* 1 ), aber erst im 9. Tropus (bei Sextus) in dem ganzen 
Pomp eines vollgultigen und selbst&ndigen Beweises auftretende 
Erwagung:**) dafi das namliche Objekt (z. B. das Meer) in den ver- 
schiedenen Subjekten, ja im gleichen Subjekt zu verschiedenen 
Zeiten ganz entgegengesetzte Gefiihlstone erregen kann; in Er- 
mangelung eines genugenden Kriteriums lasse sich nun nicht aus* 
machen, wer das glaubwiirdigere Bild vom Gegenstand besitzt; so 
erscheint mir das Meer beim ersten Anblick erstaunlich, spater, 
wenn sich der Eindruck abgeschwacht hat, vielleicht gleichgultig, 
ja langweilig. Wie ist es an sich, erstaunlich oder langweilig? 
Sicherlich hatten die Skeptiker recht und die Dinge liefien sich 
in ihren Gefuhlsqualitaten nicht erkennen, wenn es sich hier iiber- 
haupt — um Eigenschaften der Dinge handelte. Wir sind aber 
langst nicht mehr gewohnt, die Gefuhle der Lust und Unlust, des 
Staunens und der Langeweile als Qualit&ten der Objekte zu fassen, 
sondem lediglich als Reaktionen des Subjekts auf die Objekte, als 
rein subjektive, nur dem Individuum angehorende Zu* 
stande. Das Meer als Objekt ist also weder staunenswert noch lang- 
weilig; es lost nur (je nach der seelischen Disposition des Subjekts) 
ein bestimmtes intrasubjektives Gefiihl des Staunens oder der Lange- 
weile aus. Wenn wir dennoch sagen: das Meer ist erstaunlich, so 
ist das nur eine laxe und ungenaue Ausdrucksweise fur den ge- 
schilderten Tatbestand. Kein Besonnener denkt mehr daran, die 
Gefilhlstone, die sich an alle unsre Wahmehmungen heften, zu 
objektivieren. Ein Knauel von Widerspriichen ware die Folge 
davon. Wenn ich mich andre, so andem sich auch meine Gefuhle 
uber das gleiche, im iibrigen starr und unveranderlich gebliebene 
Objekt. (Man denke, mit welch andem Gefiihlen das Kind, der 
Jungling, der Greis etwa die „ewigen“ Felszacken eines schweize- 
rischen Bergriesen betrachten.) Andrerseits konnen alle objektiven 
Veranderungen in mir die gleiche, subjektive Gefiihlstimmung 
hervorrufen, wenn nur ich selber (was freilich selten genug vor- 
kommt) ganz einheitlich und gleich mich verhalte. (Man denke 
an den gleichmafiig veranlagten Sanguiniker, dem die „tragischsten tc 
Ereignisse heiter und rosig erscheinen.) Wenn so alles dazu dringt, 
die Gefuhle ins Subjekt zuriickzunehmen, so zwingt uns nichts, 
sie den Objekten anzuh&ngen. Logische Veraunfterwagimgen ge- 
wifi nicht, wie man eben sah; aber auch nicht etwa anschauliche. 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 


143 


rein sensuelle Beweggrunde. WsLhrend raich meine Sinneswahr- 
nehmungen einen Apfel als Gegenstand im Raum unmittelbar als 
ein glattes, rundes und farbiges Objekt empfinden lassen, auch 
der Ton des zur Erde fallenden Apfels, ja der Geruch und Ge- 
schmack der Frucht auf dieses rSumliche Objekt unmittelbar be- 
zogen und in das objektive Raumgebilde einigermafien eingeordnet 
werden, und es erst der hinzutretenden Reflexion bedarf, urn ge- 
wisse dieser Eigenschaften dem Gegenstand wieder abzusprechen **), 
so ist von einem solchen unmittelbaren Obertragungszwang 
bei den Gefuhlen nicht die Rede. Wenn ich beim Anblick des 
frischen Apfels Lust verspiire , und beim Anblick des runzligen und 
wurmstichigen Unlust, so sagt mir meine Selbstwahmehmung ganz 
unmittelbar, dafi ich lustvoll gestimmt bin und nicht der fris?he 
Apfel, ich unlustvoll, und nicht die faule Frucht. Man hat dem- 
nach weder unmittelbare noch mittelbare Griinde, die Gefuhle als 
den Dingen gehorig zu betrachten, und die Widerspriiche, zu denen 
eine solche Obertragung fuhrt, werden zum apagogischen Beweis 
fur die Unrichtigkeit derselben. Einzig den Umstand konnte man 
fur die Objektivit&t der Gefiihle geltend machen, dafi sie zur 
gleichen Zeit im Bewufitsein sind wie die sinnlichen Empfindungen 
fiber einen Gegenstand und dafi sie mit diesen zu einem einheit- 
lichen Bewufitseinszustand verschmelzen. 24 ) Aber wenn man alien 
Komponenten des Bewufitseins, das injedem einzelnen Augenblick 
immer einheitlich ist, g1eichm£fiig objektiven Wert beimessen 
wollte, so miifite man auch die Willensregung, den Apfel vom Baume 
zu holen, auf den Gegenstand ubertragen, woran doch niemand 
im Ernst wird denken wollen. Trotz dieser zuzugebenden Einheit- 
lichkeit des Bewufitseins in jedem bestimmten Augenblick brauchen 
die Elemente desselben nicht gleiche „Richtungslinien u zu zeigen, 
sondern die einen konnen nach innen, die andera nach aufien 
weisen; und das nicht nur als Ergebnis gedanklicher Korrekturen 
verstanden, sondern unmittelbar und als reine Erfahrung. Denn 
unsre Bewufitseinszustande sind zwar in jedem Augenblick einheit- 
lich, aber nicht einzig, wie die moderne Psychologie in ihren 
Untersuchungen uber den Umfang des Bewufitseins immer zwin- 
gender nachweist. — Endlich konnte man noch sagen: wenn auch 
niemand daran dachte, den Objekten selbst die Gefiihlsqualitaten 
zuzuschreiben, so kame den Dingen doch die Eigenschaft zu, ge- 
wisse Gefuhle im Subjekt zu erregen, und die Unerkennbarkeit 
dieser Eigenschaften behaupte eigentlich die antike Skepsis; sie 



144 


Erster Abschnitt. Die griechische Skepsis. 


frage nur danach, die Erregung welcher Gefuhle im Subjekt — 
abstrahiert man von dessen, durch andre Umstande bedingten, 
augenblicklicher Seelenverfassung — zur Eigenschaft des Meeres, 
des Kometen, des Erdbebens usw. gehore und finde nur diese 
Frage unentscheidbar. Aber abgesehen davon, daG diese Recht- 
fertigung die korrekte Ansicht der Pyrrhoniker durchaus nicht 
wiedergibt 26 ), hat man nicht den geringsten Anlaft, die Eigenschaft 
der Gefuhlserregung als eine besondere Eigenschaft der Dinge neben 
andera Eigenschaften anzusprechen. Vielmehr besteht sie nur in 
diesen andem und in der Summe dieser andem. Dem Objekt 
wachst durch die Moglichkeit, Gefuhle zu erregen, auch nicht der 
Bruchteil einer neuen Qualitat zu, sondem sie ist nur der Ausdruck 
vdh der Fahigkeit des Subjekts, auf die Wahrnehmung der Tota- 
litat der Objektseigenschaften mit Gefuhlen zu reagieren. Dem 
Meere kommt also neben der Kiihle, der Bewegtheit, der Blaue 
nicht noch die Eigenschaft zu: Bewunderung zu erregen, sondem 
mit dem Gefuhl der Bewunderung beantwortet mein Bewufitsein 
die Vorstellung des blauen, bewegten und kiihlen Meeres. Nimmt 
man einmal an — die Berechtigung dieser Annahme soli spater 
gepriift werden — das Meer als Objekt „bewirke“ im Subjekt die 
Wahmehmungen der Blaue, der Bewegtheit, der Kiihle, so ware 
fur eine jede derselben die Ursache im Objekt besonders auf- 
zusuchen; wobei noch ganzlich unausgemacht bleiben kann, ob die 
Wirkung der Ursache hier adaquat ist oder nicht; fur das Gefuhl 
der Bewunderung brauchte man aber nicht nach einer besonderen 
Ursache im Objekt sich umzusehn; einer solchen wiircfe man auch 
vergeblich nachspiiren. Denn dieses Gefuhl erklart sich restlos als 
die Welle, welche das Meer unseres Bewufitseins schlagt, erregt 
durch die Wahmehmungen der Blaue, Kiihle, Bewegtheit 

So begeht die antike Skepsis also eine vollstandige petitio 
principii, wenn sie, auf der unbewiesenen Voraussetzung fufiend, 
die Gefuhle (oder die Fahigkeit Gefuhle zu erregen) seien be- 
sondere Eigenschaften der Dinge, die Unerkennbarkeit dieser Eigen- 
schaften beweist. Die Widerspriiche in den Gefuhlen sind nun, 
da es sich um Aussagen nicht mehr uber das gleiche Objekt, 
sondem uber verschiedene Dispositionen des Individuums handelt, 
— keine Widerspriiche mehr. Und aus dem, was an den skep- 
tischen Einwanden zu Rechte besteht: dafi das gleiche Objekt im 
Subjekt verschiedene Gefuhle auslosen kann, ist keine Instanz 
gegen die Moglichkeit herzuleiten, mit Hilfe der sinnlichen Wahr- 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 


J 45 


nehmung die Objekte zu erkennen. Das Gebiet, das der Erkenntnis 
durch die Skepsis verschlossen werden sollte, existiert nicht; das- 
jenige aber, welches existiert, die gesetzmafiige Veranderlichkeit 
subjektiver Gefuhlsreaktionen auf objektiv gleiche Reize, ist — wie 
die Arbeiten der modemen Psychologie immer mehr zeigen — 
durchaus der Erkenntnis zuganglich. 

Ahnlich ist es mit dem skeptischen Einwand (im gleichen 
Tropus) bewandt: unsre AufTassung vom Wert der Dinge hange 
von variablen Momenten ab.* 5 ) Ware Gold haufig wie Wasser 
und Wasser sparlich wie Gold, so wiirden wir Wasser fur wert- 
voll und Gold fur wertlos ansehn. Sind Gold und Wasser nun 
wertlos oder wertvoll? 26 ) Diese Behauptungen sind wieder voll- 
kommen richtig; nur die Konstruktion von Widerspruchen zwischen 
ihnen ist unberechtigt und die daraus fliefiende Frage schief ge- 
stellt. Denn auch die Werte sind nach unserm heutdgen Dafiir- 
halten nicht Eigenschaften der Dinge, sondem durchaus nur Be- 
ziehungen von den Dingen zu uns, naher zu unserm Wollen. Ist 
ein Ding Ziel eines Willens, so ist es fur diesen Willen wertvoll. 
Dafi die Werte vollig relativ und variabel sind, weil es gradezu 
ihrem Wesen eignet, im Verhaltnis zu etwas Veranderlichem zu 
stehen und erst durch diese Relation Dasein zu erhalten, ist heute 
anerkannte Tatsache. Die Begriindung derselben ist die gleiche, 
wie bei der Subjektivitat der Gefuhle ; wir konnen sie uns also 
ersparen. Sind nun die Werte — mathematisch gesprochen — 
Funktionen einer andern Grofle und andern sie sich auch not- 
wendig mit dieser, so ist diese Anderung der menschlichen Willens- 
ziele im Einzelnen wieder keine beliebige, sondem lafit sich nach 
strengen Gesetzen berechnen. Die Nationalokonomie ist im wesent- 
lichen eine wissenschaftliche Theorie von den gesetzlichen Ab- 
hangigkeitsbeziehungen dieser relativen Werte. Eine gewisse Aus- 
nahme scheinen allerdings die moralischen Werte auch heute 
noch fur einige zu machen, die vom absoluten Wert der sittlichen 
Gesinnung, der Personlichkeit usw. reden. Ihnen ist der moralische 
Wert ein absoluter, entweder als ein kraft irgendwelcher hoheren 
Sanktion gesollter oder als ein notwendig von alien Individuen 
gewollter. Aber diese Werte wird doch niemand deshalb fur un- 
veranderliche Eigenschaften sinnlich wahrnehmbarer Objekte halten; 
sie beruhren also unser augenblickliches Problem nicht, sondem 
ihre Beurteilung gehort der Kritik der skeptischen Ethik an. Ver- 
schiedene Behauptungen iiber den Wert im ubrigen gleicher Dinge 

Richter, Skeptizismas. IO 


I 


146 Enter Abschnitt Die griechische Skepsis. 

sind also nicht verschiedene Meinungen uber objektive Eigenschaften; 
sie sind nur Aussagen uber die Stellung verschiedener Willens- 
dispositionen zu den namlichen Objekten, und die Verschiedenheit 
dieser Stellungnahme (der eigentliche Kem der skeptischen These) 
kann weder fur nodi gegen die Erkennbarkeit der Objekte zeugen. 

Endlich kdnnen wir, um das Feld fur den Kampf erkenntnis- 
theoretisch berechtigter Positionen zu saubem, unbedenklich alle 
die Aufierungen in den Tropen fur iiberwunden erklaren , in denen 
der Wechsel in den biologisch-physiologischen Wirkungen 
des gleichen Gegenstands fiir die Unerkennbarkeit derselben in 
Anspruch genommen wird. Dieser Gesichtspunkt ist fur den mo- 
dernen Menschen ein so veralteter, dafi jeder, der die Erkenntnis- 
vorgange nur irgendwann zum Gegenstand leisesten Nachdenkens 
gemacht und sich hier nicht mit den in den Sprachgebrauch nieder- 
gelegten rohesten Anschauungen begniigt hat, kaum mehr die an- 
tike Naivitat der Skepsis zu begreifen vermag. Dafi eine bestimmte 
Menge Schierlings den einen Organismus totet, den andern nicht 27 ), 
kann doch nichts gegen die Erkennbarkeit der Eigenschaften des 
Schierlings beweisenl Denn das Leben-fordernde oder -hemmende 
gehort nicht zu den unveranderlichen Eigenschaften des Objekts 
als solchen, sondern zu den Wirkungen dieser Eigenschaften auf 
andre Objekte, und ist durch die Summe dieser Eigenschaften und 
die Natur des andern Objekts ganz eindeutig bestimmt und er- 
kennbar. Es handelt sich hier also um die Erkenntnis nicht von 
Objekten, sondern von Beziehungen zwischen Objekten, die natur- 
gemafi bei Ver&nderungen des einen Objekts sich gleichfalls andern 
miissen. Nebenbei mag erwahnt werden, dafi auch die Objekti- 
vierung dieser Beziehungen ebenso wie die der Werte und Gefuhle, 
ohne dafi sie durch die sinnliche Wahmehmung etwa von selbst 
gegeben ware, als naive Voraussetzung, ohne den Schatten eines 
Beweises uns in dieser skeptischen Philosophie entgegentritt. An 
diese Beladung der sinnlich wahmehmbaren Dinge mit Gefuhlen, 
Werten und einer sich uberall identisch aufiemden kausalen Fahig- 
keit glaubt heute niemand mehr, und wir mussen uns die plastische 
Geistesart der Griechen in ihrer vollen Starke in die Erinnerung 
rufen, um die Verdinglichung dieser Elemente in den Schriften 
so scharfsinniger Denker auch nur zu verstehen. 

In der Ablehnung dieser Verdinglichung sind die verschiedenen, 
ja einander entgegengesetzten erkenntnistheoretischen Parteien der 
neueren Zeit wohl alle einig, welche Bedeutung sie auch dem 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 


147 


Begriff des Dinges beilegen, ob sie denselben im Sinne des extremen 
Idealismus Berkeleys, des Realidealismus Lockes oder des transzen- 
dentalen Idealismus Kants umgrenzt wissen wollen. 28 ) Die Zuruck- 
weisung der skeptischen Angriffe lafit sich in die Formel zusammen- 
fassen: was hier erkannt werden soil, existiert nicht; also auch 
nicht der Widerspruch in den Wahmehmungen daruber, die nur 
unter der Voraussetzung dieser Existenz in Widerspruch stttnden; 
und was hier existiert, kann erkannt werden, ohne dafi Wider- 
spriiche grundsatzlicher Art dabei zu uberwinden waren. 

Doch die Skepsis geht weiter: nicht nur Gefiihle und Werte, 
auch diejenigen Eigenschaften, die wir im gewohnlichen Leben den 
Dingen zuzusprechen pflegen, wie Grofie, Gestalt, Figur, Farbe, 
Geruch, Geschmack usw., mit einem Wort die empfundenen 
Qualitaten, sie sind nicht erkennbar; denn auch ihre Auffassung 
durch die Empfindung ist ganzlich relativ und wechselt mit den 
subjektiven Bedingungen, von denen sie abhangt. 

In der Losung dieses Problems trennen sich nun die Parteien. 
Es ist daher wichtig, die Voraussetzungen der Skepsis hier mit 
aller Scharfe aufzudecken, scharfer als bisher, wo nur das an ihnen 
formuliert werden konnte, dessen Oberwindung sich als heute all- 
gemein geteilte Ansicht entwickeln liefi, wo daher der skeptiscbe 
Objekt- und Dingbegriff in seiner engeren Bedeutung noch nicht 
beriihrt werden durfte. 

Zunachst sind die skeptischen Angriffe nur unter der extrem- 
realistischen Voraussetzung verstandlich: dafi alle durch die Sinne 
aufgefafiten Eigenschaften nur Abbilder von den Dingen selbst 
zukommenden , den vorgestellten wesensgleichen Eigenschaften sind. 
Dafi diese Abbilder dann notwendig unbrauchbare, unkenntliche, 
entstellende sein miissen, in dieser Behauptung liegt der eigent- 
liche Schwerpunkt der skeptischen Tropen. Man rufe sich die 
Gedankengange derselben in die Erinnerung zuriick: uberall ist das 
Beweisziel die Unerkennbarkeit der Dinge an sich selbst, uberall 
der Beweisgrund: der Widerspruch in den sinnlichen Wahmeh- 
mungen iiber dieselben. Aber durch diesen Grund wird jenes Ziel 
nur erreicht, wenn man alle Voraussetzungen, welche die Skepsis 
iiber die Dinge an sich, deren Dasein, deren Eigenschaften, die 
Art ihrer Erkenntnis machte, zu teilen entschlossen ist. Denn 
uberall nehmen ihre Argumentationen hier den gleichen Gang: 
das n£mliche Ding X wird nach Farbe, Geruch, Geschmack, Tem- 
peratur, Grofie, Gestalt, Bewegung usw. verschieden wahrgenommen 


148 


Enter Absdmltt Die griechische Skepsis. 


von Tier und Mensch, den einzelnen Menschen w ) , den verschie- 
denen Sinnen der gleichen Menschen, dem gleichen Sinn des 
gleichen Menschen unter verschiedenen Umstanden, in verschie- 
denen Entfemungen und Zusammenhangen. Da es nun unent- 
scheidbar ist, welcherSinn, unter welchen Umstanden ein bestimmter 
Sinn die „wahre“ Wahmehmung der Dinge hat (in skeptischer 
Redeweise: den Vorzug verdient), d. h. die den Dingen unabhangig 
von unsrer AufTassung wirklich zukommende Farbe, Temperatur, 
Grofie, Gestalt usw. erkennt, so bleibt stets zweifelhaft, wie das 
Ding an sich selbst beschaffen ist. Die Tlmonische Frage: wie 
sind die Dinge beschaffen? ist von der sinnlichen Wahmehmung | 
nicht zu beantworten. Die extrem - realistischen Bedingungen fur 
diese Fol gening leuchten ein. Die ganze Problemstellung namlich 
ist nur unter den Annahmen moglich: 

1. dafi es Dinge an sich unabhangig vom Bewufitsein 
des Menschen gibt Diese Annahme tritt als etwas Selbstver- 
standliches, keines Beweises Bedurftiges bei den alten Skeptdkem | 
auf. Nirgends sind wir in ihrer Lehre auf einen Rechtfertigungs- 
grund fur diese Voraussetzung gestofien. Aber dieselbe lafit sich 
nicht nur aus den erkenntnistheoretischen FragesteU ungen der 
Pyrrhoniker, nicht nur aus den terminologischen Gebrauchen ent- 
nehmen, nach denen uns immer wieder die Dinge an sich, ra 
VTtoxeifieva , ra <pv 6 si ovra, ra ovrcog ovra usw. als das alleinige 
Erkenntnisobjekt begegnen; sogar entschliipft dieser ubervorsichtigen 
Sekte gelegentlich die dogmatische Behauptung von dem Dasein 
an sich existierender Dinge: „wenn wir bezweifeln, ob das Unter- 
liegende so ist wie es erscheint, so geben wir zu, dafi es erscheint". 80 ) 

2. Dafi diesen unabhangig von unserm Bewufitsein bestehenden 
Dingen aufier den schon vorher erwahnten Gefuhlen, okonomischen 
und biologischen Werten die empfundenen Qualitaten, wie 
Farbe, Geruch, Figur, Grofie usw. zukommen. Diese Voraus- 
setzung betrifft also nicht mehr die blofie Existenz unabhangig vom 
Subjekt bestehender Gegenstande, sie erstreckt sich auch auf die | 
AufTassung von der naheren Beschaffenheit und der Natur dieser 
Dinge an sich. Aus den Tropen Aenesidems namlich geht ganz 
deutlich hervor, dafi sich die Skepsis diese Dinge an sich als mit 
sinnlichen Qualitaten begabt vorgestellt und also eine grundsatz- 
liche Gleichartigkeit der Dinge mit unsera Wahmehmungen an- 
genommen habe. Wenn sie immer und immer wieder die Frage auf- 
wirft, welcher Vorstellung nun, der des Erregten oder des Ruhigen, 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 


149 


des Erhitzten oder Abgekuhlten, des Auges oder des Getasts der 
Vorzug gebiihre, und sie in Ermangelung eines Kriteriums die Frage 
fur unentscheidbar halt, so liegt sowohl der Problemstellung wie 
der Losung die Ansicht zugrunde: einer sei ja wohl im Recht mit 
seiner Wahmehmung, und erfasse die reale Natur der Dinge an 
sich; nur konne man nicht wissen, wer das sei. Darin aber liegt, 
dafl den Dingen Qualitaten gleicher Art zugesprochen werden, wie 
sie das Subjekt erfafit Ja selbst da, wo sich die Skepsis am wei- 
testen von den extrem - realistischen Voraussetzungen zu entfemen 
scheint, wo sie die Frage aufwirft, ob nicht den Dingen an sich 
mehr oder weniger Eigenschaften zukommen konnten als unsre 
Sinne wahrnehmen, bleibt der Gesichtspunkt ein rein quantitativer 
und an eine prinzipielle Artunterscheidung zwischen den Dingen 
und unsern Vorstellungen ihrer Eigenschaften wird nicht gedacht. 
So bildet selbst hier ein extrem -realistischer Dogmatismus die Vor- 
aussetzung der skeptischen Ergebnisse. 81 ) 

3. Die dritte Voraussetzung betrifft das Verhaltnis, 
in dem die so beschriebenen Dinge an sich zu den Wahr- 
nehmungen stehen, oder die Aufgabe der sinnlichen Er- 
kenntnis. Sie laflt sich unmittelbar den entwickelten Bedingungen 
entnehmen. Die Vorstellung der Dinge an sich als riechender, 
tonender, grofier und kleiner beruht ja nur auf einer naiven Ober- 
tragung sinnlich wahrgenommener Bestandteile auf die Dinge. Kein 
Wunder, dalS, wenn man den Spiefi umdreht und von den Dingen 
ausgeht, wie es die Skeptiker tun, die Aufgabe der Wahrnehmung 
in der getreuen Wiedergabe dieser Dingeigenschaften bestehen mufi. 
Weil man in seinen Voraussetzungen unbewuiSt die Dinge als ob- 
jektiven Spiegel der Wahrnehmungen fafite, darum mufiten jetzt 
die Wahrnehmungen das subjektive Spiegelbild der Dinge liefem. 
Und die Aufgabe der sinnlichen Erkenntnis wurde: abbildliche Vor- 
stellung der urbildlichen Dinge zu sein. Ein solches Verhaltnis 
konnte naturlich nur dann zustande kommen, wenn die sinnlichen 
Erscheinungen als der passive Abdruck der Dinge in unserm Be- 
wufitsein gefafit wurden, und in der Tat betonten die Skeptiker 
immer und immer wieder, aber ohne ihre Behauptung zu be- 
weisen, die Passivitat des Subjekts bei der Auffassung der Erschei- 
nungen. 82 ) 

Nun haben wir alle Voraussetzungen beisammen, die von der 
Skepsis unkritisch hingenommen, ihrer Theorie der sinnlichen Wahr- 
nehmung zugrunde liegen: auf der einen Seite stehen die Dinge an 


150 


Enter Abschnitt. Die griecbische Skepsis. 


sich, existierend , farbig, tonend, dreieckig, rechtwinklig usw. (denn 
von den Gefuhls- und Wertqualitlten konnen wir hier fuglich als 
von einem erledigten Einwand absehen), auf der andem Seite steht 
das Subjekt, das diese Eigenschaften erkennen soil. Der Vorgang 
ist dabei der, dafi die Dinge irgendwie dem Bewufitsein des Sub- 
jekts sich aufdrangen, ihre Bilder dem Bewufitsein irgendwie ein- 
drucken — wie, dariiber lafit sich die Skepsis nicht naher aus. 
Denn sie ist an der Grenze ihrer Voraussetzungen angelangt und 
nur ihre Voraussetzungen sind dogmatisch. 88 ) 

Dafi man von diesen extrem-realistischen Voraussetzungen 
aus zu unauiloslichen Widerspruchen gelangt, welche eine sinn- 
liche Erkenntnis der Beschaffenheiten der Dinge unmdglich machen, 
haben die Tropen des Aenesidem untriiglich dargetan. Die modeme 
Wissenschaft kann deren Beispiele hier erganzen, vermehren , im 
einzelnen berichtigen. Grundsatzlich Neues hinzufugen kann sie 
nicht. Denkt man sich namlich die entwickelten Voraussetzungen 
feststehend und lafit nun die Entdeckung von der Relativitat 
und Variability der sinnlichen Wahrnehmungen auf sich 
wirken, so folgt die skeptische Geisteshaltung notwendig von selbst 
Dieser Kern der Aenesidemschen Ausfuhrungen behalt auch heute 
noch seine voile Kraft. Der Satz von der Relativitat der sinn- 
lichen Wahrnehmungen, d. h. der Bedingtheit derselben durch die 
jeweilige Natur des auffassenden Subjekts und das daraus fliefiende 
Verbot, ohne weiteres von den wahrgenommenen auf entsprechende 
reale Eigenschaften zu schliefien, kann als ein Fundamentalsatz auch 
der modernen Erkenntnislehre gelten. Gerade der immer tiefere Ein- 
blick, den uns die Ergebnisse der neueren Sinnesphysiologie und 
-Psychologie in den Bau und die Funktionen der Sinnesapparate 
gewahren, lehrt uns in steigendem Mafie den Anteil des Sub- 
jekts beim Zustandekommen der sinnlichen Wahrnehmungen, und 
l&fit es als ganz unannehmbar erscheinen, falls man uberhaupt 
reale Gegenstande unabhangig vom Bewufitsein anerkennt, dafi die 
realen Reize (etwa Lichtwellen oder Tonschwingungen) als solche 
untransponiert (physiologisch gesprochen) insGehirn, (psychologisch 
gesprochen) ins Bewufitsein gelangen. Man denke nur etwa an 
den unendlich komplizierten Bau der Netzhaut, an die getrennten 
Warme- und Kaltepunkte auf der Haut, auf deren gleichmafiige 
Reizung durch den Druck eines Metallstabchens das Subjekt an 
zwei vielleicht nur durch wenige Millimeter getrennten Stellen mit 
entgegengesetzten Empfindungen reagiert; man denke an die Tat- 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 1 5 * 

sache, dafi, wenn die Netzhaut mechanisch gereizt wird, auch ohne 
real einfellendes Licht eine Lichtempfindung entsteht; an die Er- 
scbeinung der negativen Nachbilder, wo ohne alle £ufieren Reize 
das Subjekt aus sich heraus das Bild des vorher gesehenen Gegen- 
standes in den Kontrastfarben erzeugt; man denke an die Phano- 
mene der Farbenblindheit, bei denen die Farbe des Mohns und 
des Rasens dem Rotgrunblinden gleich erscheint, usw. Waren nun 
Farbe und Helligkeit, Warme und Kalte Eigenschaften der realen 
Dinge an sich, so h&tte die Skepsis ganz recht, wenn sie dieselben 
unerkennbar sein lafit. Denn da der jeweilige Zustand des Sub- 
jekts, durch den die Auffassungsart dieser Eigenschaften bedingt 
ist, im namlichen Menschen ein wechselnder ist, ohne dafi wir fur 
einen entsprechenden Wechsel im realen Objekt einen Grund an- 
zugeben wfifiten, so l&fit sich niemals ausmachen, welcher Zustand 
der „richtige“ zur Erfassung dieser Qualit&ten sei. 

So kommt die Skepsis vom Standpunkt des extremen Realis- 
mus zu negativen Ergebnissen, wahrend das naive Bewufitsein von 
ihm aus zu positiven Resultaten gelangt. Aber die Grundlagen sind 
die gleichen. Man nimmt an: jenseits des Subjekts stunden die 
Dinge mit sinnlichen Eigenschaften begabt; im subjektiven Bewufit- 
sein spiegelten sich die Dinge — adaequat, wie die positiven 
Realisten, inadaequat oder doch zweifelhaft adaequat, wie die 
negierenden Realisten meinen. Der skeptische Einwand von der 
Unerkennbarkeit der sinnlich empfundenen (nicht gefuhlten) Eigen- 
schaften der Objekte ist emster als alle bisherigen Einwande. Er 
beruht zwar auf einer unbewiesenen Annahme; aber die'se Annahme 
ist eine weitverbreitete und in ihrer Verbreitung leicht erklarliche. 
Der Ernst des Problems zeigt sich weiter darin, dafi nun nicht 
mehr alle erkenntnistheoretischen Positionen dasselbe in der gleichen 
Art bewaltigen, sondem jede in ihrer besonderen Weise. Indem 
die Unhaltbarkeit des extremen Realismus durch die Skepsis zu- 
tage trat und sie damit recht eigentlich diese neuen Positionen 
ausloste, diirfen wir auch sie zujenen „wohltatigsten Verirrungen" 
rechnen, als welche Kant andre wissenschaftliche Irrtilmer einmal 
bezeichnet Diesen neuen Positionen aber wendet sich unser Inter- 
esse nunmehr zu. Denn wenn wir auch die Relativitat der sinn- 
lichen Wahrnehmungen der Skepsis zugeben und ihre scharfsinnigen 
Bemuhungen auf diesem Punkt riickhaltlos anerkennen, so ziehen 
wir doch ganz andre Folgerungen daraus, als es die Pyrrhoniker 
getan haben. Auf der extrem-realistischen Basis stehend, folgerten 



I5 2 Enter Abschnitt. Die griechische Skepsis. 

sie aus der Relativitat der Wahmehmungen rundweg die Unerkenn- 
barkeit der Beschaffenheiten. Heute konnen wir unmdglich mehr 
so radikal und so — einfach vorgehen. 

Wir suchen also andre Positionen auf, bei welchen man viel- 
leicht den Widerspriichen entgeht, zu denen der extreme Realis- 
mus fuhrt. Nicht, um dem Skeptizismus um jeden Preis den 
Rucken zu wenden; als ob die Skepsis ein wissenschaftliches Ver- 
brechen ware, dem man aus Furcht aus dem Wege gehtl Wenn 
die skeptischen Resultate auf ttberzeugendem Grunde zu ruhen 
schienen, so mufiten wir uns ihnen riickhaltlos fugen. Aber wir 
brauchen uns nicht gefangen zu geben, solange diese Bedingungen 
nicht erf&llt sind, solange naive, willkiirliche, durch nichts gerecht- 
fertigte dogmatische Voraussetzungen es sind, welche den Skeptizis- 
mus gegen die sinnliche Erkenntnis hervortreiben. Da sehen wir uns 
nach andera erkenntnistheoretischen Grundanschauungen um, die be- 
reits ihre Ausgangspunkte vollbewuflt wahlen und begrunden, und 
fragen uns: ob auch aus ihnen der totale Skeptizismus entspringt 

Doch empfiehlt es sich jetzt, wo man auf schwierigem Ge- 
lande Gegner wie die Pyrrhoniker zu kridsieren hat, gleich den 
ersten Schritt vorsichtig zu tun, ja die Berechtigung zu irgend 
einem Schritte uberhaupt von vomherein sicher zu stellen. Da 
nun jeder Schritt hier in einem Urteil besteht und nur dann zur 
Klarheit und zum Siege fuhren kann, wenn jedes dieser Urteile 
wahr ist, so erwachst die Pflicht, die Anzeichen, an denen man 
die Wahrheit erkennen kann, durchsichtig zu entwickeln, ehe 
man sich ihrer auf seinem Wege bedient. 

Die Anzeichen der Wahrheit sind zu alien Zeiten, fur Laien 
und Philosophen, die gleichen gewesen, ob sie schon den verschie- 
densten begrifflichen Ausdruck erfahren haben mogen. Auch alle 
Theoretiker der Erkenntnis — mogen sie bereits im Ausgangs- 
punkt, in der ersten Anwendung dieser Kriterien, und noch mehr 
im Verlauf und dem Endziel ihrer Untersuchungen zu abweichenden, 
ja gegensatzlichen Ergebnissen gelangt sein — haben sich ihrer 
gleichmafijg bedienen mussen, und selbst die Skeptiker, die jedes 
Wahrheitskriterium grundsatzlich in Frage stellten, machen keine 
Ausnahme von der Regel. 

Die Anzeichen der Wahrheit sind nichts andres als die Eigen- 
schaften, mit deren Vorhandensein das Wesen der Wahrheit zu- 
gleich erschopft ist. Eine einzelne Wahrheit ist ein Urteil, dem 
diese Eigenschaften zukommen und die Wahrheit ist (konkret) 



Drittes KapiteL Die Kritik der griechischen Skepsis. 153 

die Summe solcher Urteile oder (abstrakt) die Eigenschaft solcher 
Urteile. 

Die Anzeichen der Wahrheit bestehen im letzten 
Grunde darin, in einem jeden geistig gesunden Menschen 
ein vdllig eigenartiges unausrottbares Geftlhl zu erregen. 
Dieses Gefuhl von der Wahrheit oder das Oberzeugungs- 
gefuhl (das objektiv auch als Zustimmungs-, subjektiv 
als Gewifiheitsgefuhl sich bezeichnen lafit) tritt iiberall 
notwendig und unausrottbar da auf, wo wir uns bewufit 
sind, daft eine bestimmte Aussage im Einklang mit unsern 
eignen Denkgesetzen und alien uns gegebenen Erfahrungs- 
tatsachen sich befindet Das Gefuhl von der Unwahrheit 
oder das Falschheitsgefiihl (auch objektiv als Ableh- 
nungs-, subjektiv als intellektuelles Widerstandsgefiihl zu 
bezeichnen) tritt iiberall notwendig und unausrottbar da 
auf, wo wir uns bewufit sind, dafi eine bestimmte Aussage 
im Widerspruch mit nur einem unserer Denkgesetze oder 
nur mit einer uns gegebenen Erfahrungstatsache sich be- 
findet. Dem ist hinzuzufiigen, dafi wir unter Erfahrungen ganz 
eindeutig nur die unmittelbar uns gegebenen Bewufitseinszustande 
verstehen wollen, dafi die Denknotwendigkeiten von den einzelnen 
Philosophen aber sehr verschieden nach Anzahl und Art bestimmt 
werden. Einstimmig rechnet man ihnen die logischen, subjektiven 
Axiome (Satz der Identitat, des Widerspruchs, des Grundes) zu. 
Streit herrscht nur iiber die objektiven Denknotwendigkeiten, die 
Bedingungen aller Erfahrung sind. Wer solche transzenden- 
talen Voraussetzungen anerkennt (etwa Raum, Zeit, Kausalitat u. a.), 
fur den ist also jede Aussage uber eine Erfahrung, soweit sie sich 
auf die Obereinstimmung dieser Erfahrung mit der Erfahrungs- 
bedingung bezieht, auch fur alle spateren Erfahrungen unbedingt 
wahr, denn sie befindet sich in Obereinstimmung mit den Denk- 
gesetzen und alien Erfahrungen, auf deren gemeinsamer Be- 
dingung sie fiifit. Man ersieht schon aus diesen allgemeinen An- 
gaben: 

i. Dafi im strengen Sinn nur ein LJrteil, d. h. ein Denkakt 
wahr oder falsch sein kann. Denn nur er enthalt die geforderte 
Beziehung des Einklangs oder des Widerspruchs, an welche sich 
das entscheidende Gefuhl anschliefit; erst ein Urteil oder eine Aus- 
sage behaupten von einem Subjekt Eigenschaften, die ihm begriff- 
lich oder tatsachlich zukommen sollen, konnen also mit Logik und 


154 


Erster Abschnitt. Die griechiscbe Skepsis. % 


Tatsachen sich in Konflikt oder Harmonie befinden. Eine isolierte 
Vorstellung dagegen, welcher Art auch immer, kann weder wahr 
noch falsch sein, weil sie als solche keinerlei derartige Beziehungen 
in sich birgt. Die Vorstellung „blauer Himmel“ ist ebensowenig 
wahr wie falsch; sondern sie ist nur oder sie ist nicht; sie wird in 
keine Relation zu Denken und Erfahrung gesetzt; sie besitzt noch 
die vollkommene intellektuelle Unschuld. Denn als Erfahrung, 
etwa als physisches Phanomen beim Anblick des blauen Himmels, 
ist sie weder wahr noch falsch, sowenig wie die formalen Denk- 
gesetze (mit dem Grund ist die Folge gegeben) im strengen Sinn 
wahr oder falsch sind; denn erst die Obereinstimmung mit Erfah- 
rungstatsacben und Denkgesetzen macht die Wahrheit eines Satzes 
aus. 84 ) Dagegen das Urteil: der Himmel ist blau, wahr oder falsch 
sein mufi, weil es mit alien Erfahrungstatsachen und den eigenen 
Denkgesetzen sich entweder in Widerspruch oder in Obereinstim- 
mung befindet; denn es ist ein Gesetz unsres Denkens, daft von 
zwei kontradiktorischen Pradikaten jedem Subjekt das eine oder 
das andre zukommen mufi (Satz vom ausgeschlossenen DrittenV 
Daraus erhellt, dafi, wenn man von der Wahrheit oder Unwahr- 
heit der sinnlichen Wahrnehmungen spricht, man immer nur die 
Wahrheit oder Unwahrheit gewisser fiber die sinnliche Wahmeh- 
mung gefallter Urteile im Auge haben darf 85 ); etwa der Urteile: die 
sinnlichen Wahrnehmungen geben eine zugrunde liegende Wirk- 
lichkeit in alien, einigen.oder gar keinen Teilen wieder. In der 
Sinneswahmehmung als solcher sind diese Urteile aber nicht ent- 
halten. Diese nicht unwichtige Erinnerung lafit sich am deutlichsten 
an den sogenannten „ Sinnestauschungen “ verstandlich machen. Die- 
jenigen Menschen, welche an das Vorhandensein solcher Tauschungen 
glauben — dafi es nicht alle Erkenntnistheoretiker tun, werden 
wir bald sehen — haben keineswegs jenes Widerstrebungsgefuhl 
bei der „tauschenden“ Wahmehmung selbst, etwa dem Anblick 
des im Wasser gebrochen erscheinenden Stabes, sondern nur bei 
dem Denkakt, dafi der Stab auch „wirklich“ in der Mitte geknickt 
sei. Es konnte scheinen, als ob damit das ganze Problem von der 
Wahrheit oder Unwahrheit der Sinneswahmehmungen bereits hin- 
fallig wfirde. Aber eine terminologische Korrektur bedeutet noch 
lange nicht die Oberwindung jenes Problems. Es bleibt auch jetzt 
noch die Frage nach dem Wahrheitsgehalt, den die Sinne zur 
Erkenntnis der Dinge beisteuem. Zwar ist die sinnliche Wahr- 
nehmung selbst weder wahr noch falsch, wohl aber kann die Ober- 



Drittes Kapite). Die Kridk der griecbiscbep Skepsis. 


*55 


nahme ihres Inhalts als Pradikat eines uber die Dinge gefallten 
Urteils eine wahre oder falsche Aussage uber die Dinge zur Folge 
haben. Ein Beispiel: Sage ich von der Sinneswahmehmung (x) 
eines Tisches aus, sie gibt die Eigenschaften (a, b, c, d) des 
Tisches selbst (y) ganz oder teilweise wieder, so miissen diese 
Aussagen wahr oder falsch sein. Sind sie wahr, so auch die Ur- 
teile: y kommen die Eigenschaften a, b, c, d oder nur a, b zu, 
d. h. die Sinneswahmehmung x hat einem wahren Urteil uber y 
Stoff und Gehalt geliefert. Sind sie falsch, so auch die abgeleiteten 
Urteile: y kommen weder a noch b noch c zu, und die Sinnes- 
wahmehmung x hat den Stoff zu einer unwahren Aussage uber y 
geliefert. Die Frage nach der Wahrheit (Unwahrheit) der Sinnes- 
wahmehmungen ist also nur ein irrefuhrender brachylogischer Aus- 
druck fur den Satz: inwieweit liefem die Sinneswahmehmungen 
Stoff zu wahren (unwahren) Urteilen uber die Dinge? Dabei 
waltet der beachtenswerte Unterschied ob, dafl, falls es richtig 
ist, dafi durch die Sinne auf dem Wege des Urteils die Beschaffen- 
heiten der Dinge erkannt werden, die Sinne einen positiven Bei- 
trag zur Ermittlung der Wahrheit uber die Dinge bieten, den sie 
allein und keine andre logische Funktion beizusteuem vermogen; 
erkennen sie aber die Beschaffenheiten nicht, so wird der positive 
Beitrag zur unwahren Aussage uber die Dinge allein vom Urteil 
bestritten, das die sinnlichen Qualitaten den Dingen zuspricht, wah- 
rend die Sinne selbst gar keine Beziehung — weder der Identitat, 
noch der Ahnlichkeit, noch der Verschiedenheit — ihrer einzelnen 
Wahmehmungsbestandteile zu irgendwelchen Dingen enthalten. — 
Da die Sinneswahmehmung als solche zur Wahrheit und Unwahr- 
heit gar nicht die notigen Vorbedingungen besitzt, so konnen auch 
die Sinne als solche nicht „tauschen“. Sie vermogen nur die 
indirekte Ursache davon zu werden, dafi ich mich in meinerEr- 
wartung getauscht sehe. Erwarte ich z. B. aus gedanklichen 
Griinden, dafi die Sinne mir im allgemeinen die raumlichen Eigen- 
schaften der Dinge adaequat wiedergeben, und diese Erwartung 
trifft einmal nicht ein, so spreche ich von Sinnestauschung. Dies 
bedeutet aber wieder nur eine ebenfalls nicht gliickliche Brachy- 
logie fur: Anlafi zu irrtumlichera Urteil. Wenn ich in vielen Fallen 
auf die Sinne wahre Urteile uber die Dinge aufbauen konnte durch 
Umsetzung gewisser sinnlicher Qualitaten in dingliche, und in 
einem Fall erweist sich diese Obertragung als ein falsches Urteil, 
so sind die Sinne in diesem Fall indirekt eine Quelle des Trugs 



>56 


Enter Absclinitt. Die griechische Skepsis. 


und der Tauschung geworden. Dagegen liegt keine Tauschung 
vor, wenn die Sinne gewisse Empfindungen zeigen (etwa Farbe, 
Geschmack), von denen ich wieder aus logischen Motdven annehme, 
dafi sie den Dingen nie zukommen. Denn hier liegt keine Veran- 
lassung zu einer Erwartungstauscbung , noch zu falschen Urteilen 
vor. „ Sinnestauschungen 11 sind daher immer nur Ausnahmefalle, 
in denen die Sinne gedankliche Regeln, die man sich uber das 
Verhaltnis von Wahmehmungsbestandteilen und objektiven Quali- 
taten gemacht und in unzahligen Fallen bestatigt gefunden hat, 
kreuzen, und in denen die Meinung iiber die Allgemeingultigkeit 
dieser Regeln sich als Irrtum herausstellt. Die Sinneswahmeh- 
mungen sind wahr, sind falsch , halbwahr, halbfalsch , kann also 
nur bedeuten: ihr Inhalt als Eigenschaften von den Dingen aus- 
gesagt, ergibt ein wahres , halbwahres, falsches Urteil; die Sinnes- 
wahmehmungen tauschen: ihr Inhalt von den Dingen als Eigen- 
schaften ausgesagt, ergibt in einem bestimmten Fall und wider 
Erwarten ein falsches Urteil, wahrend die gleiche Obertragung in 
andem Fallen wahre Urteile ergibt. 

2. Da das letzte Kriterium der Wahrheit, das unmittelbare, 
nicht weiter zu beschreibende, sondem nur aufweisbare Dber- 
zeugungsgefuhl, notwendig und unausrottbar allein bei der voll- 
endeten Erfullung der genannten Bedingungen und bei vollem Be- 
wufitsein von dieser Erfullung auftritt, so ist damit schon gesagt, 
dafi es mdglicherweise und iiberwindbar auch des ofteren sich dort 
einstellen wird, wo nur ein kleiner, vielleicht nur ein sehr kleiner 
Teil dieser Bedingungen erfiillt und man sich des Grades dieser 
Erfullung nicht klar bewufit ist. Hier ist das psychologische 
Kriterium ebenso unvollstandig wie das logische. Zwar 
braucht die Intensitat des Uberzeugungsgefuhls keine geringere zu 
sein; aber die Cberwindbarkeit desselben bei klarer Selbstbesin- 
nung und die Mdglichkeit, sich eines besseren belehren zu lassen, 
ist ein unverkennbarer und jederzeit nachpriifbarer Trennungspunkt 
von jenem unaberwindlichen Gefuhl, an dem wir letzten Endes 
eine wahre Einsicht allein erkennen kdnnen. 

3. Weiter erhellt, dafi man sich aus rein quandtativen Grunden 
viel leichter iiber die Unwahrheit als iiber die Wahrheit eines Ur- 
teils klar zu werden vermag. Denn wenn die ideale Forderung 
an die Wahrheit lautet: Obereinstimmung mit alien Denkgesetzen 
und alien Erfahrungstatsachen, so wird mit Ausnahme inhaltleerer 
Aussagen (wenn alle Menschen sterblich sind und Cajus ein Mensch 



Drittes KapiteL Die Kritik der griechischen Skepsis. 


157 


ist, so ist Cajus sterblich), der einfachsten Wahmehmungsurteile 
(ich sehe blau usw.), und allenfalls Kants synthetischer Urteile a 
priori (in reiner Mathematik und Naturwissenschaft) die Wahrheit 
einer Erkenntnis sich nur sehr langsam und auch dann immer nur 
mit annahemder Sicherheit ausmachen lassen , so dafi ihre Fest- 
stellung bis auf die erwahnten Falle immer Aufgabe bleibt und nie 
zur vollendeten Tatsache wird. Das Erkennungszeichen der Unwahr- 
heit dagegen ist an dem Widerspruch gegen eine einzige Erfahrung, 
gegen ein einziges logisches Axiom und an dem begleitenden Ge- 
fuhl sofort zu entdecken; es ist also unvergleichlich einfacher, den 
Irrtum als die Wahrheit festzustellen. Dem Erkenntnistheoretiker 
ist das ein wichtiger Fingerzeig fur seine Methode: denn er 
wird nun zunachst den aussichtsvolleren Weg einschlagen, bei den 
wenigen Moglichkeiten, zwischen denen er zu wahlen hat, durch 
Elimination aller irrtumlichen Ansichten, die wahre zu erarbeiten 
oder zu behalten, anstatt die letztere von sich aus aufzubauen. 

4. Selbstverstandlich haben die Skeptiker trotz ihrer Frage- 
zeichen, die sie hinter jedes Kriterium der Wahrheit stellten, sich 
zur Begriindung ihrer Zweifel niemals eines andem Erkennungs- 
zeichens wie des genannten, wenn auch unbewufit und unaus- 
gesprochen bedient. Wenn sie z. B. behaupteten: es sei unerkenn- 
bar, ob die Luft in der mittleren Halle des Bades kalt oder warm 
sei, weil sie dem von aufien Kommenden warm, dem von innen 
Kommenden kalt erscheine, so kann das doch nur bedeuten: das 
Urteil „die Luft ist kalt" ist falsch, weil es in Widerspruch mit 
Erfahrung A, das Urteil „die Luft ist warm" ist falsch, weil es 
in Widerspruch mit Erfahrung B steht; die Luft kann aber auch 
nicht warm und kalt zugleich sein, weil nach dem Axiom des 
Widerspruchs dem gleichen Ding nicht zwei widersprechende Eigen- 
schaften zu gleicher Zeit zukommen kdnnen. Man sieht: die for- 
malen Erkenntniskriterien sind auch fur den Skeptiker die gleichen 
wie fur uns; nicht sie bezweifelt er im Grunde, sondem die Mog- 
lichkeit, dafi man (namlich verschiedene Subjekte, die Sinne des 
gleichen Subjekts usw.) durch ihre Anwendung zu den gleichen, 
inhaltlichen Wahrheiten gelangen musse. Man denke sich nur die 
Forderung, dafi der Widerspruch mit Erfahrungen eine Gegen- 
instanz gegen die Wahrheit einer Einsicht sei, als wirksames Kri- 
terium in den skeptischen Argumentationen aufgehoben und sehe 
zu, was von ihnen noch iibrig bleibt. Dann namlich ist ja gar kein 
Hindemis mehr, die fragliche Lufttemperatur als warm (kalt) zu 


*58 


Erster Abschoitt. Die griecbische Skepsis. 


erkennen und sich fiber die Erfahrung A oder B als Gegeninstanz 
hinwegzusetzen; oder man denke sich die logischen Axiome als 
unmafigeblich verworfen , was konnte dann die berfihmte Isosthenie 
fur die Unerkennbarkeit der Dinge beweisen? Dann trfigen die 
Dinge eben einander widersprechende Eigenschaften an sich, waren 
rot und grfin am gleichen Punkt des Raumes und der Zeit, waren 
seiend und nichtseiend, gut und schlecht zugleich. Ja, selbst die 
immer wiederkehrende Oberlegung, welche die skeptische Theorie 
von der sinnlichen Wahmehmung als roter Faden durchzieht: man 
konne doch bei einander widerstreitenden Erfahrungen der Aus- 
sage, die sich auf die eine Gruppe derselben stfitzt, nicht den 
Vorzug vor der auf die andre Gruppe sich stfitzenden geben, hat 
doch nur dann einen Sinn, wenn wir dieses Verbot und den dar- 
aus entspringenden Zweifel uns eingegeben denken durch die Er- 
wagung: man kann [es nicht, weil uns weder unmittelbare Erfah- 
rung noch Denknotwendigkeit zu dieser Bevorzugung berechtigt! 
Denn warum sollte man es — etwa durch einen Akt der Willkur 
— sonst nicht konnen? 

Das Wahrheitskriterium ist entwickelt und damit der Boden 
geebnet, der alien erkenntnistheoretischen, sich ihres eigenen Vor- 
gehens bewuflten Grundanschauungen gemeinsam sein mufi. Zu 
welchen Folgerungen gelangt man auf diesem Boden fiber die 
Leistungsfahigkeit der sinnlichen Wahmehmung? Befahigen mich 
die Sinne dazu, wahre Urteile fiber die Dinge zu fallen? (Denn 
dafi die Sinne nicht selbst Aussagen machen, sondem nur Vor- 
stellungen liefem, die als solche weder wahr noch falsch sein 
konnen, wissen wir schon.) Die Skeptiker hatten mit einem „un- 
entscheidbar" darauf geantwortet; aber sie hatten ihrer Antwort 
ganz willkfirliche Voraussetzungen (im fibrigen die gleichen un- 
bewuGt gehandhabten Erkennungszeichen der Wahrheit) zugrunde 
gelegt. Wie steht es mit dieser Antwort, wenn man das Erken- 
nungszeichen vollbewuBt handhabt und fiberdies von willkfirlichen 
Voraussetzungen sich frei halt? Hier trennen sich die Wege und 
es bieten zunachst der gemaftigte Realismus, dann der extreme 
Idealismus ihre Losungen an. 

II. Unter dem gemafiigten Realismus oder dem Real- 
idealismus, insofem er eine Theorie der sinnlichen Wahmehmung 
darstellt, verstehen wir die Anschauung, die an der Existenz 
unabhangig vom Subjekt bestehender Dinge, der exrog 
vxoxeijieva festhalt, aber aus kritischen Erwagungen 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 159 

diesen realen Dingen nicht alle Wahrnehmungsbestand- 
teile als objektive Eigenschaften gleichmafiig zuspricht, 
sondern nur gewisse derselben, andere nicht. Zum ersten- 
mal findet sich dieser Standpunkt im Keime bei Demokrit; in 
neuerer Zeit wurde er durch Galilei, Hobbes, Descartes und 
Locke von verschiedenen Seiten naher beleuchtet. Seitdem ist 
er die klassische Erkenntnistheorie der modemen Naturwissen- 
schaft geblieben, und erst in jungster Zeit erheben sich gerade 
aus der Mitte der Naturwissenschaftler Manner, die gegen ihn zu 
Felde ziehen. Unter den heutigen Denkem zahlen Wilhelm Wundt 
und Eduard von Hartmann zu seinen bedeutendsten Anhangem. 

i. Worin besteht der Standpunkt des gem&fiigten Rea- 
lismus des naheren und wie wird er begriindet 86 )? 2. Was 
folgt aus ihm fur die Erkennbarkeit der Dinge durch die 
Sinne, fur die erste Timonische Grundfrage; fiihrt auch 
er zu skeptischen Folgerungen oder nicht? 

1. Wie bei alien erkenntnistheoretischen Positionen gilt es 
hier in erster Linie den Ausgangspunkt festzulegen, von dem 
aus man an der Hand der geschilderten Wahrheitskriterien durch 
weitere Arbeit zum Ziele zu gelangen sucht. 87 ) Diesen Ausgangs- 
punkt wird ein besonnener Realist, welcher den Wunsch hat, die 
Kontrolle seiner Ansichten moglichst alien Menschen zu ermog- 
lichen, in den Aussagen des natiirlichen, unbefangenen und vor- 
aussetzungslosen Bewufitseins finden, das noch ohne alle philo- 
sophische Reflexion gerade und hell in die Welt blickt; hier wird 
zunachst die Aussicht sein, grofitmdgliche Einigkeit in der Fest- 
stellung dieser Bewufitseinslage zu erhalten, wahrend jeder andre 
Ausgangspunkt, etwa eine bestimmte wissenschaftliche Anschau- 
ungsweise, den Standpunkt einer Minoritatspartei vertritt, die sich 
uberdies anderen und entgegengesetzten Parteien gegeniiber weifi. 
Was sagt aber nun — nach Ansicht dieser gemafiigten Realisten 
— das unbefangene, durch keine Reflexion getriibte Bewufitsein 
fiber die sinnlichen Wahmehmungen aus? Es macht zunachst 
zwischen sinnlich wahrnehmbaren Dingen und den Wahrnehmungen 
dieser Dinge noch keinen Unterschied. Es glaubt in den Vor- 
stellungen die Dinge selbst zu haben; Ding und Vorstellung fliefien 
ihm in eine Gesamtgrofie zusammen. Diesen Vorstellungsdingen 
und Dingvorstellungen aber stellt sich auch im unbefangensten 
Bewufitsein das fuhlende und wollende Ich unmittelbar gegeniiber. 
Es scheint dem gebildeten, erwachsenen Menschen unbegreiflich, 



160 Enter Abschnitt. Die griechische Skepsis. 

dafi auf einer unentwickelteren Stufe die Vorstellung des Fensters 
und das Fenster selbst nicht geschieden werden soil ten; aber man 
versenke sich, um sich da von zu uberzeugen, nur in die Seele der 
Kinder oder blicke selbst traumend und alle bewufite Reflexion 
zuruckdrangend zum Fenster hinaus, und man wird inne werden, 
wie man im Bild des Fensterkreuzes das Fensterkreuz selbst zu 
haben glaubt; jede dabei etwa aufsteigende melancholische Regung 
oder den keimenden Entschlufi, sich der Traumerei zu entreifien, 
empfindet man dagegen unmittelbar als dem eigenen Ich und nicht 
als den Dingen zugehorig. Das ist gewissermafien der psycho- 
logische Urzustand des noch nicht seine Erlebnisse logisch be- 
arbeitenden Bewufitseins. Aber eben deswegen ist es erkenntnis- 
theoretisch ein Dammerzustand , zu schwebend und nebelhaft, um 
den Faden philosophischer Bearbeitung an ihn zu knupfen. Dazu 
eignet sich weit besser die nachste Stufe, zu welcher die roheste 
Oberlegung den Menschen notwendig hinzudr&ngen scheint. Bald 
entdeckt er, dafi er das namliche Fenster auch an jedem andera 
Ort willkurlich sich vorstellen kann, selbst mit geschlossenen 
Augen, dafi er es dann aber nicht zu fassen vermag, dafi es ver- 
schwindet, wenn er seine Gedanken auf etwas andres lenkt usw., 
dafi umgekehrt das Fenster in seinem Arbeitszimmer auch fur 
andre Menschen jederzeit sichtbar ist, wie diese behaupten, fur 
ihn notwendig wiederkehrt, so oft er in das Zimmer tritt usw.; 
kurz er lemt durch „denkende Erfahrung" seine Vorstellungen von 
den realen, beharrlichen Dingen sondem. Aber die Verbindung 
zwischen beiden ist von der Einheitszeit her noch eine so innige, 
dafi die Vorstellung nur als das Abbild, der Spiegel, die geistige 
Wiederholung der Dinge erscheint. Jetzt wird der erkenntnis- 
theoretische Standpunkt eines solchen Menschen bald ein streng 
umrissener, den er zwar theoretisch vielleicht nicht selbst zu ent- 
wickeln fahig ist, aber den man ihm durch Ausfragen sehr bald 
in aller Prazision entlocken konnte. Es ist der Standpunkt des 
soeben geschilderten extremen Realismus. Bis hierher konnte 
das populare Bewufitsein die Kritik seines Urzustandes in dem 
fraglichen Problem selbst ubemehmen, und eben deshalb ist der 
extreme Realismus der Standpunkt des erwachsenen Durchschnitts- 
menschen. Nun aber bedarf es schon wissenschaftlicher, ja philo- 
sophischer Reflexion, um die Haltbarkeit dieser Stufe ihrerseits zu 
prufen. Daher bildet dieser extreme Realismus den eigentlichen 
Ausgangsort des philosophisch gemafiigten. 


Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. l6l 

Nachdem so der besonnene Realist den Ausgangspunkt seiner 
Untersuchungen eindeutig bestimmt und den Mafistab fur die Be- 
urteilung der Wahrheit aufgestellt hat, bleibt er sich bewufit, den 
ersteren willkurlich und nur zum Behuf des allgemeinen Verstand- 
nisses, mit dem zweiten dagegen eine notwendige Regel seines 
Erkennens ausgesprochen zu haben. Er weifi, dafi er mit den 
namlichen Kriterien auch von jeder andem erkenntnistheoretischen 
Position aus zu seinem Standpunkt gelangen miifite. Wenn er 
sich aber einmal fur den gewahlten point de depart entschieden, 
stellt und beantwortet er der Reihe nach die Fragen: welche Be- 
hauptungen des extremen Realismus halten dem Wahrheitskriterium 
Stich und sind also beizubehalten; welche Behauptungen verstofien 
gegen sie und sind also fallen zu lassen oder durch andre zu er- 
setzen? 

Da bieten sich zunachst die allgemeinsten Grundthesen 
des extremen Realismus solch erkenntnistheoretischer Prufung dar. 
Der extreme Realist glaubt, dafi die Dinge, die er sieht, hort, 
riecht, taste t, eine von seinem Bewufitsein unabhangige Existenz 
fuhren, dafi es deren viele gibt, dafi sie weiter bestehen auch in 
seiner Abwesenheit, kurz er glaubt zunachst an ein kontinuier- 
liches Dasein realer 88 ) Objekte. Fuhrt dieser Glaube nun zu 
Widerspriichen oder ist er in sich selbst widerspruchvoll? Darauf 
antwortet der Idealrealist mit einem entschiedenen: Nein. Dieser 
Glaube befindet sich mit alien Denkgesetzen und Erfahrungstat- 
sachen im Einklang und nirgends mit ihnen in Widerspruch; dieser 
Glaube ist daher wahr. Und unser Realist stiitzt sich dabei etwa 
auf folgende Oberlegungen 89 ): die Behauptung von dem kontinuier- 
lichen Dasein realer Objekte schliefit die getrennten Behauptungen 
von der Existenz, der Vielheit, der Beharrlichkeit dieser Objekte 
in sich. Zunachst die Existenz: Jede sinnliche Wahrnehmung 
(eines Blattes, Steines, des Himmels usw.) enth&lt als ihren Grund- 
stock und elementaren Kern eine Gruppe von Empfindungen 
(das Grim der Blatter, das Grau des Steins, das Blau des Himmels). 
Diese Empfindungen sind mir gegeben, drangen sich mir auf, 
ich kann ihnen nicht widerstehen, andrerseits kann ich sie nicht 
erzeugen. Auf dem offenen Meere befindlich ist es mir ebenso 
unmdglich, ein Blatt, einen Stein im Raume leibhaftig vor mir zu 
sehen, wie ich auf Waldwegen wandelnd gar nicht umhin kann, 
solche zu erblicken. Sind mir aber die Empfindungen als der 
Grundbestandteil der sinnlichen Wahmehmungen gegeben, stammen 

Richter, Skeptizismas. 


II 


1 62 Enter Abschnitt. Die griechische Skepsis. 

sie nicht von mir dem Subjekte, so erhebt sich die Frage nach 
dem positiven Ursprung von selbst. Woher kommen sie? Es bleibt 
nur iibrig anzunehmen, dafi sie unabhangig von meinem Bewufitsein 
ihre Quelle haben, dafi sie von einem nicht nur fur mich, son- 
dem an sich existierenden Etwas ausgehen und — da aufier den 
Subjekten und den Objekten kein drittes bekannt ist — dafi 
dieses reale Etwas im Objekt zu suchen ist. 40 ) Diesen logischen Er- 
wagungen, welche die Realisten als eine denknotwendige Erganzung 
zu der unmittelbar gegebenen Empfindung ansehen, kommt nun 
aber als ein Mittel von nicht weniger zwingender Oberzeugungs- 
kraft fur die Annahme eines realen , bewufitseintranszendenten 
Objekts das Gefuhl von einer an sich bestehenden Realitat der 
Gegenstande hinzu, welches ganz unmittelbar und unfiberwindbar 
alle sinnlichen Wahmehmungen begleitet; es ist jenes Wirklich- 
keitsgefiihl, das fur den gemafiigten Realisten diesen gedanklichen 
Beweisgangen gewissermafien die letzte Sanktion erteilt, und auf 
das er, nachdem Hume hier die Wege geebnet, immer wieder alle 
entgegenstehenden Gedankengange als auf eine letzte Instanz ver- 
weisen wird; dieses Gefuhl mit seiner zwingenden Oberzeugungskraft 
gilt ihm als eine Erfahrungstatsache , und der Widerspruch gegen 
auch nur eine Erfahrungstatsache, als unmittelbar gegebenen Be- 
wufitseinszustand , reicht hin, um die Irrtiimlichkeit einer Ansicht 
zu erweisen. — An der Mannigfaltigkeit dieser bewufitseintrans- 
zendenten Realitat als einer Vielheit an sich bestehender Objekte 
wird gleichfalls festzuhalten sein; denn wenn ich z.B. eine schwarze 
Tafel und weifie Kreidestuckchen zugleich betrachte, so habe ich 
zugleich getrennte, gegebene Eindriicke, namlich einmal Schwarz - 
ohne Weifiempfindungen, und dann Weifi- ohne Schwarzempfin- 
dungen. Da ich mich nun hierbei nicht geandert, sogar mit dem 
gleichen Organ diese Wahmehmungen gemacht habe, so mufi ich 
annehmen, dafi die Quelle, aus der jene Eindriicke stammen (das 
reale Objekt) eine andre war, und also eine Vielheit solcher Ob- 
jekte existiert. 41 ) Weiterfragt sich: dauert die Existenz dieser realen 
Objekte an, auch wahrend ich dieselben nicht wahmehme, oder 
verschwinden der Himmel, der Stein, das Blatt, die Tafel an sich 
mit meinen Wahmehmungen von denselben, und tauchen sie erst 
wieder mit diesen im Dasein auf? Hier sieht man sich nun zu der 
Annahme einer beharrlichen Existenz dieser Realitaten gedrangt, 
wenn man mit der Erfahrungstatsache der Obereinstimmung zwischen 
den Aussagen verschiedener Menschen 42 ) ungezwungen im Einklang 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 1 63 

bleiben will. Denn nur dann wird es verstandlich, dafi alle Rei- 
senden die Eisberge im Polarmeer gleich beschreiben , mein Nach- 
bar in der Oper die gleichen Tone hort wie ich, wenn man an- 
nimmt: dafi das identische Objekt an sich die gleichen Empfindungen 
in den gleich veranlagten Bewufitseinen nach ganz bestimmten Ge- 
setzen erzeugt. Gabe es keine beharrlichen Dinge an sich, so 
konnte man sich die Korrespondenz in den Aussagen verschiedener 
Individuen nur durch einen mystischen Zusammenhang erklaren, 
der entweder von Bewufitsein zu Bewufitsein oder von Gott zwischen 
den Bewufitseinszustanden verschiedener Individuen bewirkt wird; 
aber es ist eine Regel der Wissenschaft, nur dann zu einer iiber- 
naturlichen Erklarung zu greifen, wenn die naturlichen versagen. 
Endlich mufi, um die Existenz beharrlicher Dinge an sich fur die 
Welterklarung verwertbar zu machen, auch der gemafiigte Realist 
dem extremen Realisten zugestehen, dafi das Verhaltnis zwischen 
den Dingen und unsem Wahmehmungen derselben ein kausales 
ist. Das wird ihm nicht schwer, da er die Empfindungen als durch 
die Dinge notwendig gegeben anerkannt hat und sich andrerseits 
bewufit ist, dafi wir keinen notwendigen realen Zusammenhaqg 
anders denn als einen ursachlichen zu deuten vermogen. Ob man 
dabei annimmt, die Dinge bewirkten in unserm Leib Veranderungen, 
und diese so bewirkten Leibeszustande waren direkte Ursachen 
unsrer Empfindungen; oder ob man unter Leugnung der Moglich- 
keit, dafi Korperliches je Geistiges bewirken konne, die Empfin- 
dungen nur als psychische, aber unausbleibliche Parallelerscheinungen 
der betreffenden korperlichen Erregungen fafit, das wird weniger 
von dem erkenntnistheoretischen als von dem metaphysischen Be- 
kenntnis des betreffenden Philosophen abhangen. 

Bis hierher geht der gemafiigte Realist mit dem extremen in 
den Ergebnissen Hand in Hand. Er war nur bemuht gewesen fur 
diese Ergebnisse auch wirklich stichhaltige Griinde anzufiihren. 
Nun aber — in der Frage nach der Beschaffenheit der Dinge 
an sich — trennen sich ihre Wege. Der extreme Realist nahm 
die prinzipielle Gleichartigkeit zwischen Wahmehmung und Ding 
an sich an. Der gemafiigte Realist stellt hier zunachst wieder 
seine auf die Erkennungszeichen der Wahrheit bezuglichen Fragen: 
Fiihrt diese Annahme zu Widerspriichen? Oder ist sie im Ein- 
klang mit Erfahrung und Denkgesetzen? Und er vemeint diese 
Frage ebenso entschieden, wie er jene bejaht. Aus welchen 
Griinden? 


164 


Erster Abschnitt. Die griechische Skepsis. 


Zunachst sieht er sich gezwungen , alle von Locke a)s sekun- 
dare bezeichneten Qualitaten, alle Eigenschaften zweiter Ordnung 
den Dingen an sich abzusprechen und in rein subjektive Bestand- 
teile der Wahmehmungen aufzulosen; unter diesen sekundaren Quali- 
taten verstand Locke die Sinnesempfindungen im engerenSinne, wie 
Farbe und Helligkeit, Geruch, Geschmack, Temperatur,Ton, Druck, 
Tastempfindungen. Dazu fuhrt die denknotwendige Deutung zahl- 
loser Erfahrungen. Eine beliebige Veranderung an den Sinnes- 
organen des Subjekts bewirkt eine scheinbare Veranderung an den 
Dingen: durch eine blaue Brille sehe ich alle Dinge blau; meine 
rechte Hand empfindet das gleiche Wasser als warm, das meine 
linke erhitzte Hand als kuhl empfindet Hier tritt nun die ganze 
Fiille der Aenesidemschen Argumentationen in ihr Recht; aber 
diese Tatsachen sind jedem Schuler bereits so bekannt, dafi eine 
weitere Aufzahlung hier uberfliissig scheint. Soli man nun an- 
nehmen, mit den Veranderungen am Subjekt iinderten sich auch 
die wahrzunehmenden Dinge? Mit dem Aufsetzen der Brille die 

1 

Farbe, mit der Erhitzung der Hand die Temperatur derselben? 
Das ist wiederum schwer glaublich ohne einen mystischen Zu- 
sammenhang; denn jede naturliche, ursachliche Verbindung zwischen 
Subjekt und Objekt erschemt hier ausgeschlossen : dadurch dafi ich 
vor mein Auge blaue Glaser bringe, bewirke ich doch nichts an 
dem 50 m von mir befindlichen Ding Baum, dadurch dafi meine 
Hand entziindet ist, bewirkt sie doch nichts an dem von mir 
ganz unabhangigen Ding: Wasser. Beobachtet man nun trotzdem 
eine bestandige Korrespondenz zwischen der Anderung subjek- 
tiver Zustande und der Anderung wahrgenommener Objektseigen- 
schaften, so wird man versuchen die Veranderung des zweiten 
Gliedes eben nur auf die wahrgenommenen , aber nicht auf die 
realen Eigenschaften der Dinge zu beziehen. Und so kommt man 
darauf, die Sinnesempfindungen, erst in diesen Fallen, dann all- 
gemein als subjektive Reaktionen auf ganz andersartige reale Reize 
zu fassen. Denn da die Anderungen in der Empfindung sich hier 
nicht blofi auf kleine gradweise Abweichungen beschranken, sondem 
sich in Unterschieden wie warm und kalt, rot und blau bewegen 
konnen, so mufi man in der Tat eine ganzliche Andersartigkeit der 
realen Reize vermuten. Diese Vermutung findet nun aber in dem 
reichen Schatz von Beobachtungen der Sinnesphysiologie ihre 
vollstandige Bestatigung. Diese lehren uns 1. vollig disparate 
Sinnesreize werden von uns als gleichartig empfunden > 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 165 

wenn nur der Sinn derselbe ist. Ob sich der Sehnerv (resp. die Retina) 
durch innerenReiz entziindet, oder von aufien mechanisch einDruck 
auf ihn ausgeubt wird, ob ich ihn elektrisch reize, ob ihn Ather- 
wellen treffen — stets reagiert er mit derselben Empfindung (Farbe 
und Helligkeit) als der geistigen Parallelerscheinung zu den physio- 
logischen Vorgangen; wenn er uberhaupt reagiert, reagiert er nur 
so. Und ob ein entziindlicher Zustand den Acusticus reizt, ob 
der elektrische Strom, oder endlich der nonnale Reiz der Luft- 
wellen ihn erregen — empfinde ich uberhaupt dabei, so babe ich 
eine Tonempfindung. Und ob ich den galvanischen Strom, ob ich 
den Druck eines Metallstabchens auf die Warme- (Kalte-) punkte 
der Haut, die Organe der Temperaturempfindung, ansetze, stets 
empfinde ich dann Warme oder Kalte. 2. Ein und derselbe 
Reiz auf verschiedene Sinnesorgane wirkend gibt anders- 
artige Empfindungen. Der namliche elektrische Strom schmeckt 
der Zunge sauer, erscheint dem Sehorgan, wenn er es reizt, rot oder 
blau, erregt auf der Haut Kitzel, im Gehororgan einen Ton. 43 ) Der 
gemafiigte Realist hatte die Anschauung vertreten, dafi die Empfin- 
dungen Wirkungen der Dinge, unmittelbare oder mittelbare, auf 
unser Bewufitsein sind; er hatte ferner die Ungleichartigkeit zwischen 
den Empfindungen als wahrgenommenen Eigenschaften und den 
realen Reizen als Dingeigenschaften festgestellt. Beide Einsichten 
miteinander verschwistert ergeben die Erkenntnis: dafi die Empfin- 
dungen als Wirkungen ihren Ursachen als Dingeigenschaften weder 
adaequat noch ahnlich sind. Diese Erkenntnis findet nun ihre Be- 
statigung durch eine andreMethode der Naturwissenschaft, die Frage 
zu entscheiden, namlich durch die physikalische Akustik und Optik, 
welche die Empfindung als Wirkung zuriickverfolgt auf ihre Ursachen 
und nun zusieht, wie sich beide zueinander verhalten. Man nehme 
das Intervall a — e, mit welchem die IX. Symphonie Beethovens be- 
ginnt. Der Konzertbesucher hort zwar diesen Akkord der Instru- 
mente, aber im ganzen Konzertsaal findet der Physiker keinen Ton, 
den er als Ursache dieser Empfindung einfangen konnte, wohl aber 
Schwingungen der Luft, von bestimmtem periodischem Rhythmus, 
Wellenlange und Geschwindigkeit. Treffen diese das Cortische Organ 
im Ohrlabyrinth und werden ins Gehirn weitergeleitet, so hore ich 
die unheimliche Quinte. Diese Schwingungen gehen aus von ge- 
zupften oder gestrichenen Saiten der Violinen und Celli, von der 
durch das Blasen bewegten Luft in den Homem usw. Dafi in 
der Tat Schwingungen Ursachen des Tons A waren, lafit sich auch 



Enter Abschnitt. Die grie c hische Skepsis. 


1 66 

umgekehrt erharten, wenn ich eine Stimmgabel , die die Schwingungen 
der gleichen Schwingungszahl erzeugt, im Orchester aber gar nicht 
vorhanden war, anschlage und nun wieder den Ton A vemehme. 
Beim Anblick der Sonne habe ich eine starke Lichtempfindung. 
Die physikalische Optik sieht zu, was eigentlich da auf mich wirkt. 
Sie untersucht, welcher Rapport zwischen der Sonne und meinem 
Sehorgan stattfindet; an der Sonne nun kann sie kein „Hell“ ent- 
decken, das sich irgendwie von der Sonne losloste, den Raum 
durchwanderte und nun in mich hineindrange. Freilich gelingt es 
ihr auch nicht ein andres Etwas sinnlich wahrzunehmen, das 
Ursache meiner Lichtempfindung sei. Aber wenn sie in Ermange- 
lung einer irgendwie sichtbaren Ursache hypothetisch annimmt, von 
der Sonne gingen unsichtbare Wellen eines bisher unwagbaren 
Stoffes, des Athers aus, von verschiedener Lange, gleicher Ge- 
schwindigkeit und transversaler Richtung, die, wo sie mein Seh- 
organ treffen, eine Lichtempfindung auslosen, so lassen sich die 
zahlreichenEigentiimlichkeiten der Lichtempfindung unter bestimmten 
Verhaltnissen kausal-real auf diese Weise und vorlaufig nur auf 
diese Weise erklaren. Eine Erklarung jeder Sinneswahmehmung 
durch Kausalitat der realen Dinge war aber eine allgemeine Forde- 
rung auch des gem&fiigten Realismus. So mehren sich von alien 
Seiten, besonders von der Physiologie und der Physik her die 
Grunde, die sekund&ren Qualitaten ins Subjekt zuruckzunehmen 
und sie den objektiven Eigenschaften der Dinge abzusprechen. 

Aber es bleiben noch Eigenschaften zuruck, die wir am Ob- 
jekt wahrzunehmen glauben: das sind die primaren Qualitaten 
Lockes, die Eigenschaften erster Ordnung, oder die mathe- 
matisch-physikalische'n Qualitaten, so genannt weil sie mit Hilfe 
der mathematisch-physikalischen Methoden zu berechnen sind. Da- 
hin gehoren Raum und Zeit mit all ihren Besonderheiten und Kom- 
binationen, wie Dichte, Figur, Ausdehnung, Bewegung usw. Es 
erhebt sich die Frage: sind sie reale Eigenschaften der Dinge, 
oder, wie die Empfindungen , bloG subjektive Reaktionen auf anders- 
geartete reale Eigenschaften? Der extreme Realist wies sie, wie 
alle Bestandteile seiner Wahmehmung, den realen Dingen zu. Der 
gemafiigte Realist folgt ihm hierin. Warum? Zunachst, weil er 
seinem Ausgangspunkt, jenem psychologischen Urzustand, gemafi 
sich zur Regel machte, solange an den Aussagen des naiven Be- 
wufitseins festzuhalten, also an eine Kongruenz zwischen Objekts- 
und Wahrnehmungseigenschaften zu glauben, als eine Korrektur 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 


167 


wegen entstehender Widerspriiche mit den Erfahrungen oder mit 
logisch zwingenden Erwagungen nicht geboten ist Und zu einer 
solchen Berichtigung sieht er jetzt keine Veranlassung. Denn 
keiner der fur die reine Subjektivitat der sekundaren Qualitaten 
beigebrachten Griinde halt hier Stich. Die von der Sinnesphysio- 
logie gelieferten Tatsachen sind diesmal hinfallig. Wo raumlich- 
zeitliche Eigenschaften vorgestellt werden , da wirkt auch allemal 
ein raumlich-zeitlicher Reiz ein; denn alle Reize, die Sinneswahr- 
nehmungen erzeugen , sind raumlich-zeitlich. Also konnen jetzt 
nicht vollig disparate Reize als gleichartig empfunden werden. 
Und ebensowenig gibt ein und derselbe Reiz heterogene Wahr- 
nehmungen in verschiedenen Sinnen, sondem das Gesicht und Ge- 
tast sind die einzigen Sinne, welche Vorstellungen des Raums ver- 
mitteln, und diese reagieren auf die Erregungen des gleichen Dinges 
nicht verschieden, sondern gleichartig, nicht auseinander, sondern 
ineinander. 44 ) Alle Sinne dagegen beantworten jeglichen Reiz neben 
der spezifischen Empfindung noch mit einer zeitlichen Bestimmung, 
so dafl auch hier der Gegensatz zwischen Reiz und Wahmehmung 
gehoben ist. Ebensowenig vermogen die Beobachtungen des Phy- 
sikers eine Gegeninstanz gegen die Realitat der primaren Quali- 
taten zu bilden; denn wenn er von der Wirkung zur Ursache dies- 
mal riickwarts den Weg verfolgt, so stoCt er bei den Vorstellungen 
raumlich-zeitlicher Elemente als Wirkungen ebenso sicher auf raum- 
lich-zeitliche Ursachen, wie er bei Farbe, Geruch, Temperatur 
vergeblich nach adaequaten Ursachen gesucht hatte. Von posi- 
tiven Grunden fur die Realitat der primaren Qualitaten fuhrt der 
gemafiigte Realist in erster Linie die Tatsache an, dafi Raum und 
Zeit Dauer eigenschaften jeder Dingwahmehmung darstellen, wah- 
rend Farbe, Geruch, Geschmack usw. wechseln und vergehen; mag 
das Ding Rose in meiner Wahmehmung auch den Duft verandern 
und schliefilich verlieren, immer wird es an einem Ort im Raum, 
an einer Stelle in der Zeit wahrgenommen werden miissen. Ja 
selbst durch eigene Willkiir vermag ich an einem Ding fur meine 
Wahmehmung alle sekundaren Qualitaten zu zerstoren, die pri- 
maren sind unzerstorbar. Mag ich ein Stuck Kreide mit einem 
Messer zerschneiden, ja mit einem Mikrotom in die feinsten Stuck- 
chen zerspalten, so wird doch jeder Teil noch eine ganz bestimmte 
Figur zeigen, in einem bestimmten Zeitpunkt existieren miissen. 45 ) 
Wenn man nun die ursprungliche Ahnlichkeit von Ding und Wahr- 
nehmung zum Ausgangspunkt nimmt, und nur durch Berichtigung 



Enter Abschnitt. Die griechuche Skeptis. 


1 68 

von entstehenden Widerspruchen das Ding gewisser Wahmehmungs- 
eigenschaften aUmahlich entkleidet, so werden naturlich vor allem 
diejenigen Eigenschaften dieser Korrektur niemals verfallen, welche 
sich absolut konstant in alien Wahmehmungen vorfinden; denn 
von dem Ding und seinen Eigenschaften weifi ich ja nur durch 
die Wahraehmung. 

Indem wir von den schwacheren Beweismitteln dieser An- 
schauungsweise absehen, etwa dafi die primaren Qualitaten in 
ihrer objektiven Realitat durch das Zeugnis mehrerer Sinne (Ge- 
sicht und Getast) gestutzt wurden, die sekundaren dagegen nicht, 
mussen wir noch des Einwands gedenken, dafi die Annahme von 
der objektiven Realitat gewisser Eigenschaften in einigen Fallen 
doch auch scheinbar zum Widerspruch fuhrt Gerat hier diese 
Theorie nicht doch noch zu guterletzt in Gegensatz zu Erfahrungs- 
tatsachen und Denkgesetzen und ist also unwahr? Wenn ich in 
den raumlichen Bestandteilen der Wahrnehmung die wirklichen 
Raumverhaltnisse der Dinge erkenne, mufi ich dann nicht an- 
nehmen, dafi sich die realen Proportionen des Ruders andern, 
wenn ich dasselbe ins Wasser stecke; die realen Proportionen des 
Turms, wenn ich mich von ihm entfeme? Aber ist das nicht der 
namliche Widersinn, dem der kritische Realist schon bei den sekun- 
daren Qualitaten (dem der rechten Hand warm, der linken kalt 
erscheinenden Wasser) begegnet, und durch die Subjektivierung 
dieser Qualitaten zu heben bemiiht gewesen war? In der Tat wird 
der besonnene Realist nicht umhin konnen, die Analogie dieser 
Erscheinungen anzuerkennen. 46 ) Aber sowenig er sich durch die 
Beobachtung von dem Wechsel der Empfindungsqualitaten bei Ab- 
anderung des Zustands im auffassenden Subjekt schon allein be- 
wogen gesehen hatte, die blofie Subjektivitat dieser Qualitaten zu 
behaupten, sondern es noch einer Reihe entscheidender Griinde dazu 
bedurft hatte, sowenig wird er jetzt allein durch die entsprechende 
Beobachtung bei den primaren Eigenschaften deren Realitat fallen 
lassen, die ihm auf anderweitig gut gelegtem Grand zu ruhen 
scheint. Alle seine Erfahrangen lehren ihn, dafi das Ruder gerade 
ist, der Turm viereckig: der Anblick dieser Gegenstande in der 
Luft und in der Nahe, die Kontrolle durch die Tastempfindungen, 
die mathematische Messung; sollen nun alle diese Erfahrangen um- 
gestofien werden durch die eine Wahrnehmung des Ruders im 
Wasser, des Turms in der Feme? Ehe das zugegeben wird, mufi 
doch wohl noch der Versuch gemacht werden, die Wahrnehmung 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 


169 


des gebrochenen Ruders, des runden Turms in Einklang zu bringen 
mit dem Ergebnis der friiheren Wahmehmungen: dafi der Turm 
an sich eckig, das Ruder an sich gerade ist. Und dieser Versuch 
gelingt vollkommen. Denn der Realist ist imstande, die Ursachen 
nachzuweisen , aus denen ich jetzt das Ruder gebrochen , den Turm 
rund sehen mufi. Wenn er die Notwendigkeit dieser Abweichungen 
zu erklaren versucht, bemerkt er sogleich , dafi die im Wasser am 
Ruder entlang gleitende Hand das Ruder ungekrummt und gerade 
wahraimmt wie in der Luft. So vermutet er die Ursachen in 
optischen Verhaltnissen, und in der Tat belehrt ihn die physi- 
kalische Optik alsbald, dafi die Strahlen vom unteren Teil des 
Ruders nicht mehr geradlinig in mein Auge fallen, sondem durch 
die Wasseroberflache gebrochen werden, ich also das Ruder 
krumm sehen mufi. Mit der Einsicht in diese Notwendigkeit 
ist aber die Einheit mit der Erfahrung und den Denkgesetzen auf 
Grund des gemafiigten Realismus wieder hergestellt und die Wahr- 
heit desselben also nicht erschuttert. Denn alles was das Wahr- 
heitsbediirfnis von diesem Standpunkt angesichts der verbliiffenden 
Erscheinungen verlangen konnte, war: einmal eine Ursache dafur 
angegeben zu bekommen, dafi jedesmal, wenn ich das Ruder ins 
Wasser stecke, ich es gebrochen sehe, und dann: diese Ursache 
nicht in das Objekt, das ja nicht verandert wurde, verlegt zu er- 
halten, sondem in die Verhaltnisse des Mediums. Beide Forde- 
rungen wurden erfullt, und zwar mit Hilfe jener realistischen 
Grundannahme, dafi das Ruder als ein materielles, raumliches 
Ding an sich existiert, so gut wie die Luft, das Wasser, mein Auge 
und das Licht. Nur dadurch wurde die Erklarung moglich, dafi 
die vom Ruder an sich ausgehenden Strahlen an sich in das Auge 
an sich unter dem und dem Winkel an sich einfallen ; das so von 
der Figur des Ruders entstehende Netzhautbild und das diesem 
entsprechende Bewufitseinsbild ist nun aber der Figur des Ruders 
an sich nicht gleich. Also ist — wenn wir es als ein Abbild des 
Ruders selbst erwarten und ansprechen — diese Erwartung tau- 
schend und diese Aussage falsch. Daher nennt der gemafiigte 
Realist solche und ahnliche Wahmehmungen, in denen reale Eigen- 
schaften des Objekts durch besondere Umstande inadaquat wahr- 
genommen werden mussen, Sinnestauschungen. Die Tauschung 
besteht eben darin, dafi die Wahmehmung, welche fur gewohnlich 
gewisse Eigenschaften der Dinge adaquat wiedergibt, in einigen 
Fallen auch hier versagt. Die Empfindungsbestandteile der Farbe, 



I/O 


Erster Abschnitt. Die griechische SkepsU. 


des Geruchs usw. dagegen tauschen uns nicht uber die Eigen- 
schaften der Dinge, weil sie gar keine Eigenschaften der Dinge 
wiedergeben. Obrigens brauchen es durchaus nicht immer blofi 
physikalische, es konnen auch physiologische , ja rein psychologische 
Ursachen die Sinnestauschungen bewirken; durch die Rolle der 
Augenbewegungen z. B. werden viele optische Tauschungen be- 
dingt, wahrend etwa bei der Erscheinung, dafi uns eine unter- 
brochene Linie langer erscheint als eine ununterbrochene , rein 
psychische Faktoren Ursache der Tauschung sind. Dafi man in 
solchen das Objekt unberiihrt lassenden Momenten wirklich die Ur- 
sachen fur die veranderten Wahrnehmungen zu suchen hat, erhellt 
auch daraus, dafi, wenn man diese Ursachen willkurlich ausschaltet, 
die alten Objektwahmehmungen wieder eintreten, und, wenn man 
sie willkurlich einfuhrt, die Veranderungen sofort mit eintreten. 
Dadurch werden sie in ihrer ursachlicben Natur bestatigt. 

Hatten wir so die hauptsachlichen Stiitzen fur den gemafiigten 
Realismus ins Feld gefuhrt und ihn auch scheinbarer Widerspruche 
gegen seine Anschauungen Herr werden sehen, so ergibt sich doch 
aus seiner Methode, die Kriterien der Wahrheit bewufit anzuwenden, 
dafi die gewaltigste Hilfstruppe zu seinen Gunsten hier nur be- 
zeichnet, aber nicht in ihrer ganzen Ausdehnung ins Feld gefuhrt 
werden kann. Denn wenn seine Theorie von der Realgiiltigkeit 
gewisser Wahrnehmungsbestandteile, der Irrealilat oder Idealitat 
andrer, auf ihren Wahrheitsgehalt an dem Einklang mit alien Er- 
fahrungstatsachen und dem mangelnden Widerspruch zu nur einer 
einzigen gepruft werden soil, so ist naturlich das Zeugnis jener 
Wissenschaft von dem hochsten Gewicht, deren Beruf gerade in 
der Sammlung und widerspruchlosen Zusammenfassung einer immer 
neu zustromenden Fiille von Erfahrungen liber die sinnlich wahr- 
genommenen Objekte besteht. Das Zeugnis der Naturwissen- 
schaften, hier an letzter Stelle auftretend, ist dem Werte nach 
unter alien Rechtfertigungsgriinden des gemafiigten Realismus eines 
der entscheidendsten. Seit Hunderten von Jahren arbeitet die Natur- 
wissenschaft bewufit, seitTausenden unbewufit, mit dem Standpunkt 
des gemafiigten Realismus an dem Verstandnis, der Deutung, der 
Erklarung der den Sinneswahmehmungen korrespondierenden Gegen- 
stande. Die vorhandenen Tatsachen bringt sie durch ihn in wider- 
spruchlosen Zusammenhang, neu auftretende gliedem sich un- 
gezwungen durch ihn in denselben ein, und die uns die alltSgliche 
Erfahrung vielleicht niemals entgegenbrachte, werden durch ihn 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. I 7 1 

vorausgesagt und durch das Experiment bestatigt. Der Natur- 
wissenschaftler als solcher ist zwar kein Erkenntnistheoretiker — 
aber insoweit er eine bestimmte erkenntnistheoretische Anschauung 
seinen Forschungen zugrunde legt, bedient er sich derselben als 
einer Hypothese, die sich ihm auf seinem Gebiete immer wieder 
bewahrt. Die ganze Armee dieser bestatigenden Erfahrungen 
konnen wir hier nicht aufmarschieren lassen, sonst mufiten wir 
ein beliebiges Lehrbuch der Physik oder der Chemie auszuschreiben 
beginnen, so dafi die gewaltigste Hilfstruppe des gemafiigten Rea- 
lismus, wie gesagt, hier nur bezeichnet, nicht entwickelt werden 
kann. Die Beobachtungen der Physik haben ihm mehr genutzt 
als die Reflexionen der einzelnen Philosophen, und man darf wohl 
behaupten: dafi der Idealrealismus von alien nach dem extremen 
Realismus zu erorternden Positionen rein philosophisch am schwersten 
zu halten ware, hatte er nicht jene ubermachtige Bundesgenossin, 
die an seiner Hand die Erfahrung tiefer und tiefer durchdringt 
und ihre einzelnen Falle immer inniger miteinander versohnt. 

2. Nachdem so die erste Frage nach den tats£chlichen Thesen 
des gemafiigten Realismus und nach deren Begrundung beantwortet 
ist, erledigt sich das noch ausstehende Problem: kann die sinn- 
liche Wahrnehmung Erkenntnis der Dinge liefern oder 
fuhrt auch dieser Standpunkt zu skeptischen Folgerungen? 
fast von selbst. Zunachst ist die sinnliche Wahrnehmung als solche 
weder wahr noch falsch; denn sie ist kein Urteil und nur Urteile 
verfallen dem Wahrheitsbegriff. Wahr oder unwahr ist also nur 
das Urteil uber die sinnliche Wahrnehmung: dafi diese die Eigen- 
schaften der Dinge, wie sie wirklich beschaffen sind, erkenne oder 
nicht erkenne. Und dieses Urteil ist halb wahr und halb falsch. 
„Die Sinne erkennen die Eigenschaften der Dinge “ kann jetzt nur 
noch bedeuten: die von ihnen vorgestellten Eigenschaften sind den 
realen Eigenschaften gleichartig. Das gait zunachst nicht von den 
sekundaren Qualitaten; hier sind die vorgestellten Eigenschaften 
den realen weder gleichartig noch ahnlich; fur die mathematisch- 
physikalischen Qualitaten aber gait das Umgekehrte; sie sind den 
realen Eigenschaften gleichartig oder doch ahnlich. Aber auch 
hier gab es mannigfaltige Ausnahmen (in den sogenannten Sinnes- 
tauschungen) , die der gedanklichen Korrektur bedurften, so dafi 
auch die Wahrnehmung bestimmter raumlicher Eigenschaften keines- 
wegs jemals die letzte Instanz fur die Wirklichkeit derselben ist, 
sondem erst an die Sanktion durch die Vemunft, welche die 



172 


Erster AbschnitL Die griechische Skepsis. 


genannten Wahrheitskriterien bewufit anzuwenden hat, verwiesen 
wird. 47 ) Nimmt man hinzu, dafi ich niemals imstande bin, die pri- 
maren von den sekundaren Qualitaten anschaulich abzuspaiten, 
so dafi ich etwa die Figur eines Dinges ohne seine Far be wahr- 
zunehmen imstande ware, und dafi ich andrerseits bei den sekun- 
daren Eigenschaften die entsprechenden realen in der gewohnlichen 
Anschauung uberhaupt nicht wahrnehme, ja sie auch durch experi- 
mentelle Isolation oft uberhaupt nicht wahrnehmen, sondern nur 
mit der Phantasie und dem Denken erfassen kann, so erhellt, dafi 
die gegebene Wahmehmung in toto ein ganz ungetreues Bild der 
realen Dinge liefert, und dafi das getreue Bild irgend eines realen 
Dinges niemals durch dessen Wahmehmung gegeben werden kann. 
Man versuche nur, sich das der Wahmehmung Rose entsprechende 
reale Ding sinnlich vorzustellen: ein nicht duftendes, nicht farbiges, 

nicht weiches, den angeschauten Raumausschnitt einnehmendes 

•• 

Atomkonglomerat, von dem Atherwellen verschiedener Lange aus- 
gehen, farblose Gase aufsteigen usw.l So ergibt sich die vollige 
Andersartigkeit zwischen Wahmehmung und Gegenstand, und dieser 
erscheint als eine begriffliche, aus den Daten der Anschauung 
gewonnene Grofie, jene als ein blofies Zeichen, als ein Hinweis 
auf die Existenz dieser Grofie. Von dieser Seite betrachtet ist der 
Anteil des Denkens weit grofier als der Anteil der Sinne an der 
Erkenntnis der Gegenstande. Aber so sehr der logische Charakter 
der Gegenstanderkenntnis hervorzuheben ist, so darf man doch 
nie vergessen, dafi diese logische Bearbeitung alien St off erst von 
der sinnlichen Wahmehmung empfangt; dafi diese Bearbeitung 
immer nur an der Hand sinnlicher Daten fortschreiten kann. Das 
Ding Rose kann ich nur erkennen, wenn die sinnliche Wahmeh- 
mung mir zunachst das Bild einer Rose vor Augen, Nase, Getast 
fuhrt, und zu all den Berichtigungen, die ich an diesem Bilde vor- 
nehme, bis die realen Eigenschaften der Rose herausgearbeitet 
sind, werde ich nur durch neue Wahmehmungen geleitet. Will 
ich etwa die realen Eigenschaften, die in mir die Duftempfindungen 
erzeugen, untersuchen, so mufi ich die Gase, die von der Rose 
ausstromen, d. h. das durch Destination gewonnene atherische 01 
auf Brennbarkeit, Loslichkeit usw. prufen; ich mufi also neue Wahr- 
nehmungen machen, die in sich zwar wieder nicht, weil mit sekun- 
daren Qualitaten beladen, der Realitat entsprechen, aber einzig 
zur Erforschung jeglicher Realitat tauglich sind. Und die durch 
derartige Bearbeitung der Realitat zugewiesenen Eigenschaften sind 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 


173 


ins Reale ubersetzte Wahrnehmungsbestandteile, oder aus solchen 
erschlossene Elemente moglicher Wahmehmung! So iiberragt unter 
einem andem Gesichtspunkt die Rolle der Wahrnehmung diejenige 
des Denkens in der Erkenntnis der sinnlich angeschauten realen 
Dinge. Aber erst aus der Vereinigung beider entspringt die wahre 
Erkenntnis; man kann sagen: ohne sinnliche Wahmehmung iiber- 
haupt keine Erkenntnis realer Dinge; aber ohne Denken keine 
wahre Erkenntnis der Dinge. Und so fordert der gemafiigte Rea- 
lismus beide Faktoren, um die Wahrheit auf dem fraglichen Ge- 
biete erarbeiten zu konnen. 

Wie steht es nun mit den skeptischen Beweisstucken 
Aenesidems? Diese hingen unter anderm an zwei Voraussetzungen: 
einmal dafi das Wahrnehmungsbild in alien seinen Teilen ein dem 
realen Ding homogenes Bild ist und dafi die Abweichungen sich 
innerhalb der Grenzen dieser Homogenitat bewegen; und dann, 
dafi die Wahmehmungen als solche und in ihrer Isolierung die Dinge 
erkennen sollten. Die erste Pramisse fuhrte in betreff der sekun- 
daren Qualitaten zu scheinbar unlosbaren Widerspriichen; die zweite 
hinderte das Denken, der Wahmehmung zu Hilfe zu kommen und 
an seiner Hand die erste Pramisse aufzuheben. Mit beiden Voraus- 
setzungen hat der gemafiigte Realismus grundlich aufgeraumt und 
andre, eigene und wohlbegriindete Anschauungen an die Stelle 
gesetzt. Fiir diese aber sind die nur unter obiger Annahme giiltigen 
Tropen Aenesidems hinfallig geworden. Der Kem derselben war 
der Tropus von der Relativist der sinnlichen Wahmehmung ge- 
wesen; aus dieser Relativitat wurde auf die Variabilitat und 
aus beiden zusammen auf die Unerkennbarkeit der Dinge 
geschlossen. 48 ) Diese Relativitat und Variabilitat gibt der gemafiigte 
Realist dem Skeptiker zunachst fur die Empfindungsbestandteile 
wiilig zu; er gesteht geme ein, dafi die Farbe nur in bezug auf die 
Beleuchtung existiert, mit dieser sich verandert und wechselt, dafi die 
Temperaturempfindung von der Temperatur unsres eignen Blutes 
abhangt, und dafi, wenn Farbe und Temperatur Eigenschaften der 
realen Dinge waren, wir diese Eigenschaften nie an sich, sondem 
immer nur durch subjektive Dispositionen oder objektive Verhalt- 
nisse der Medien modifiziert erkennen wiirden. Aber da es sich hier- 
bei fur ihn um gar keine Eigenschaften realer Objekte, sondern nur 
um rein subjektive Reaktionen auf ganz andersartige reale Eigen- 
schaften handelt, so kann auf eine Unerkennbarkeit von Objekts- 
eigenschaften aus dieser Veranderlichkeit niemals geschlossen werden. 



i?4 


Erster Abschnitt. Die griechische Skepsis. 


Auch wird man dem Skeptiker nicht zugeben: die Wahr- 
nehmungen selbst behaupteten, den Dingen kamen Rote, 
Warme und Sufie zu; und da sie nun von dem gleichen un- 
verandert gebliebenen Dinge hier oft die kontrarsten Behaup- 
tungen aussagten, so gerieten sie miteinander in einen Wider- 
spruch, der nicht zu heben sei; es stunden also — selbst wenn 
man die, vernunftiger Erwagung entsprossene, These teilte: 
die Empfindungen sind keine realen Qualitaten — doch dieser 
These immer noch miteinander streitende unmittelbare Wahr- 
nehmungen gegenuber, die ihre Behauptungen in wirrem Tumult 
durcheinander riefen: der Honig ist sufi, der Honig ist bitter usf. 
Die Wahrnehmungen selbst behaupten gar nichts und kdnnen also 
auch niemals miteinander in Widerspruch geraten, da Widerspruch 
nur zwischen Behauptungen moglich ist. Die Wahmehmung sagt 
niemals aus, dafi der Honig sufi ist; sondern sie besteht in Sufi- 
empfindungen, Gelbempfindungen, vielleicht auch Zahigkeitsempfin- 
dungen (die man wegen ihrer haufigen Wiederkehr in gleicher 
Kombination als einheitlichen Komplex mit dem Namen „ Honig “ 
belegt hat) und allenfalls noch in einem begleitenden Wirklich- 
keitsgefuhl. Die Wahmehmung als solche ist reines Erlebnis, 
das als solches nie wahr oder falsch, sondern nur da Oder nicht 
da sein kann. Auch das Urteil, das den logischen Denkgesetzen 
gemafi uber diesen Bewufitseinsinhalt berichtet, mufi stets wahr 
sein, weil es logisch korrekt eine Erfahrung wiedergibt, die — wir 
gebrauchen das Wort Erfahrung im strengen Sinne — niemals mit 
einer andem Erfahrung in Streit geraten kann. Konnten also die 
Wahrnehmungen als solche nie in Widerspruch kommen, weil sie 
jcnseits von Obereinstimmung und Widerspruch stehen, so sind 
die Urteile, welche nur den Inhalt der Wahmehmung zum Aus- 
druck bringen, d. h. ihn vom Subjekt als dessen Bewufitseinszustand 
pradizieren, und die den Wahrheitskriterien unterstellt sind, alle 
miteinander im Einklang. Auch die Urteile: ich habe im Augen- 
blick A im Bewufitsein raumlich-zeitlich geordnete Gelb-, Zahig- 
keits- und Sufiempfindungen und ein Gefuhl, als ob diesen Empfin- 
dungen ein reales Objekt entsprache, und: ich habe im Augenblick 
B im Bewufitsein raumlich-zeitlich geordnete Gelb-, Zahigkeits- 
und Bitterempfindungen und ein Gefuhl, als ob auch diesen Empfin- 
dungen ein reales Objekt entsprache, widersprechen sich nicht, 
selbst wenn es sich dabei um die Wahmehmung des gleichen, un- 
verandert beharrenden realen Objekts handeln sollte. Erst durch 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 


175 


die in der Wahrnehmung gar nicht enthaltene , von den Skeptikern 
willkurlich vorausgesetzte philosophische Annahme: das Wirklich- 
keitsgefuhl beweise die Existenz einer transsubjektiven Realitat, 
und die gleichfalls nicht in der Wahrnehmung enthaltene Annahme : 
die Wahmehmungsbestandteile seien Eigenschaften dieser realen 
Dinge, glaubte man auf Grand der Wahrnehmung schliefien zu 
mfissen: das gleiche Ding, das selbst keinerlei Veranderang er- 
litten habe, sei jetzt sfifi, jetzt bitter — Urteile, die allerdings 
miteinander nicht vertraglich erscheinen und die Erkennbarkeit der 
Dingeigenschaften in Frage stellen. Dagegen legt der gemafiigte 
Realist die gleichfalls in der Wahrnehmung nicht enthaltene aber 
logisch begrfindete philosophische Annahme zugrande: solange an 
der naiv geglaubten, aber deshalb nicht primar erfahrenen 
Korrespondenz von Ding- und Wahmehmungseigenschaften fest- 
zuhalten, bis Widersprfiche mit Denken oder Erfahrang eine andre 
Auflassung notwendig machten — eine Notwendigkeit, die fur das 
Dasein realer Dinge nicht, wohl aber fur die Korrespondenz zwischen 
Ding- und sekundaren Wahmehmungseigenschaften eingetreten war. 
Nun glaubt auch er aus den Wahmehmungen etwas schliefien zu 
dfirfen: namlich das gleiche Ding bewirke in mir jetzt eine Siifi-, 
jetzt eine Bitterempfindung; Urteile, die durchaus miteinander ver- 
traglich sind und die Erkennbarkeit der Objektseigenschaften nicht 
im geringsten in Frage stellen. Der Skeptiker steht also de facto 
nicht einem Widersprach zwischen sinnlichen Aussagen fiber das 
gleiche Objekt ratios gegenfiber (denn solche Aussagen und daher 
auch solchen Widersprach kann es fiberhaupt nicht geben), son- 
dem einem Widersprach zwischen Aussagen fiber das gleiche Ob- 
jekt, die aus einer willkfirlichen und noch dazu unhaltbaren logi- 
schen Ausdeutung des sinnlichen Wahmehmungsvorgangs erst 
gewonnen sind. Und der gemafiigte Realist gewinnt nicht etwa 
durch eine logische Korrektur an sinnlichen Aussagen (denn solche 
Aussagen gibt es streng genommen nicht, und selbst die in Urteile 
exakt transponierten Wahmehmungen bedfirfen nie einer logischen 
Korrektur!) widerspruchlose Behauptungen fiber die realen Dinge, 
sondern durch eine begrfindete logische Ausdeutung des sinnlichen 
Wahmehmungsvorgangs. 

Kann endlich der gemafiigte Realist auf Grand der sinnlichen 
Wahmehmungen zu keinen unausgleichbaren Urteilen fiber die 
sekundaren Qualitaten der Dinge gelangen, weil er in den Empfin- 
dungen fiberhaupt keine Eigenschaften der Dinge zu erkennen 



176 


Enter Abschnitt. Die griechische Skepsis. 


glaubt, so vermag er andrerseits die realen Qualitaten 
sehr wohl zu erkennen, die den nur subjektiven Empfindungen 
entsprechen, d. h. als Reize diese Empfindungen auslosen. Denn 
diese Reize sind stets raumlicher, materieller, also grundsatzlich 
erkennbarer Natur. Freilich beruht ihre Eigenart auf Bewegungen 
der kleinsten materiellen Teilchen (der Luft, des Athers usf.), deren 
Ursachen zum Teil durch die Wahmehmung erkennbar sind (wie die 
Schwingungen tieftonender Korper), zum Teil unsera Sinnen entgehen 
(wie die Schwingungen hochtonender Korper), aber in ihrer Exislenz 
und Beschaffenheit sicher erschlossen werden konnen, zum Teil (wie 
die Atherwellen) bisher nur auf hypothetischen Annahmen berahen. 
Also auch hier das gleiche Ergebnis, wie bei den Werten und Gefuhlen 
der Skepsis gegenfiber: Soweit die Wahrnehmungselemente 
auf Dingeigenschaften zurfickgehen, sind diese Ding- 
eigenschaften grundsatzlich erkennbar; soweit die Wahr- 
nehmungsbestandteile als Dingeigenschaften nicht er- 
kennbar waren, sind sie fiberhaupt keine Dingeigen- 
schaften! 

Die Relativity und Variability in den Wahraehmungen der 
mathematisch-physikalischen Eigenschaften besteht dagegen 
im groflen und ganzen nicht, und wo sie besteht, ist die Unerkenn- 
barkeit der realen Eigenschaften nicht aus ihr zu folgem. Die 
Wahmehmung eines Dreiecks hangt nicht, wie die Temperatur- 
empfindung von den augenblicklichen Blutverhaltnissen, wie der 
Geruch von dem, was ich vorher gerochen, wie der Geschmack 
von dem, was ich vorher gekostet, so von dem, was ich vorher 
gesehen und getastet habe, ab, und andert sich nicht mit diesen 
Erfahrungen. Sondem hier werden im ganzen fiber die gleichen 
Objekte die gleichen Raum- und Mafiverhaltnisse von mir dem 
Wahmehmenden (und den tibrigen wahmehmenden Gesunden) aus- 
gesagt, und es mochte schwerlich jemand, weil er vorher Recht- 
ecke gesehen hat, nun auch das Dreieck an der Tafel fur ein 
Rechteck halten; wahrend fur seine erhitzte Hand die das Dreieck 
tragende und vorher lau erscheinende Tafel sich sofort kfihl an- 
fassen wird. Dennoch hatten wir in den Sinnestauschungen Ver- 
haltnisse kennen gelernt, in denen diese Obereinstimmung versagt 
und die Relativitat und Variability der Wahmehmung raumlicher 
Mafie an die Stelle tritt. Da es sich bei der Raumwahmehmung 
auch nach gemafiigt-realistischer Auffassung um die Wahmehmung 
realer Objekteigenschaften handelt, scheint durch diese Falle die 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 


177 


Erkennbarkeit der Objektseigenschaften zu guterletzt doch noch 
in Frage gestellt und Aenesidems Bedenken, die unsre Trennung 
von Wahmehmungsbestandteilen nicht kennen und gleichmafiig auf 
die Unerkennbarkeit der sekundaren wie der primaren Qualitaten 
(letzteres besonders im 5. Tropus) zielen, scheinen gerechtfcrtigt. 
Aber wer das glaubt, hat bereits vergessen, was vorhin von den 
Wahrnehmungen als solchen und ihrem Verhaltnis zur Erkenntnis 
gesagt wurde und was naturlich von alien Wahmehmungsbestand- 
teilen gleichmafiig gilt. Die Wahmehmung selbst sagt nicht aus, 
dafi der Turm aus der Feme gesehen rund, das Ruder im Wasser 
gebrochen ist, sondem erst die logisch unter philosophischen An- 
nahmen ausgedeutete Wahmehmung. Diese logische Ausdeutung 
ergab: gewisse Bestandteile der Wahmehmung dfirfen als realgfiltige 
angesehen werden, weil diese Annahme zu keinen Widerspriichen 
fuhrt; sie ergab nicht etwa: diese Bestandteile sind notwendig in 
alien Fallen als realgfiltige anzusehen. Wenn also doch einmal 
Widerspriiche zu entstehen scheinen, so mufi entweder die gemafiigt- 
realistische Annahme fallen gelassen oder der Widerspruch unter 
deren eigenen Auspizien gelost werden. Und letzteres gelang voll- 
kommen: Da sich bestimmte Umstande, die nicht in dem zu er- 
kennenden Objekt ihre Quelle hatten, als die notwendigen Ur- 
sachen solcher Wahrnehmungen nachweisen liefien und zwar auf 
Grund der realistischen Meinung fiber die transsubjektive Gfiltig- 
keit von Raum und Zeit, so konnte es nun gar nicht mehr zweifel- 
haft sein, dafi diese veranderten Wahrnehmungen die realen Eigen- 
schaften des Objekts nicht wiedergaben und als „ Sinnestauschungen “ 
aus den objektiven Erkenntnisquellen auszuscheiden hatten. Frei- 
lich war das nicht ohne Anwendung denknotwendiger Satze ge- 
gangen, in diesem Falle der Vemunfterwagung: wenn Andemngen 
in der Wahmehmung eines Objekts sich restlos auf Ursachen zu- 
ruckfuhren lassen, die das wahrgenommene Objekt an sich gar 
nicht betreifen, so vermag die betreifende Wahmehmung die auf 
Grund frfiherer Wahrnehmungen gemachte Erkenntnis von den 
realen Objektseigenschaften nicht zweifelhaft zu machen. So ent- 
geht also der gemafiigte Realismus vollstandig den skeptischen 
Schlingen Aenesidems — allerdings unter einer Voraussetzung: dafi 
man auch die Polemik des Pyrrhonismus gegen die Vemunft- 
erkenntnis fur gescheitert ansieht. Denn nur durch die gemein- 
same Arbeit von Veraunft und Sinnlichkeit glaubt der gemafiigte 
Realist die Objekte an sich, ta vTCoxsifisvcC) erkennen zu konnen. 

Richter, Skeptizamas. 


12 



i 7 8 


Erster Abschnitt. Die griechische Skepsis. 


Es steht und fallt also seine Position mit der Kritik der skeptischen 
Angriffe gegen das logische Erkennen. Das Resultat dieser ab- 
wehrenden Kritik ist hier vorlaufig Postulat. 

III. Der erste Waffengang liegt hinter uns. Der gemafiigte Rea- 
lismus, der zugleich gemafiigter Idealismus ist, hatte den Pyrihonis- 
mus in der Theorie von der sinnlichen Wahmehmung aus dem 
Felde geschlagen; aber es harrt noch ein andrer Kampfer, der 
sich mit dem skeptischen Gegner zu messen willens ist Und das 
durfen wir ihm nicht verbieten. Handelt es sich doch um eines 
der kapitalsten Probleme, die es fur den denkenden Menschen 
gibt: um die Moglichkeit oder Unmoglichkeit objektiver Erkennt- 
nis. An der Losung dieses Problems sind nicht nur die philo- 
sophischen Spezialdisziplinen, die Erkenntnistheorie und die Logik, 
interessiert, sondem auch alle andern Wissenschaften, besonders 
die Naturwissenschaften, die mit dem Anspruch auftreten, objektive 
Erkenntnis zu liefem. Ja, unsre ganze Lebensanschauung, unsre 
AufTassung von Auflenwelt und Innenwelt und deren Beziehungen 
zueinander, damit auch von dem Verhaltnis zwischen Leib und 
Seele und dadurch wieder unser sittliches Handeln, unser religioses 
Hoffen und Verzichten — es ist unter dem theoretischen Gesichts- 
punkt aufs allerengste gebunden an die Beantwortung der Frage 
nach der Moglichkeit objektiver Erkenntnis. Wegen des Emstes 
dieses Problems wurden auch nicht die einzelnen Argumente der 
Skeptiker dialektisch kritisiert, sondem in ihrer Totalitat und in 
ihrem Kem zu erfassen und zu beurteilen gesucht Hier hatte 
sich der gemafiigte Realismus angeboten und nachgewiesen, dafi 
und warum objektive Erkenntnis von seinen eigenen Annahmen 
aus moglich sei. Aber diese Annahmen sind selbst nicht uber 
jeden Zweifel erhaben. Wir uberlassen die Kritik und den Ersatz 
derselben gleich der nachsten erkenntnistheoretischen Grundposition, 
die den Realismus in jeder Form zwar verwirft, darum aber nicht 
etwa auf den Standpunkt des Skeptizismus zuriickkehrt, vielmehr 
ein noch festeres Bollwerk gegen alle Zweifelslehren errichten will, 
als der Idealrealismus. Es ist der extreme Idealismus (Phano- 
menalismus), auf dessen Vertreter wir jetzt horen mussen. 

Im Altertum wurde diese Anschauung bereits von den An- 
hangern der kyrenaischen Philosophic wie durch Nebel er- 
blickt; ihr eigentlicher Begriinder und klassischer Reprasentant aber 
ist der irische Bischof George Berkeley. Unter den Deutschen 
zahlen Fichte und Schopenhauer zu ihrenBekennem; in neuester 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 


*79 


Zeit ist sie unter dem Namen des Positivismus und der Imma- 
nenzphilosophie vor allem bemiiht gewesen, jegliche meta- 
physische Voraussetzung und Folgerung von sich abstreifend, sich 
als Standpunkt der reinen Erfahrung auszuweisen. 49 ) 

Um ja keine Verwirrung aufkommen zu lassen, miissen wir 
auch an den extremen Idealismus das nur dem philosophischen 
Laien pedantisch erscheinende Ansinnen stellen, uber den Ausgangs- 
punkt und die anzuwendenden Wahrheitskriterien vor der Ent- 
wicklung seiner Ansichten genau Rechenschaft zu geben. Die Er- 
kennungszeichen der Wahrheit nun sind fur ihn ganz die 
gleichen wie fur den extremen und den gemafiigten Realisten, ja 
wie trotz aller Verwahrung desselben auch fur den Skeptiker; aus 
dem einfachen Grande, weil es — andre gar nicht gibt. Wahrheit 
wird durch ein Gefiihl erkannt, das mit unsrer geistigen Orga- 
nisation unabtrennbar verknupft ist, das wir weder erzeugen noch 
vemichten konnen, und das sich nur dort einstellt, wo ein Urteil 
sich im Einklang mit Denkgesetzen und Erfahrungstatsachen be- 
findet. Nur das Irrlicht einer Wahrheit an sich, nach deren Er- 
kennungszeichen man suchte, konnte allein iiber diese Einsicht 
tauschen. Seinen Ausgangspunkt aber wahlt der extreme Idealist 
zunachst in einer logischen Stellung, wahrend ihn der gemafiigte 
Realist in einen psychologischen Urzustand verlegte. 50 ) Hatte 
femer der Realist den Kern des psychologischen Befundes logisch 
zu rechtfertigen gesucht, so ist der Idealist beflissen, das Resultat 
seiner logischen Erwagungen auch als urspriinglich gegebenen Be- 
wufitseinszustand zu erweisen; und wenn endlichder Realist sich ge- 
zwungen sah, zahlreiche Berichtigungen an dem psychologischen 
Grundstandpunkt durch logische Schliisse vorzunehmen , so weicht 
der Idealist keinen Finger breit in seinen Ergebnissen von dem 
logischen und psychologischen Ausgangspunkt ab. 

Was ist nun dieser Ausgangspunkt des extremen Idealisten? 
Es ist die Einsicht: dafi uns unmittelbar gegeben sein konnen 
immer nur Vorstellungen, Gefuhle, Willensregungen, kurz etwas 
Ideelles, d.h. Bewufitseinsdata; niemalsaber Dinge, Objekte, Gegen- 
stande an sich, kurz etwas Reales, d. h. unabhangig vom Bewufitsein 
Vorhandenes. Denn unmittelbar erfahren, als Gegebenes vorfinden 
heifit immer: sich bewufit sein. Ein unbewufites Erfahren ist eine 
contradictio in adjecto. Wie aber sollte unser Bewufitsein die 
Mdglichkeit gewinnen, in sich etwas von sich ganz Unabhangiges zu 
bergen? In dem Augenblick, wo etwas in mein Bewufitsein gelangt, 

12 * 



i8o 


Erster Abschnitt Die griechische Skepsis. 


ist es doch in mir, also auch abhangig von mir. Es ist demnach 
unmoglich, nach Ansicht dieser Richtung, in der unmittelbaren 
Erfahnmg uber den Schatten meines Bewufitseins springend zum 
,,An Sich“ eines Dinges zu gelangen. Nehme ich z. B. einen Apfel 
wahr, so bedeutet das als Tatsache der unmittelbaren Erfahrung: 
ich habe jetzt in meinem Bewufitsein die Wahrnehmung „Apfel <4 ? 
d. h. ein Zusammen von Rot-, Grun-, Gelbempfindungen und einer 
bestimmten kugelahnlichen Formvorstellung, eventuell noch einer 
sauer- sufien Geschmack- und einer als glatt bezeichneten Druck- 
empfindung. Dagegen enthalt diese unmittelbare Erfahrung nicht 
ein Ding, das unabhangig von diesen Empfindungen und Figur- 
vorstellungen bestunde als deren Ursache, als ihr ahnliches (oder 
unahnliches) Urbild, oder auch nur als unbekanntes irgendwie in 
ihr verborgenes X. 

Und mit diesem logischen Ergebnis befindet sich der psy- 
chologische Befund im Einklang. Berkeley war es, der mit 
aller Energie darauf hinwies, dafi diese unmittelbaren Erfahrungen 
— nur die sinnlichen Wahmehmungen kommen von ihnen hier in 
Betracht — auch fur das naive Bewufitsein nicht den geringsten 
Hinweis auf etwas an sich Objektives oder Reales enthielten. Wenn 
das populare Bewufitsein andre Aussagen daruber macht, so liegt 
das daran, dafi wir im popularen Bewufitsein schon ein verbildetes 
und jedenfalls nicht das naive Bewufitsein vor uns haben; das 
Bewufitsein der meisten Menschen ist schon durch allerlei halb- 
wissenschaftliche Vorurteile so verdunkelt, dafi die vdllige Un- 
befangenheit einem gegebenen Tatbestand gegenuber kaum zu er- 
zielenist; und wir d sie erzielt, dafi es dann gewissermafien geblendet 
von dem hellen Schein der naiven Anschauungsweise diese als 
verschroben und paradox empfindet. 

Die unmittelbare Erfahrung also ist der Ausgangspunkt des 
extremen Idealisten. Aber die Aussage der unmittelbaren Erfahnmg 
lautet nicht etwa: den sinnlichen Wahmehmungen entspricht nichts 
Reales, sondem nur: die sinnlichen Wahmehmungen enthalten in 
sich kein Reales und weisen auch unmittelbar auf die Existenz 
eines solchen nicht hin. Es wiirde also mit der Annahme eines 
Realen etwa als Objekt der Wahmehmungen nicht schon der Er- 
fahrung widersprochen werden und also bereits durch den Ausgangs- 
punkt der Sieg des extremen Idealismus entschieden sein! Viel- 
mehr fragt es sich nun: fuhrt der extrem-idealistische Standpunkt 
der unmittelbaren Erfahrung in seiner Verallgemeinerung zu Wider- 


Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. iBr 

spruchen logischer oder tatsachlicher Natur, ist er beizubehalten 
oder durch die vemunftige Deutung des unmittelbar Gegebenen zu er- 
ganzen? 61 ) Der extreme Idealist entscheidet sich fur dasBeibehalten; 
denn er glaubt, daft nur diese Anschauung sich im Einklang mit Denk- 
gesetzen und Erfahrung befindet. Und so lautet sein erkenntnis- 
theoretisches Bekenntnis auf diesem Punkt: es existieren nicht 
irgendwelche Dinge, Objekte, Realitaten, Korper, unab- 
hangig von den Vorstellungen derselben in einem Bewuftt- 
sein, und die Dinge, welche die Sinneswahrnehmungen 
auffassen, gehen vollstandig in den subjektiven und 
idealen Bestandteilen auf, aus denen sie sich zusammen- 
setzen. 5 *) An diesem Satz festzuhalten bestimmen ihn vor 
allem folgende Erwagungen: es erscheint unmdglich, ein Sein 
anders als wie ein Vorgestelltwerden zu denken. Denn versucht 
man es, so stellt man es ja eben als ein nicht Vorgestelltes vor, 
stellt es also vor, und erkennt daran die notwendigen Schranken, 
die durch das Bewufttsein jedem Sein gezogen werden. Als ein 
ahnliches Abhangigkeitsverhaltnis entpuppt sich das vom Objekt 
zum Subjekt Kein Objekt ohne Subjekt gilt dem extremen 
Idealist en als eine ebenso denknotwendige These wie: kein Sein 
ohne Bewufttsein. Will man aber diese Denknotwendigkeiten als 
solche nicht gelten lassen, so ist jedenfalls die Annahme: daft 
reale Dingeigenschaften „erkannt“ wiirden in der Weise, daft das 
Bewufitseinunabhangige irgendwie den Bewufttseinsinhalt erzeuge, 
wegen der ganzlichen Heterogenitat beider Glieder ein widerspruch- 
voller, ja absurder Gedanke. Kann aber grundsatzlich nichts aus 
dem Reich der Realitat in das der Idealitat gelangen, so bliebe 
fur den an die Grenzen seines Bewufttseins gebundenen Menschen- 
geist das Reich des Realen, falls es bestiinde, eine terra incognita, 
und gar zur Erklarung von Bewufitseinsvorgangen dieses Reich 
heranzuziehen, ware ein vergebliches Bemiihen. 

Nun erfordert aber die Gewissenhaftigkeit, daft dieses Be- 
kenntnis vor allem den Hauptgrunden gegeniiber, die den ge- 
mafiigten Realisten zu den entgegengesetzten Anschauungen bewogen, 
sich rechtfertigt Da ist zunachst das unleugbare Passivitats- 
geflihl zu erwahnen, das die sinnlichen Wahrnehmungen als etwas 
Aufgenotigtes und nicht als etwas Selbsterzeugtes kennzeichnet, und 
das auch der Idealist bereitwillig anerkennt. Aber wahrend der 
Realist daraus schlofi, die gegebenen Empfindungen miissen, da 
sie nicht aus dem Subjekt stammen , von unabhangig vom Subjekt 


1 82 Erster Abscfanitt. Die griechische Skepsis. 

bestehenden Objekten stammen , leugnet der Idealist die Kon- 
klusivitat dieses Schlusses und stellt ihm den andem entgegen: 
zugestanden, daft die Empfindungen „ gegeben" sind, so mussen 
sie auch von irgendwo und irgendetwas gegeben sein; da sie aber 
in der reinen Erfahrung nur als ideelle und subjektive Grofien 
erscheinen, so liegt dieVermutung naher, daft sie auch von etwas 
Ideellem und Subjektivem verursacht werden. Denn eine vollige 
Ungleichartigkeit zwischen Ursache und Wirkung anzunehmen, ist 
logisch nicht angangig. Auch den realistischen Beweis aus der 
Korrespondenz in den Aussagen verschiedener Subjekte 
iiber den gleichen Gegenstand wird sein Gegner nicht gelten lassen. 
Entweder er erkennt andre Subjekte neben dem eigenen Ich uber- 
haupt nicht an und erklart als konsequenter Solipsist alles nur 
fur seinen eigenen Bewufitseinsinhalt; dann gibt es keine Korre- 
spondenz verschiedener Subjekte iiber den gleichen Gegenstand 
(weil es iiberhaupt nicht verschiedene Subjekte gibt); oder aber 
er nimmt durch einen Analogieschlufi vom Dasein andrer Leibes- 
erscheinungen auf die Existenz dazugehdriger Subjekte das Dasein 
verschiedener Bewufitseinstrager an (was ihm seinen Voraussetzungen 
nach nicht verwehrt werden kann) und dann versucht er folgende 
Erklarung des Vorgangs: Die Tatsache, daft mehrere Personen in 
ihren Wahrnehmungen iiber den gleichen Gegenstand (denken wir 
an die friiheren Beispiele: Eisberge im Polarmeer, Tone einer Oper) 
ubereinstimmen, besteht. Der Realist hatte sie durch das Dasein 
unabhangig von den wahmehmenden Subjekten existierender be- 
harrlicher materieller Dinge (Atomkomplexe und deren Er- 
regungen) erklart, die nach bestimmten Gesetzen in dem gleich 
veranlagten Bewufttsein der verschiedensten Subjekte die gleichen 
Wahrnehmungen erzeugen. Solange also die namlichen Atom- 
schwingungen an sich im Eismeer und im Opemhause sich befinden, 
wird jeder, der sich dorthin begibt, notwendig die gleichen Berge 
sehen, die gleichen Tone horen. Diese Erklarung ersetzt der 
Idealist durch eine andre. Unmittelbar gegeben ist nur: die durch 
die Aussagen verschiedener Subjekte versicherte Gleichheit (oder 
Ahnlichkeit) der Wahrnehmungen unter ganz bestimmten Umstanden, 
d. h. im Anschlufi an ganz bestimmte andre Wahrnehmungen. Bis 
folgen also in den verschiedenen Menschen die sinnlichen Wahr- 
nehmungen nach den gleichen Gesetzen aufeinander. Fur den 
extremen Idealisten also sieht jeder Mensch die gleichen Eisberge 
im Polarmeer, hort die gleichen Tone in einer Oper, weil die Ver- 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 1 83 

kettung der sinnlichen Wahmehmungen fur jedes Bewufitsein unter 
genau gleichen Urastanden die gleiche ist; also etwa weil der 
Gesichtswahmehmung einer gestrichenen G-Saite auf der Violine 
auch stets — ceteris paribus — die Gehdrwahmehmung des Tones 
G (in einer ganz bestimmten Klangfarbe), mit der Wahmehmung 
des Polarmeers auch diejenige der Eisberge unter bestimmten Be- 
dingungen verbunden ist. Wollte man entgegnen, oft sahe man 
(z. B. bei verdecktem Orchester) die Tatigkeit des Violinisten gar 
nicht und die Gleichheit in den Wahmehmungen bestehe doch, 
bleibe also unerklart, so macht man eine Einwendung, die zwar 
naheliegt und verblufft, auch die wundeste Stelle dieser Auffassungs- 
weise trifft, aber nicht unbedingt Stich halt. Denn die gesetz- 
mafiige Verbindung zwischen zwei Wahmehmungen ist nur dann 
auch eine notwendige Folge derselben, wenn nicht andre, gesetz- 
mafiig verbundene Wahmehmungen die erste Verbindung kreuzen, 
d. h. wenn die erste Verbindung allein und gewissermafien kon- 
kurrenzlos ins Bewufitsein fallt. Richte ich es so ein, wasjaleicht 
moglich ist, dafi nur die gestrichene G-Saite in meinem Bewufit- 
sein sich befindet, und dafi alle andem Sinne bis auf das Gehor 
teils durch Anstrengung der Apperzeption auf den einen optischen 
Reiz, teils durch Abhaltung andrer Reize ausgeschaltet sind — so 
hat jedes gesunde Bewufitsein die Tonvorstellung: G. Sowie aber 
eine Pappwand zwischen mir und der Violine aufgefuhrt wird, 
d. h. in idealistischer Terminologie die Gesichtswahmehmung einer 
grauen Flache mein optisches Bewufitsein erfiillt, so hore ich den 
Ton G immer noch, aber sehe die Saite nicht mehr. Eine neue 
Wahmehmungsverbindung ist in Konkurrenz mit der ersten ge- 
treten, die ebenso notwendig und gesetzmafiig wie diese fur alle 
Menschen gilt; namlich die Unsichtbarkeit des hinter der Schall- 
wand befindlichen Raumes, also auch das Verschwinden des Violin- 
bildes ist notwendig mit dem Auftauchen der undurchsichtigen 
Wand verbunden. Beide Wahrnehmungszusammenhange: Vor- 
stellung der gestrichenen Saite — Tonvorstellung G, Vorstellung 
der grauen Flache — Verschwinden der Vorstellung der Saite, be- 
stehen fur alle Menschen unter den angegebenen Bedingungen. 
Ja,auch die dritteWahrnehmungskombination: Vorstellung 
der grauen Flache — Tonvorstellung G ist die notwendige 
Resultante der beiden sich kreuzenden erstgenannten Wahrnehmungs- 
zusammenhange. Denn die Erfahmng hat mich gelehrt: dafi Violin- 
ton G nicht nur dann stets wahrgenommen wird, wenn zugleich 



184 


Enter AbschnitL Die griechische Skepsis. 


die schwingende Violinsaite, resp. die durch sie erzeugte Luft- 
welle wahrgenommen wird, sondem auch dann, wenn diese 
Schwingung wahrgenommen werden kann, oder — wie Stuart 
Mill sagte — als permanent possibility of sensation existiert 
Diese permanente Wahmehmungsmdglichkeit ist gesetzmafiig mit 
der Wahmehmung des Tones so verbunden: dafi, wo diese Mog- 
lichkeit besteht, unter bestimmten Bedingungen (bei bestimmter 
Entfemung und Stellung der Sinnesorgane) der Ton G tfahrge- 
nommen wird, und wo der Ton G wahrgenommen wird, dafi dort 
diese Mdglichkeit unter bestimmten Bedingungen besteht. Da nun 
diese Wahrnehmungsmoglichkeit in obigem Beispiel besteht und 
die Bedingungen zutreffen, so mufi ich den Ton G horen; und 
da andrerseits die Pappwand die Wahrnehmungswirklichkeit ver- 
hindert, selbst aber wieder in strenger Gesetzmafiigkeit im Bewufit- 
sein aufgetaucht ist (namlich in Verbindung mit andern Wahr- 
nehmungen oder Wahmehmungsmdglichkeiten), so mufi ich und 
jeder, von dem ich die gleichen Verkettungsgesetze fur seine Vor- 
stellungen annehme, notwendig die Wahrnehmungen: Pappwand 
und Ton G jetzt im Bewufitsein haben. Auf diese Weise sucht 
der extreme Idealismus auch die scheinbar bunteste, kompli- 
zierteste und regelloseste Sukzession oder Simultaneitat der Be- 
wufitseinsinhalte, die jede Stunde des Lebens uns bietet, in ge- 
setzmafiige Beziehungen 53 ) aufzulosen, die nur zwischen den 
Wahrnehmungen selbst (nicht zwischen bewufitseintranszendenten 
Dingen oder zwischen diesen und dem Bewufitsein) bestehen, und 
die fur alle Menschen giiltig angenommen werden. Und nicht nur 
die gemeinsamen Wahrnehmungen, wenn etwa zwei Menschen, 
zugleich aus dem Fenster sehend, das Bild eines voruberfahrenden 
Automobils und eines herunterfallenden Ziegels im Bewufitsein 
haben, sollen sich durch diese Gesetzmafiigkeit erklaren, sondem 
auch die Divergenzen in den Wahrnehmungen. Wie die Subjekte 
A und B in ihrer Stellung notwendig die Wahrnehmungen des 
Automobils und des Ziegels machen mufiten, weil die gleichen 
Wahmehmungsmdglichkeiten fur beide bestanden (Mdglichkeit der 
Wahrnehmungskomplexe: Geschwindigkeit des Automobils imAugen- 
blicke vorher auf der angrenzenden Strecke — Herunterrollen des 
Ziegels auf dem glatten und schragen Dache); so konnte Subjekt 
C, das im gleichen Augenblicke dem Fenster den Rucken kehrte, 
Automobil und Ziegel unmoglich sehen, mufite dagegen notwendig 
den Eintritt von Freund X in das Zimmer wahrnehmen. Obwohl 



Drittes KapiteL Die Kritik der griechischen Skepsis. 1 85 

namlich auch fur C die gleichen Wahrnehmungsmoglichkeiten wie 
fur B und A bestanden, so lehrt doch die Erfahrung, daB nur 
unter bestimmten hier nicht erfullten Bedingungen, namlich bei 
einer bestimmten Stellung unsrer Sinnesorgane, auf die genannten 
moglichen Wahrnehmungen auch die wirklichen des voriiberfahrenden 
Automobils und herunterfallenden Ziegels folgen; andrerseits mufite 
C den Eintritt des Freundes wahmehmen (wie jeder an seiner 
Stelle), da die Wahmehmungsmoglichkeit der Schrittrichtung von 
X und der aus den Korperbewegungen ablesbaren Willensent- 
schlusse bestand, mit welcher Moglichkeit notwendig, wieder unter 
bestimmten jetzt aber erfullten Bedingungen (Stellung mit der Front 
zur Tut) die Wahmehmung des Freundes verbunden ist So ist 
in jedem Augenblick zwar nur eine bestimmte Gruppe von Wahr- 
nehmungen in jedem BewuBtsein moglich, ja notwendig; aber diese 
Notwendigkeit beruht nicht immer auf der notwendigen Verbindung 
der augenblicklich gegenwartigen oder auch aufeinander folgenden 
Bewufitseinsdata selbst (graue Flache — Ton G); vielmehr ist diese 
Verbindung oft das Resultat oder (besser und vorsichtiger) der Aus- 
druck fur eine gesetzmaBige Verbindung derwahrgenommenen Glieder 
mit nicht wahrgenommenen , aber wahrnehmbaren Gliedem (Auf- 
richten der Pappwand — Violinsaitenschwingungen). Die grofiere 
und ganz andersartige Enge der einen Verbindung ersieht man 
daraus, daB uberall, wo der Ton G wahrgenommen wird, auch 
der Schwingungserreger unter Wegraumung aller kreuzenden Wahr- 
nehmungsreihen wahrgenommen werden kann, also alseineWahr- 
nehmungsmoglichkeit immer existiert, wahrend durchaus nicht bei 
der Wahmehmung der Schallwand trotz eifrigen Suchens nach 
geeigneten Bedingungen immer auf das Tonbild: G gestofien zu 
werden braucht. 

So erklart sich fur den Idealisten die Gleichheit in unsem 
Wahrnehmungen nicht wie fur den Realisten durch Beziehung auf 
ein beharrliches, identisches Objekt, sondem durch die regelmaBige 
Verbindung, in der bestimmte Wahrnehmungen immer auftreten; 
und aus der Kreuzung dieser Wahrnehmungsketten, die sich aus 
aktuellen und potentiellen Gliedern zusammensetzen, folgt, daB in 
jedem Augenblick gleichfalls nur eine einzige bestimmte Wahr- 
nehmungsgmppe moglich ist. Von einem fortwahrenden Eingreifen 
einer mystischen Kraft in den Vorstellungsmechanismus des Ein- 
zelnen , um deren Wahrnehmungen untereinander konform zu machen, 
braucht also hier nicht die Rede zu sein. Die Wahrnehmungen 



Enter Abschnitt. Die griechiscbe Skepsu. 


186 

werden in empirisch erkennbarer gesetzmafiiger Abfolge alien Sub- 
jekten „gegeben“. Diese Gesetzmafiigkeit ist zwar nicht aus der 
Folge und dem Zugleichsein in dem an sich diskontinuierlichen , ab- 
gerissenen, zerfetzten , durchlocherten und regellosen Wahmeh- 
mungschaos direkt abzulesen, wohl aber ist sie durch die empirische 
Beobachtung der bestandigen Zusammenhange erkennbar; und 
sie hat nichts Ratselhafteres an sich, als wenn beharrliche Objekte 
mit der gleichen Gesetzmafiigkeit auf die verschiedenen Bewufit- 
seinstrager wirken. 

Mit jeder Hypothese liber das War um dieser Gesetzmafiigkeit 
bcgibt man sich in das Reich der Metaphysik; d. h. des grund- 
satzlich Unerfahrbaren. Denn dieSinneswahmehmungen, wenigstens 
deren Empfindungsbestandteile, sind letzte Elemente unsres Be- 
wufitseins und auf andre Bewufitseinselemente nicht mehr zuruck- 
fiihrbar. Was aber nicht ins Bewufitsein dringt, ist nicht erfahrbar. 
Woher also die letzten Elemente der Erfahrung, die Empfindungen 
stammen, konnte erfahrungsmafiig immer nur durch andre 
Sinneswahmehmungen , d. h. also iiberhaupt nicht ausgemacht werden. 
Will man sich aber hypothetisch ins Jenseits der Erfahrung wagen, 
so miifite man annehmen: dasjenige X, was die Sinneswahmeh- 
mungen bewirkt, und was wir als psychische Kraft in irgend einer 
Form, nicht aber als bewufitseinunabhangiges, wenn auch viel- 
leicht von unserm Bewufitsein unabhangiges Reales, oder gar 
Materielles zu verstehen haben, wirkt in gleicher Weise auf alle 
(Berkeley) oder in alien (Immanenzphilosophie) wahmehmenden 
Subjekten. Die beharrlichen Atomkomplexe des Realisten sind 
genau solche, stets unerfahrbaren Gedankendinge, wie die geistigen 
Ursachen des Idealisten, also — metaphysische Wesenheiten; sie 
sind das realistische Y zu jenem idealistischen X. Sie machen auch 
das Wunder in der Gleichheit der Wahmehmungen verschiedener 
Subjekte um nichts einleuchtender; denn ihre Dinge an sich sind 
den wahrgenommenen Dingen kaum ahnlicher als das psychische 
X des Idealisten es den wahrgenommenen Dingen ist M ) Und wenn 
einige der an sich realen Bestandteile (raumlich-zeitliche Quali- 
taten) im Bewufitsein sich adaequat wiederholen, so ist dafur die 
Kluft, welche durch die geforderte gesetzliche Beziehung von raumlich- 
korperlichem Ding zu korperlos-raumloser Wahraehmung zwischen 
Ding und Wahmehmung erzeugt wird, nur eine um so klaffendere. 

Ebensowenig sieht sich der extreme Idealist bei der An- 
wendung seiner Wahrheitskriterien, die er mit dem Realisten teilt, 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 


187 


durch das verschiedene Verhalten einzelner Dingeigenschaften zur 
Korrektur an seinem bisherigen Grundstandpunkt gezwungen. Den 
Unterschied zwischen den primaren und sekundaren Quali- 
taten mag er anerkennen oder nicht, immer fiele dieser Unter- 
schied ihm nur in die Welt des Bewufitseins hinein, fiihrte zur 
Aufstellung zweier Klassen rein ideeller Wahmehmungsbestandteile, 
nicht zur Spaltung wahrgenommener Eigenschaften in an sich- 
real giiltige und fur mich -ideal giiltige Elemente. Zunachst be- 
griifit er alle Beweise, die der gemaftigte Realismus fur die blofie 
Subjektivitat und Idealitat der sekundaren Eigenschaften bei- 
gebracht hatte, freudig als seine eigenen, und die Transponierung 
dieser Beweise in die eigene Terminologie tut dabei nichts zur 
Sache. Aber die Realitat der primaren Qualitaten, der mathe- 
matisch - physikalischen Eigenschaften erkennt er nicht an. Die 
Grunde, welche der Realist dafur geltend gemacht hatte, kommen 
zum groflten Teil fur ihn gar nicht in Betracht; denn sie ruhten 
auf der Erwagung: laut Voraussetzung alle Wahrnehmungsbestand- 
teile dem realen Ding solange zu belassen, als die Annahme dieser 
Realitat nicht zu Widerspriichen mit den logischcn Denkgesetzen oder 
der Erfahrung fiihrt. Da nun solche Widerspriiche bei den pri- 
maren Qualitaten sich nicht einstellten, gait deren Realitat fur ge- 
sichert (vgl. S. i66f.). Der Idealist aber hatte am entgegengesetzten 
Ende seinen Ausgangspunkt genommen, namlich von der Vor- 
aussetzung: alle Wahmehmungsbestandteile solange rein subjektiv 
sein zu lassen, bis* der Widerspruch mit Logik oder Erfahmng 
zum Aufgeben dieser Annahme zwang. Kein Wunder also, dafi 
ihn die Beweise des Gegners nicht iiberzeugen, und daB Realisten 
wie Idealisten — wenn sie den Ausgangspunkt des andern nicht 
im Auge behalten — so oft aneinander vorbeireden und einander 
mifiverstehen! Im iibrigen verschlagen die positiven Unterschiede 
zwischen unsem einzelnen Wahmehmungselementen, die zugunsten 
der Realitatstheorie angefuhrt wurden, fur den Idealisten nichts. 
Sind namlich Raum und Zeit wirklich generell-konstante, alle 
Wahmehmungen begleitende Bestandteile, wahrend Ton, Tem- 
peratur, und andre Empfindungen das nicht sind — was ware da- 
mit fur ihre Realitat bewiesen? Gar nichts. Ein in gewissen Be- 
wu&tseinsvorgangen konstantes Element wird doch dadurch nicht 
zum An Sich -BewuCtlos- Realen verdoppelt, dafi es — konstant 
ist! Ideell- konstant = An Sich -Real ist eine Gleichung, die ohne 
den realistischen Ausgangspunkt vollstandig in der Luft schwebt. 



i88 


Enter Abschnitt. Die griechische Skepsis. 


Und triumphierend pflegen die Idealisten dabei auf die Farbe zu 
verweisen, die so konstant alle raumlichen Vorstellungen begleite, 
wie diese ihrerseits alle Dingwahrnehmungen; und doch werde sie 
von den Ideal -Realisten als blofi subjektiv angesprochen. Auch 
wenn zu dieser generell-existentialen Konstanz die spezifisch- quali- 
tative Gleichartigkeit in der AufTassungsweise der einzelnen Sub- 
jekte kommt, d. h. wenn die raumlich-zeitlichen Eigenschaften an 
alien Wahmehmungen von alien gesunden Individuen gleich auf- 
gefafit werden, so wachst auch dadurch fur den Idealisten der 
Realitat dieser Bestandteile kein Bruchteil von Wahrscheinlichkeit 
zu. Denn wie sich vorhin die Wahrnehmungsbestandteile in kon- 
stante und variable trennten, so spezifiziert sich diese Trennung 
nunmehr dahin, dafi die konstanten Elemente in der Regel gleich- 
artig empfundene, die variablen oft ungleichartig empfundene sind. 

Aber selbst vor dem gewaltigsten Bundesgenossen des Rea- 
lismus, vor der Armee der naturwissenschaftlichen Einzel- 
disziplinen ist der extreme Idealist zu kapitulieren nicht gewillt 
Wir hatten gesehen, dafi tatsachlich die Naturwissenschaften seit 
der Renaissance bis auf den heutigen Tag, von Galilei bis Helm- 
holtz, mit der Hypothese des gemafiigten Realismus gearbeitet 
und an seiner Hand ihr grofies, immer hoher wachsendes Gebaude 
errichtet haben. Die widerspruchlose Vereinigung unzahliger sinn- 
licher Wahmehmungen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft 
(man denke an die astronomischen Berechnungen) ist ihr Werk> 
und die erkenntnistheoretische Grundposition, von der aus das 
Werk untemommen wurde, scheint durch das Gelingen desselben 
fast unverletzbar erhartet. Denn die Ergebnisse der naturwissen- 
schaftlichen Arbeit von Jahrhunderten stehen ja nicht etwa als 
glanzende Prunkstiicke abseits von ihren erkenntnistheoretischen 
Voraussetzungen, sondem sie bedeuten die dauemde Anwendung, 
d. h. die dauemde Bestatigung derselben. Dennoch glaubt der 
extreme Idealist, sich ihnen nicht ffigen zu brauchen. Und zwar 
aus triftigen Griinden. Drei wesentliche Beweisketten darf er hier 
namhaft machen: 

i. Es ist ein blofies Mifiverstandnis, dafi die natur- 
wissenschaftlichen Ergebnisse, deren gewaltigeBedeutung 
fur den Wahrheitsgehalt ihrer Voraussetzungen kein be- 
sonnener Idealist bestreiten wird, auf der Basis des 
gemafiigten Realismus gewonnen worden sind. — Mogen 
die Gelehrten dieser Disziplin, soweit sie uberhaupt fiber die 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 189 

methodologischen Prinzipien ihrer Untersuchungen Reflexionen an- 
stellten, sich auch grofiten Teils zum Realismus bekannt haben, 
die Annahmen, zu denen sic sich naturwissenschaftlich gezwungen 
sahen und mit denen sie dann weiter arbeiteten, haben sie in 
falschlicher Auslegung von deren erkenntnistheoretischem Wert 
terminologisch ganz unrichtig bezeichnet Denn was sie ihrer Fach- 
arbeit uber die Deutung der Sinneswahrnehmungen zugrunde legten, 
sind etwa folgende Annahmen: a) Unter unsera Vorstellungen gibt 
es zwei Gruppen: unmittelbare und mittelbare, wirkliche 55 ) Dinge 
bezeichnende und blofie Phantasievorstellungen. Nur mit den er- 
steren beschaftigt sich die Naturwissenschaft. b) An diesen eigent- 
lichen oder unmittelbaren Sinneswahrnehmungen sind konstante 
und variable Elemente zu unterscheiden ; allgemeingultige und 
individuell schwankende. Die ersteren mathematisch zu berechnen, 
die zweiten exakt zu beobachten und ihre Beziehungen zu den 
ersteren darzutun, ist Aufgabe der Naturwissenschaft. c) Alle 
Sinneswahrnehmungen 1. Ordnung treten in gesetzmafiigen Ver- 
bindungen auf. Die Erforschung dieser Verbindungen ist Sache 
der Naturwissenschaft. — Indem nun der Naturwissenschaftler mehr 
einem popularen Vorurteil als streng logischen Erwagungen nach- 
gebend, aus dem Unterschied zwischen Phantasie- und Wirklich- 
keitsvorstellungen: den Unterschied zwischen der Vorstellung ab- 
hangig von einem Bewufitsein bestehender und unabhangig von 
einem Bewufitsein bestehender Dinge macht; aus dem Unterschied 
allgemeingultiger und individuellgultiger Elemente an den Wirklich- 
keitsvorstellungen: den Unterschied realer - bewufitseinunabhangiger 
und idealer - bewufitseinabhangiger Elemente; aus den gesetz- 
mafiigen Verbindungen zwischen denWahrnehmungen: gesetzmafiige 
Verbindungen zwischen den bewufitseinunabhangigen Elementen , so 
glaubt er durch diese fur seine Wissenschaft ganz uberfliissige Trans- 
position in eine bestimmte erkenntnistheoretische Tonart, auf dem 
Boden des gemafiigten Realismus bei seinen Untersuchungen zu stehen. 

2. Diewirklich derNaturwissenschaft unentbehrlichen 
Voraussetzungen aber sind auf dem Boden des Idealismus 
genau so gut moglich wie auf dem Boden des Realismus. 
Eine extrem - idealistische Naturwissenschaft ist also genau so gut 
denkbar, wie eine gemafiigt - realistische denkbar, und eine extrem - 
realistische undenkbar ist. 

Auch der extreme Idealist erkennt namlich a) den Unter- 
schied zwischen Wahmehmungen der Phantasie und der Wirk- 



190 Erster Abschnitt. Die griechische Skepsis. 

lichkeit vollkommen an. Nur fallen ihre Unterschiede in den 
Rahmen der einzig fur ihn existierenden, namlich der Bewufitseins- 
welt hinein. Es heben sich ganz deutlich und fur jeden unmittel- 
bar erkennbar unter unsern Vorstellungen zwei Gruppen gegen- 
einander ab. Die eine macht sich meist durch grofiere Intensitat 
ihrer Bestandteile und durch jenes sofort erkennbare Passivitats- 
gefiihl bemerkbar, das ihre Elemente als vom Willen unabhangige, 
als „gegebene‘ c charakterisiert; die andre ist matter,' weniger lebendig 
und nicht von jenem Passivitatsgefiihl des Gegebenseins, oft viel- 
mehr von dem Aktivit&tsgefuhl des Selbsterzeugens begleitet Man 
braucht nur an das klassische Beispiel des bei Tage gesehenen 
und des bei Nacht in der Erinnerung, der Phantasie oder dem 
Traume reproduzierten Sonnenbildes zu gemahnen, um hier so- 
fort verstanden zu werden. Auch dem Idealisten nun ist diese 
Trennung von Wirklichkeits- und Phantasievorstellungen gelaufig; 
er glaubt auch durchaus das bei Tage gesehene Sonnenbild als 
wirkliches bezeichnen zu durfen; denn es enthalt in dem Gegeben- 
sein einen unleugbaren Hinweis auf eine wirkende, von seinem Be- 
wufitsein unabhangige (darum aber nicht etwa von jedem Bewufit- 
sein unabhangige) Quelle, mit deren Ergriindung sich die Meta- 
physik befafit. Darum wehrt sich der Idealist durchaus gegen den 
Vorwurf: er mache die Welt der Wirklichkeit zum blofien Phan- 
tasma, zur Illusion, zur Seifenblase. Und ebenfalls ist ihm das bei 
Nacht gesehene Sonnenbild unwirklich, weil es keinen solchen Hin- 
weis enthalt. Allerdings kann es unter Umstanden schwierig sein, 
durch rein interne Merkmale auf diese Weise Wirklichkeit und Un- 
wirklichkeit zu scheiden, z. B. da, wo bei lebhafter Phantasie oder 
gar krankhaften Halluzinationen und Illusionen die Intensitatsunter- 
schiede wegfallen, oder wo, wie beim jahen Erwachen aus dem 
Traum , auch die Passivitatsgefiihle als Erkennungszeichen versagen 
und die letzten Traumvorstellungen uns mehr aufgedruckt er- 
scheinen als die Bilder der in unserm Zimmer befindlichen Dinge. 
Aber auch der Realist besitzt zunachst keine andem Kriterien der 
Wirklichkeit, wie er dieselbe versteht, als solche subjektiven Mo- 
mente; nur wo diesen nicht zu trauen ist, greift er zu dem Hilfs- 
mittel der gesetzmaBigen Beziehungen zwischen den Wahmehmungen. 
Ist es ihm z. B. zweifelhaft, ob das beim Erwachen durchs Fenstcr 
erblickte Eis am gegeniiberliegenden Dache wirkliches oder ge- 
traumtes war, so sieht er nach, ob das Thermometer aufien am 
Fenster iiber oder unter o° R. zeigt. Aber diese Priifung an der 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 1 9 1 

Gesetzmafiigkeit der Wahmehmungen ist genau so gut dem Idea- 
listen zuganglich (cf. y), und es tut gar nichts zur Sache, ob an 
diesen Wahmehmungen gewisse Bestandteile iiberdies noch als 
bewufitseinunabhangige angesehen werden oder nicht. — Ein 
wirkliches Ding (Korper) ist nun fur den Idealisten der Komplex 
erfahrungsmafiig zusammen vorkommender, als Wirklichkeitswahr- 
nehmung charakterisierter Empfindungen, also eine wirklich existie- 
rende Kirsche: das gleichzeitige Zusammen unmittelbar empfun- 
dener Glatte, Rote, Saure, Rundheit. Nun konnte man sagen: 
dann ist ein Ding aber etwas sehr Vages, Wechselndes, Un- 
bestimmtes und eigentlich nur in falscher Aneignung des Wortes 
,Ding‘ so zu benennen. Denn wie flieficnd sind hier die Grenzen 
in unsern Wahmehmungen, wie selten und eigentlich niemals 
kommen die ganz gleichen Empfindungen nach Art und Zahl zu- 
sammen im Bewufitsein vor! Soil dem Ding Kirsche das helle 
oder dunkle Rot, ein schwacher oder starker Sauregrad, der An- 
satz des Stils usw. zugesprochen werden? Aber dieser Einwand 
trifft wieder Idealismus und Realismus ganz gleichartig und besagt 
nur, daB eine wissenschaftliche Bearbeitung des Ding- 
begriffs in jedem Einzelfall erforderlich ist, um die wirklichen 
Dinge als festumgrenzte Existenzarten gegen Schwankungen und 
Zerfliefien sicher zu stellen. Denn fur den Realisten ist das wirk- 
liche Ding Kirsche, das einer bestimmten gesehenen Kirsche ent- 
spricht, auch etwas ganzlich FlieGendcs , rasch Vergangliches, nam- 
lich der materielle Atomkomplex, der alle die gerade in diesem 
Fall zur Wahrnehmung der Kirsche gerechneten Empfindungen er- 
zeugte ; wissenschaftlich dagegen wiirde er unter dem Ding Kirsche 
eine viel allgemeinere Atomverbindung verstehen, frei von all den 
zufalligen quantitativen und Lagerungsverhaltnissen, welche die in 
einem bestimmten Augenblick gesehene Kirsche bedingten; nam- 
Jich nur diejenige, welche die botanischen Merkzeichen der Kirsche 
ausmachen. Eine solche Trennung zwischen den popularen und 
den wissenschaftlichen Dingbegriffen , von denen die einen va- 
riable, die andern konstante GroCen (wenn auch nicht Reali- 
taten) bezeichnen, ist wiederum innerhalb des Idealismus durch- 
aus moglich. Man setze nur an Stelle der Atomkomplexe wieder 
Empfindungskomplexe , verstehe unter den popularen Dingen die 
jeweilig oder oft zusammenbestehenden, unter wissenschaftlich be- 
arbeiteten Dingen nur die unter den angegebenen Umstanden zu- 
sammenbestehenden Empfindungen oder Empfindungsmoglichkeiten,. 


192 


Enter Abschnitt. Die griechische Skepsis. 


und man hat alien Anforderungen beider Arten des Dingbegriffs 
vollkommen Genuge getan. 66 ) 

/3) Noch viel leichter wird es diesem erkenntnistheoretischen 
Standpunkt, mit dem Unterschied, den die Naturwissenschaft zwischen 
sekundaren und primaren Qualitaten der Wahmehmung macht und 
den sie ihrer Arbeit zugrunde legt, sich abzufinden. Denn warum 
sollte er nicht gattungsmafiige und individuelle Bestandteile an 
unscm Wahmehmungen anerkennen? Warum nicht willig zugeben, 
nur die ersteren seien mathematischer und allgemeingultiger Be* 
handlung fahig, die Sinnesempfindungen im engeren Sinne dagegen 
weder mefibar, noch bei alien Menschen streng gleichartig? Warum 
nicht auch dem zustimmen, dafi ganz bestimmte Beziehungen zwischen 
diesen qualitativ verschiedenen und den konstanten Wahrnehmungs- 
elementen, zwischen Reiz und Empfindung (in realistischer Rede- 
weise) bestiinden? Und die Aufgaben, die sich aus alledem fur die 
Naturwissenschaft ergeben, waren dann auch die ganz gleichen wie 
die unter b) aufgefuhrten. Ja, sowenig besteht fur den Idealisten 
ein Grund, die Arbeit der Naturwissenschaft hier zu beschranken 
oder abzuandem, dafi er vielmehr — wenn er dem Lager des 
Kantischen Idealismus sich zuschlagt — derselben durch ein rein 
idealistisches Moment die gewichtigste Stutze verleiht. Stammen 
namlich die primaren Bestandteile (wir wollen diesen Terminus bei- 
behalten, um die Streitfrage, wieviel solcher primaren Elemente es 
gibt, nicht anzuschneiden) aus dem Gattungsbewufitsein , d. h. sind 
sie die Formen, die Glaser, besser die Funktionen, die alle Menschen 
in ganz gleicher Weise beim sinnlichen Wahmehmen anwenden, 
mit denen sie den Empfindungsstoff einfangen, so sind sie selbst- 
verstandlich uberall und fur alle gultig ; und die strenge Gesetz- 
mafiigkeit in diesen Bestandteilen , und damit die exakten Ergeb- 
nisse der mathematischen Naturwissenschaft sind erklart, ja mehr 
noch — fur alle Zukunft sicher gestellt. 

y) Aber niemals konnte die Naturwissenschaft allein aus der 
mathematischen Behandlung des Raumes und der Zeit, der Beob- 
achtung der einzelnen Empfindungen, der Feststellung der Reladonen 
zwischen beiden Wahmehmungsbestandteilen irgend welche Gesetze 
entdecken, welche die Dinge in der Natur betreffen. Dazu bedarf 
es noch der Ermittelung von Beziehungen zwischen den Wahr- 
nehmungen. Habe ich noch so genau an einem wahrgenommenen 
Gegenstand — z. B. einer aufgehangten Kugel — die raumlich- 
zeitlichen Verhaltnisse festgestellt, ja die ganze Geometrie, Stereo- 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 193 

metrie und Arithmetik in ihren Grundzugen daraus hergeleitet (was 
nach den Annahmen des a prioristischen Idealisten moglich ware), 
auch die Anderungen der Farben- und Helligkeitsempiindungen 
mit den Raumverhaltnissen (z. B. Schatten- und Lichtpartien an 
der Kugel) erforscht, so wtifite ich immer noch nicht, dafi die 
Kugel, wenn ich den Faden durchschneide, mit der Beschleunigung 
g zur Erde fallen wfirde. Wohl aber weifi ich dies, wenn ich mit 
Ausschaltung kreuzender Wahrnehmungsreihen, d. h. unter den will- 
kfirlichen Bedingungen des Experiments dieWahmehmungen: Fallen- 
der K6rper — bestimmte Stellung des Zeigers auf der Uhr — be- 
stimmte Lange der Fallstrecke stets miteinander verbunden im Be- 
wufitsein gehabt habe. Die Fallgesetze sind also auf idealistischem 
Boden genau so gut erklarbar wie auf realistischem; sie bedeuten 
einfach: dafi bestimmte Wahrnehmungen beim Fall der Korper 
unter bestimmten Bedingungen zugleich oder hintereinander auf- 
treten. Auch die Voraussage in die Zukunft — vielleicht die wesent- 
lichste Aufgabe der Naturwissenschaft — wird dabei keineswegs zur 
Unmoglichkeit; nur lautet sie nicht: dafi ein an sich realer Korper 
(X) durch einen an sich realen Raum (Y) in einer an sich realen 
Zeit (Z) fallen wird (z. B. dafi ein Zehnpfennigstfick von der Spitze 
des Eiffelturms in so und soviet Sekunden bis auf die Erde gelangen 
wird), sondern dafi auf die Wahmehmung eines in der Luft los- 
gelassenen Korpers nach so und soviet (jederzeit durch die Wahr- 
nehmung zu verifizierenden) Sekunden die Wahmehmung des auf 
der Erde liegenden Korpers unter bestimmten Umstanden erfolgen 
wird. Auf diese Weise haben die kompliziertesten astronomischen 
Voraussagen nichts Ratselhafteres fur den idealistischen als fur den 
realistischen Naturforscher. Denn dafi nach funfzig Jahren ein Stem 
an sich das Fadenkreuz im Fernrohr an sich passiert, ist genau 
so verstandlich oder unverstandlich, wie dafi nach funfzig Jahren 
ein am Fernrohr stehender Beobachter die Wahrnehmungen Faden- 
kreuz und Sterabild zugleich machen wird. Das Ratselhafte liegt 
allein in der Gesetzmafiigkeit, nach der die realen Dinge oder 
die subjektiven Wahrnehmungen verkettet sind. Diese Gesetz- 
mafiigkeit vermag aber der Realist so wenig zu erklaren wie der 
Idealist; beide konnen sie nur als vorgefunden und immer wieder 
best&tigt konstatieren. Auch fiber den Grad dieser Gesetzmafiig- 
keit ist nicht das Geringste durch den erkenntnistheoretischen 
Grundstandpunkt ausgemacht. Beide, Idealisten wie Realisten, 
konnen an eine absolute oder nur relative Gesetzmafiigkeit dabei 

Ricbter, Skeptimmnt. *3 



194 Erster Absdmitt. Die griechiscbe Skep&is. 

glauben. Der Realist absolutistischen Bekenntnisses macht geltend: 
die Naturgesetze mussen in dem innersten Wesen der Dinge be- 
grundet sein; also in der inneren Struktur der Elementc liegt die 
Ursache, dafi sie sich nur zu bestimmten Teilen mit anderen Ele- 
menten verbinden (etwa zwei Atome Wasserstoff mit einem oder zwei 
Atomen Sauerstoff) und daher wird das Gesetz dieser Verbindung ewig 
Geltung haben, solange diese Elemente existieren. Der Idealist, 
der absolutistisch veranlagt ist, sagt aus: die Naturgesetze mussen 
in dem innersten Wesen unsres Geistes begriindet sein; unser Be- 
wufitsein hat nicht nur gattungsmafiige Funktionen, um gewisse 
Eigenschaften von Erscheinungen (die raumlich-zeitlichen), sondern 
auch um die Verbindung von Erscheinungen wahrzunehmen (Kau- 
salitat); es wird z. B. raumlich einander beruhrende und zeitlich 
unmittelbar aufeinanderfolgende Erscheinungen stets a priori nur 
kausal verknlipft denken konnen ; daher wird das Gesetz der Ver- 
bindung zweier Teile H mit einem Teil O zu Wasser solange Geltung 
haben, als menschliches Bewufitsein existiert. Dagegen gibt es Rea- 
listen, die die Verbindung von H 2 mit O nur als erfahrungsmafiig bis 
jetzt immer stattgehabte Verbindung zwischen den realen Dingen 
an sich ansehen und zu einer Verabsolutierung dieses Verhaltnisses 
als eines streng-notwendigen keine Veranlassung erblicken. Und 
genau so gut gibt es Idealisten, welche die Wahmehmungsver- 
bindung H 2 und O nur fur eine erfahrungsmafiig, a posteriori ge- 
gebene und induktiv bestatigte erklaren, ihr aber eine notwendige 
Giiltigkeit fur alle Zukunft absprechen. 

So etwa wiirde der extreme Idealist den Beweis zu fuhren 
haben , dafi den tatsachlichen Voraussetzungen fur die naturwissen- 
schaftliche Forschung (a — c) auch bei ihm Rechnung getragen 
wird, und die tatsachlich erarbeiteten naturwissenschaftlichen Er- 
gebnisse auch von seinen Theorien aus gewonnen werden konnen. 
Fur die bei den Naturwissenschafllem oft angetroffene, falsche er- 
kenntnistheoretische Interpretation ihrer eigenen Pramissen und 
Resultate glaubt nicht er die Verantwortung tragen zu mussen. 

3. Ihren letzten Trumpf aber spielt diese Anschauungsweise 
den Realdisziplinen gegenuber mit dem Hinweis aus: dafi bereits 
Naturwissenschaftler aller Lander beginnen, nicht nur 
theoretisch sich zum Idealismus zu bekennen, sondern 
die Arbeit ihrer Disziplinen unter Ausscheidung aller 
realistischen Elemente teils zu deuten, teils neu zu leisten, 
teils blofi terminologisch umzutaufen. Auf der einen Seite 



Drittes KapiteL Die Kritik der giiechischen Skepsis. 


*95 


des empirischen Idealismus stehen dabei Manner wie Mach~und 
Ostwald, des aprioristischen Idealismus die bereits zahlreichen 
Vertreter des Neukantianismus unter den Naturwissenschaftiem. 
So ist idealistische Naturwissenschaft nicht blofl logisch moglich, 
sondern bereits wirklich vorhanden. 

Es schien notwendig, das Bollwerk des extremen Idealismus 
etwas genauer zu beschreiben, urn nicht den Eindruck zu erwecken: 
als Rettung vor dem Aenesidemschen Skeptizismus moge er ein 
nicht ubel gewahlter sophistischer Schlupfwinkel sein, im iibrigen 
aber ein den naiven wie wissenschaftlichen Anspriichen gleich wenig 
genugender Standpunkt. Zeigt er sich aber nun ganz wohl in sich 
zusammenstimmend, auch gar nicht als so eng und gezwungen, 
wie man gewohnlich annimmt, noch weniger als so revolutionar 
und halsstarrig, und nur auf seine Unwiderlegbarkeit trotzend, auf 
einsamem kahlen Gipfel thronend , ohne Fuhlung mit der Natur, 
d. h. den Tatsachen und deren reichen Beziehungen, ist er genug 
gefestigt, um nicht nur als ein Zuiiuchtsort sondern als frei ge- 
wahlte Stellung zu erscheinen , so darf man die Frage stellen, die 
uns hier besonders angeht: in welchem Verhaltnis steht der 
extreme Idealismus zum pyrrhonischen Skeptizismus? 

Da zeigt sich nun, dafi der extreme Idealismus den skeptischen 
Folgerungen auf dem Gebiet der sinnlichen Wahmehmung voll- 
kommen entgeht Auf den ersten Blick mochte man vielleicht 
Idealismus und Skeptizismus fur verwandte Anschauungen halten, 
und merkwurdigerweise beherrscht dieser Oberflachenblick die An- 
sichten der gebildeten Laien wie der Fachgelehrten in erschrecken- 
dem Mafie. Vermag doch der Idealist immer nur Vorstellungen, 
nie irgend welche Eigenschaften realer Dinge zu erkennen, weil er 
nur an das Dasein jener, nicht an das dieser glaubt, treibt er doch 
immer nur ein subjektives Spiel mit Seifenblasen! Und ist das 
nicht der vollendete Skeptizismus? Dieser allgemeine Einwand er- 
ledigt sich durch die Bemerkungen der Einleitung. Kann man 
doch sinnvoll von Skeptizismus nur da reden, wo — gezweifelt 
wird. Aber wenn etwas, sonst auch noch so allgemein Anerkanntes, 
wie die Existenz einer bewufitseinunabhangigen Korperwelt (und 
nur um diese kann es sich als eventuelles Objekt der Sinneswahr- 
nehmungen ja handeln) geleugnet wird, heifit das: diese Existenz 
bezweifeln? Im Gegenteil; man behauptet hier ebenso bestimmt 
zu wissen, dafi etwas nicht ist, wie die Gegner, dafi dieses Etwas 
doch ist Nenne man also diese Leugnung, wenn man schon 

13* 



196 


Enter Abschnitt. Die griechische Skepsis. 


eines besonderen Terminus fur sie bedarf, der Form nach nega- 
tiven Dogmatismus (imSinne der S. XVI festgesetzten Ausdrucks- 
weise), dem Inhalt nach Immaterialismus, oder Irrealismus, oder 
sonstwie , aber nicht Skeptizismus! Es kann wahrlich nur begriff- 
liche Verwimmg stiffen, wenn man eine Anschauungsweise mit- 
samt der ihr entgegengesetzten durch ein einziges Wort bezeichnen 
will. 1st es also ganz verfehlt, den Idealisten mit dem Skeptiker 
zu verwechseln, weil ersterer das Verh&ltnis von Gegenstand 
und erkennender Vorstellung anders bestimmt als der Realist, 
so bricht nicht minder der gleichfaUs oft gehorte Grund in sich 
zusammen: der Idealist bewege sich nur in einem Chaos wogender 
Bewufitseinszustande, deren Gleichartigkeit als rein subjektive 
Elemente jede objektive und gesetzm&fiige Erkenntnis unmoglich 
mache. Auch diese Erwagung verkennt vollkommen die idealistic 
schen Gedankenreihen. Hatten wir doch gesehen , dafi dieselben 
sehr wohl einen Unterschied zwischen konstanten und variablen, 
gesetzmafiig und nur im Einzelfall verbundenen Bewufitseinsele- 
menten machen, und dafi sie vom kritisch berichtigten Objekts- und 
GesetzesbegrifTe aus sehr wohl objektive und gesetzmafiige Er- 
kenntnis von blofi subjektiver und zufalliger Vorstellungsweise 
unterscheiden. Damit sind die allgemeinen Verwechslungen von 
Skeptizismus und Idealismus, sowohl die auf der Art wie dem 
Grad des idealistischen Erkenntnisbegriffs fufienden, zuruckgewiesen. 

Noch deutlicher springt die Andersartigkeit beider Anschau- 
ungen in die Augen, wenn wir nun unsre eigentliche Zielfrage 
beantworten: wie steht es vom extrem - idealistischen Standpunkt 
mit den Aenesidemschen Folgerungen? Fur die griechische Skepsis 
hatte das Problem gelautet: gibt die Erscheinung, Vorstellung, 
Wahmehmung (der Honig als ein Zusammen empfundener Gelbe, 
Sufie, Zahigkeit, FlSchenhaftigkeit) das Ding an sich (den Honig 
unabhangig von meinen Honigempfindungen) wieder? Und die Ant- 
wort: wir haben keine Garantie dafiir, mfissen also die Erkenntnis 
eines Dinges durch die Sinneswahmehmungen bezweifeln. Diese 
Frage und damit auch ihre Beantwortung verliert fur den extremen 
Idealisten jeden Sinn. Fiir ihn gibt es nur Erscheinungen, Wahr- 
nehmungen, Vorstellungen, nur den Honig als Empfindungskomplex, 
und gar kein, wenigstens kein der sinnlichen Wahmehmung als 
Aufgabe gestelltes Ding an sich, keinen andem Honig als den 
wahrgenommenen. Dann kdnnen aber die Wahraehmungen die 
Dinge gar nicht richtig oder falsch, d. h. adaequat oder inadaequat 



Drittes KapiteL Die Kritik der griechischen Skepsis. 197 

widerspiegeln. Denn wie sollten sie etwas spiegeln, das 
nicht besteht? Daher bezeichnet der extreme Ideatismus seine 
Anschauungsweise als den geraden Gegensatz zum Skeptizis- 
mus, als Rettung aus dem Skeptizismus, und Berkeley gab seinen 
drei Dialogen zwischen Hylas und Philonous auf dem Titel den 
Zusatz: zur Bekampfung von Skeptikern und Atheisten. Gerade 
der Realismus, so meint Berkeley, fuhre zum Skeptizismus, und 
zwar durch eine falschliche Realisierung der Dinge und des Ver- 
haltnisses zwischen Ding und Wahrnehmung. Nehme ich namlich 
erst Dinge mit irgend welch en Eigenschaften an, mit vielen, wie 
der extreme, mit wenigen, wie der gemafiigte Realist, die unab- 
hangig von wahmehmenden Subjekten bestehen und die nun (iber- 
gehen sollen in dessen Wahrnehmungen, so sehe ich mich mit stei- 
gender Kritik gezwungen, eine Eigenschaft nach der andera aus den 
angegebenen Griinden als objektiv- reale fallen zu lassen; alle Quali- 
taten brockeln ab von den Objekten und werden ins Subjekt zu- 
ruckgenommen, erst die sekund&ren , dann die primaren Qualitaten, 
bis das unabhangige Ding als ein vollig unerkennbares Etwas zu- 
riickbleibt und der Skeptizismus die notwendige Folge wird. 

Fiir den Idealisten dagegen kann das Verhaltnis von sinn- 
licher Wahrnehmung zu dem wirklichen Ding und seinen Beschaffen- 
heiten als Erkenntnisobjekt niemals Gegenstand skeptischer Be- 
denken werden. Man braucht sich blofi seine kridsche Berichtigung 
der BegrifTe Ding, Beschaflfenheit, Wirklichkeit in die Erinnerung 
zu rufen, um einzusehen, wie sich auch der Begriff des Erkennens 
dinglicher Beschaffenheiten kritisch verschieben mufi. Ding be- 
deutet nun: einen jeweilig gegebenen (Ding Kirsche im popularen 
Sinn) oder einen unter besonderen Umstanden zusammenbestehenden 
(Ding Kirsche im botanischen Sinn) Komplex von Empfindungen, 
kein bewufitseinunabhangiges aufieres Reale. Beschaffenheiten 
an dem Dinge sind die einzelnen Empfindungen, die den Komplex 
bilden, nicht Accidenzien an einem fiir sich bestehenden Substrat; 
wirkliche Dinge sind die unmittelbar uns eingepragten Wahrneh- 
mungen, nicht etwas von diesen Wahrnehmungen Unabhingiges; 
nichtwirkliche Dinge die von uns erzeugbaren Erinnerungs- oder 
Phantasievorstellungen, nicht etwas Irreales im Gegensatz zu etwas 
Realem. Mit den Sinnen ein wirkliches Ding erkennen, kann 
also nunmehr einzig darin bestehen: die unmittelbare sinnliche 
Wahrnehmung eines Dinges im Bewufitsein haben; in vertieftem 
Sinn: es in seinen Bestandteilen, d. h. die Bestandteile der Wahr- 



198 


Enter Abschnitt. Die griechische Skepsis. 


nehmung sich gut einprlgen, genau kennen lemen; allenfalls noch: ( 

es in seinem Zusamxnenhang mit andem Dingen, d. h. mit andem 
Wahmehmungen erfahrungsmafiig beobachten, und dadurch die | 
Moglichkeit gewinnen: seinen Eintritt in die Wirklichkeit (ins Be- 
wufitsein) Oder sein Fernbleiben von ihr (ihm) voraussehen zu 
k5nnen. Infolgedessen beantwortet sich die Frage: was konnen 
wir von den Dingen erkennen? einfach dahin: die Sinne erkennen 
stets die Beschaffenheiten der Dinge, wie diese Dinge 
selbst, vollstlndig und restlos. Denn die Empfindungen sind 
seibst die Beschaffenheiten und die Empfindungskomplexe sind 
selbst die Dinge. Eine andrfe SQfie, einen anderen Raum als den 
wahrgenommenen , gibt es nicht, ein andres Ding Kirsche als das 
Zusammen gesehener, getasteter, geschmeckter Eigenschaften gibt 
es nicht. Nun mdchte man meinen: das ware richtig fQr die Dinge 
im popularen Sinn, begriffe aber nicht die Dinge in wissenschaft- 
licher Bedeutung. Denn die wissenschaftliche Bearbeitung der 
Dingbegriffe (der Kirsche im botanischen Verstande) sei ja mit die 
letzte Aufgabe der einzelnen Disziplinen und ihre Ldsung befande 
sich in fortwShrendem Flusse. Brauchte man aber blofi die Augen 
und die ubrigen Sinne zu offnen, urn die Dinge restlos zu erkennen, 
so wire eine solche Arbeit der Wissenschaft ebenso nutzlos wie 
uberflQssig. Dieser Einwand , dem eine gewisse V erfuhrungskunst 
innewohnt, verkennt folgendes: die Arbeit der Wissenschaften in 
der Bestimmung der Dinge ist weder nutzlos noch iiberflQssig; sie 
dreht sich aber einzig um die Frage: welche Empfindungsver- 
bindungen als Dinge im wissenschaftlichen Interesse zu 
bezeichnen sind. Ist man sich darfiber einig, so bietet die „Er- 
kenntnis" dieser Empfindungsverbindung keine Schwierigkeit mehr; 
denn sowie diese Empfindungsverbindung ins Bewufitsein fellt, ist 
das „Dmg M durch die Sinne restlos „erkannt“. Nicht dort liegt 
das Problem: die Dinge zu erkennen, sondem festzustellen, welche 
Erkenntnisse Dinge sind, d. h. Erkenntnisse zu verdinglichenl Der 
Unterschied zwischen den gewdhnlich und den wissenschaftlich so- 
genannten „ Dingen “ ist nur der, dafi es dem Alltagsbedurfnis 
vollstandig genQgt, die im tlglichen Leben jeweilig oder oft anein- 
ander gebundenen Empfindungen mit dem Namen eines Dinges 
zu belegen, wlhrend die Wissenschaft nur die unter bestimmten 
Umstlnden konstant aneinander gebundenen Empfindungen 
Dinge nennt. So genQgt es dem popullren Bewufitsein vollstlndig, 
ein Zusammen gesehener Rundheit, Gelbheit, bestimmter Figur, 



Drittes Kapitel. Die Kritik >der griechischen Skepsis. 


199 


getasteter Glatte und Harte, geschmeckter Siifie als Apfel zu be* 
zeichnen; wahrend alle diese Empfindungen auch kiinstlich her- 
zustellen waren, ohne dafi die iibrigen Bedingungen, die man beim 
Ding Apfel noch stillschweigend voraussetzt (z. B. dafi er eine 
organisch gewachsene Frucht ist), einzutreffen brauchten. Die 
Wissenschaft, die solchen Tauschungen vorbeugen und ein in sich 
zusammenstimmendes, widerspruchloses System von Erkenntnissen 
erarbeiten will, daher ganz andre Empfindungsgruppen mit Namen 
zum bequemeren Denkgebrauche belegt als das tagliche Leben, 
wird den Komplex konstant aneinander gebundener Strukturverhalt- 
nisse, chemischer Reaktionen, bestimmter Wachstumsbedingungen 
Apfel benennen (botanisches Ding); und da die Konstanz derVer- 
bmdung im Gebiete der als primare Qualitaten bezeichneten Wahr- 
nehmungselemente steigt, teilt auch der Idealist die Bemiihungen 
der Wissenschaft, die Dinge moglichst auf mathematisch-physi- 
kalische Vorstellungskomplexe zu reduzieren (physikalisches Ding). 
Dazu aber bedarf es naturlich umfangreicher Beobachtungen und 
tiefer Erwagungen. An Wirklichkeitswert aber ist das wissen- 
schaftliche Ding Apfel dem popularen auch nicht um einen Bruch- 
teil uberlegen, solange dieser Standpunkt sich selbst treu bleibt; 
denn die Verbindung der Empfindungen im Bewufitsein bedeutet 
genau so gut Wirklichkeit hier wie dort und ist nur durch den 
Grad der Bestandigkeit in der Verkettung der Elemente beidemal 
unterschieden; und auch die sinnliche Erkenntnis des Apfels, ob 
man nun diese oder jene Empfindungsgruppe darunter versteht, 
ist beidemal gleich zweifellos vollkommen, wenn diese oder jene 
Empfindungsgruppe im Bewufitsein ist. In den Zeiten, wo dies 
nicht der Fall ist, bezeichnet das Wort Apfel aber keine Wirklich- 
keit, sondem ist nur ein Symbol fur eine bestanden habende und 
wieder bestehen werdende oder konnende Wirklichkeit. Und da 
solche Zeiten meist vorherrschen, mufi der Idealist sagen: dafi der 
Apfel im popularen Sinn in der Wirklichkeit haufiger vorkomme 
als der Apfel im wissenschaftlich umschriebenen Sinn; dafi aber 
seine Eigenschaften dafur nicht so gesetzmafiig und fest aneinander 
gekettet sind, und dafi die einzelnen Apfel voneinander auf manchen 
Punkten abzuweichen pflegen. Der Apfel im botanischen Verstande 
bleibt oft nur Wahrnehmungsmoglichkeit, die selten zur Wahr- 
nehmungswirklichkeit wird; ihre Elemente aber sind, nach dem 
jetzigen Stand unsrer Erfahrung, unter bestimmten Umstanden 
regelmafiig aneinander gebunden und die Abweichung der einzelnen 



200 Enter Abschnitt Die griechiaehe Skepsis. 

Exemplare ist gering. Der Apfel im physikalischen Sinn, als ein 
Zusammen kleinsterTeilchenwahmehmungen(der realistischen Atome) 
bleibt bis jetzt reine Wahraehmungsmdglichkeit, seine Beschaffen- 
heiten mufiten nicht nur regelmafiig, sondera gesetzmafiig (nach 
den physikalisch ermittelten Gesetzen) aneinander gebunden sein 
und Abweichungen zwischen den einzelnen Exemplaren wurden 
nicht bestehen. Mit der Wirklichkeit (= W ahmehmung) dieses botani- 
schen und physikalischen Apfels, der das wissenschaftliche Bewufit- 
sein interessiert, wiirde gesetzlich, d. h. unter bestimmten Umstanden 
notwendig die Wirklichkeit (= Wahmehmung) eines Apfels im ge- 
wohnlichen Sinne, dessen (deren) Anwesenheit allein das populare 
Bewufitsein interessiert, verbunden sein. Wahrend also fur den 
Realisten das physikalische Ding „ Apfel" stets gleichzeitig 
mit der sinnlichen Wahmehmung (dem popularen Ding „ Apfel “ 
des Idealisten) als deren (direkte oder indirekte) Ursache un- 
abhangig vom Bewufitsein best eh t, ist fiir den Idealisten 
die sinnliche Wahmehmung des riechenden, schmeckenden, far- 
bigen Dinges Apfel, oder das Ding Apfel selbst, im popularen 
Verstande, aber in vollster Wirklichkeit, gesetzmafiig verbunden 
mit der Wahmehmung gewisser kleinster Raumteilchen von be- 
stimmter (noch nicht ermittelter) Form, die in bestimmter 
(noch nicht ermittelter) Lage zueinander sich befinden und be- 
stimmte (noch nicht ermittelte) tastbare Qualitaten zeigen; und 
zwar derart, dafi — wenn die letzbeschriebene Wahmehmung kon- 
kurrenzlos im Bewufitsein ware — unmittelbar darauf das Ding 
„ Apfel 11 im popularen Verstande in die Wirklichkeit, d. h. in das 
Bewufitsein eintreten wiirde. Bei alledem ist zu beachten, dafi 
es sich um die Feststellung deijenigen Empfindungskomplexe 
handelt, die im Interesse der Gelehrten oder der Laien unter der 
extrem idealistischen Perspektive als wirkliche Dinge zu bezeichnen 
sind (an sich ist jeder Empfindungskomplex ein wirkliches Ding); 
nicht aber etwa um die Gewinnung von Dingbegriffen, denen 
keine Wirklichkeit entsprechen soli, und die nur als Abbreviaturen 
der Wirklichkeit Zusammenstellungen von Daten sind, die zwar 
der Wirklichkeit, d. h. den sinnlichen Wahmehmungen entnommen, 
willkurlich einiges von ihnen festhalten, n&mlich das vielen ahn- 
lichen Sinneswahrnehmungen Gemeinsame, andres fallen lassen, 
namlich das viele ahnliche Sinneswahrnehmungen Unterscheidende. 
Soli also das physikalische Ding Apfel wirklich existieren konnen, 
so mufi es wahmchmbar sein; da nun auch die kleinsten Massen- 



Drittes KapiteL Die Kritik der grieduschen Skepsis. 


201 


teilchen nach unsrer bisherigen Erfahrung nur irgendwie farbig 
wahrgenommen werden kdnnen, so mufi dem physikalischen Ding 
Apfel, das sonst den Apfelatomen des Realisten in allem iibrigen 
(mit Ausnahme der bewufitseinunabhangigen Realitat) entsprechen 
konnte, auch irgendwelche Far be neben Raum- und Tastempfin- 
dungen zukommen. Handelte es sich dagegen um den abstrakten 
Gattungsbegriff Apfel im physikalischen Sinn, so konnte die Farbe 
als eventuell variables und darum fur den Gattungsbegriff unwesent- 
liches Element beiseite gelassen werden. 

Wie steht es nun aber mit dem Hauptargument des 
Pyrrhonismus, dafi das gleiche Objekt unter verschiedenen 
es selbst nicht berfihrenden Umstanden dem Subjekt ver- 
schiedene Eigenschaften zeigt? Der extreme Realismus hatte 
sich hier nicht zu helfen gewufit. Da er z. B. die Farbe Eigen- 
schaft der bewufitseinunabhangigen Objekte sein lafit, so kann 
er, in seiner Naivitat erschiittert und auf Variabilitat und Re- 
lativitat in den Farbenaussagen der Menschen aufmerksam ge- 
macht, zwischen diesen Aussagen nicht entscheiden und verfallt 
dem Skeptizismus. Und da er den Raum ganz auf gleicher Linie 
behandelt mit Farbe und Geruch, so verzweifelt er, auf die 
raumlichen Sinnestauschungen aufmerksam gemacht, an der Er- 
kenntnis. Der kritisch - gemafiigte Realismus hatte die Variabilitat 
und Relativitat der sinnlichen Wahrnehmungen iiber das gleiche 
Ding anerkannt, aber nicht die Unerkennbarkeit der Dinge daraus 
gefolgert. Denn da vemiinftige Erwagungen ergaben, dafi Farbe, 
Geruch, Temperatur usw. fiberhaupt keine Eigenschaften der Dinge 
waren, so konnten dieselben an den Dingen weder erkannt, noch 
verkannt werden. Die Variabilitat in der Auffassung der mathe- 
matisch- physikalischen, an sich realen Eigenschaften beschrankte 
sich auf die „ Sinnestauschungen “. Diese vermochte der Realist zu 
heben, indem er ihre Ursachen nicht in die Objekte, sondern in 
das Medium oder in die Subjekte verlegte, und zwar in bestimmt 
nachweisbare und festzustellende Bedingungen. Gaben somit die 
Sinnestauschungen gar keine Objektseigenschaften wieder, so ge- 
rieten die auf sie zu Recht gegriindeten Urteile nicht mit denjenigen 
Aussagen in Widerspruch, welche auf Grund der unter normalen 
Verhaltnissen stattgehabten Wahrnehmungen fiber die Eigenschaften 
der Objekte gefallt worden waren. Ffir den extremen Idealisten 
bestehen alle diese Variabilitaten und Relativitaten in der 
Auffassung der namlichen Dinge nicht; weder in den sekun- 



2 02 


Enter Abschnitt Die griechische Skepsis. 


daren, noch den prim&ren Qualitaten. Da ihm die Empfindungen 
fur die Wirklichkeit von dinglichen Beschaffenheiten, und die 
Empfindungskomplexe fur die Wirldichkeit der Dinge das letzte 
Kriterium sind, so handelt es sich uberall , wo wechselnde Empfra- 
dungen gegeben sind, nicht um eine variable Auffassung identischer 
Dinge, sondem stets um einenWechsel der Dinge selbst und ihrer 
Beschaffenheiten. Die vollstandige, also umkehrbare Gleichung: 
Empfindungswechsel — Dingwechsel ist der Zauberstab, vor dem 
jeder Skeptizismus, der auf die Variability der Sinneswamehmungen 
bei Konstanz der Dinge sich beruft, in Nichts zerfaUt. Alle Bei- 
spiele Aenesidems, in denen das gleiche Ding verschiedenen Sub- 
jekten oder demselben Subjekt unter besondern, das Ding imberuhrt 
lassenden Umstanden verschieden erscheint, sind schlechterdings 
unmdgliche Falle. Es ist nicht wahr, dafi jemals der gleiche Honig 
mir sufi und einem andera bitter, mir heute stiff und morgen 
bitter schmeckt, dafi die gleiche MittelhaUe des Badehauses dem 
von aufien Eintretenden warm, dem von innen Kommenden aber 
kuhl erscheint. Sondem der Honig, der mir stiff und einem andera 
bitter, der Honig, der mir heute stiff und morgen bitter schmeckt, 
ist nicht ein und dasselbe Ding, sondem jedesmal ein andres; das- 
selbe gilt von der MittelhaUe des Bades und alien ubrigen Beispielen 
derselben Art Dann aber ist auch jeder Widerspruch zwischen 
den Wahmehmungen gehoben; dann erscheint nicht ein und das- 
selbe Ding (Honig) bald stiff, bald bitter, nicht ein und dasselbe 
Ding bald kalt und bald warm, sondem von verschiedenen Dingen 
ist das eine bitter, das andre stiff, das eine kalt, das andre warm. 
Darin liegt natiirlich kein Widerspruch. Hat X. den Empfindungs- 
komplex gelb, klebrig — bitter, so nimmt er ein wirkliches Ding 
mit den Beschaffenheiten gelb, klebrig — bitter wahr; und das 
gleiche gilt von mir, wenn ich in einem bestimmten Zeitpunkt die 
n<Lmlichen Empfindungen habe; habe ich aber den Empfindungs- 
komplex gelb, klebrig — stiff, so nehme ich gleichfaUs ein wirk- 
liches Ding wahr mit den Beschaffenheiten gelb, klebrig — stiff. 
Ob ich der Okonomie des Denkens, meiner Orientierung in der 
Erfahrung, und der Mitteilung an andre zuliebe beide Dinge, wegen 
ihrer uberwiegenden Ahnlichkeit, unter willkurUcher Ignorierung 
ihrer Unterschiede in dem gleichen abstrakten Gattungsbegriff zti- 
sammenfasse und mit dem gleichen Wortsymbol: Honig belege, 
andert nichts daran, dafi es sich um drei getrennte, wiikliche 
Dinge handelt, um drei Honige, H l# H, und H s . Zwei davon 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 


203 


gehoren meinem, eines dem Bewufitsein von X an. Man glaube 
aber ja nicht, dafi sich bei solchen Anschauungen zwar der Skepti- 
zismus fQr die Erkenntnis der Dingeigenschaften vermeiden lasse, 
dafi aber dieser Sieg insofem ein wahrer Pyrrhussieg sei, als jede 
allgemeingultige und gesetzmafiige Erkenntnis der Dinge damit 
verloren gehe. Es werden die Dinge dabei nicht rettungslos den 
individuellen, regellosenWahmehmungen der Einzelnen preisgegeben, 
so dafi jeder seine eigene chaotische Welt von Dingen besitzt, 
von deren Verstandnis der Nachbar, der sich in einem andem 
Chaos bewegt, bereits ausgeschlossen ist; der eine (oder ich selbst 
zur Zeit A) die Welt der bittern, der andre (oder ich selbst zur 
Zeit B) die Welt der sufien Honige sein eigen nennt (nenne), der 
eine (oder ich selbst zur Zeit A) die Welt der lauen, der andere 
(oder ich selbst zur Zeit B) die der kalten BadehaUen usw.; so dafi 
ein wissenschaftliches Erkennenwollen und vollends ein gemein- 
sames Erkennenwollen der objektiven Welt eine Ironie ware. 
Vielmehr sind die Verbindungen zwischen den Wahrnehmungen 
gattungsmafiig gesetzliche, vollkommen zwischen den primaren, 
unvollkommen zwischen den sekundaren Bestandteilen. Da — um 
mit den letzteren zu beginnen — die Empfindung der eigenen 
Korperhitze (- kSLlte) gefolgt zu sein pflegt von der Empfindung der 
Kalte (Hitze), wenn ich mich in einen Raum von 12 °R. begebe, 
so wird naturlich der von aufien Eintretende (Individuum X oder 
ich selbst in Zeitpunkt A) den Empfindungskomplex: marmomer 
Fufiboden, seitliche Banke — Hitze, der von innen Kommende 
(Individuum Y oder ich selbst in Zeitpunkt B) den Empfindungs- 
komplex: marmomer Fufiboden, seitliche Banke — Kalte haben, d.h. 
es wird im Bewufitsein des einen (oder des Ich zu einer Zeit) ein 
wirkliches Ding auftreten, das mit dem Ding des andem (oder des Ich 
zu einer andem Zeit) alle Eigenschaften gemein hat bis auf die eine 
der Temperatur. Da Abanderungen wie Ahnlichkeiten aber durch 
Beobachtung der Erfahmng vorherzusagen, auch willkurlich her- 
zustellen sind, so ist die Kluft zwischen den wirklichen Welten 
des gleichen Individuums zu verschiedenen Zeiten und verschiedener 
Individuen zu uberbrucken. — Noch weit vollstandiger ist dies der 
Fall, wenn es sich um Bestandteile der Dinge handelt, die quali- 
tativ ganz gleichartig und in der Verbindung ihrer Glieder viel 
konstanter empfunden werden als die vorigen , namlich die mathe- 
matisch-physikalischen QualitSten. Das Ding Honig im wissen- 
schafiHchen Sinn z. B. als eine bestimmte chemische Verbindung 



204 


Enter Abschnitt Die griechische Skepsis. 


von Ameisensaure und verschiedenen Zuckerarten mit den und 
den Atombeschaffenheiten ware fur mich zu alien Zeiten und fur 
alle Menschen (in der Beschrankung, die diesen Ausdrucken bei 
alien empirisch ermittelten Gesetzen zukommt) das gleiche (wenn 
auch nicht ein gleiches) , sobald es iiberhaupt ins Bewufitsein Ein- 
gang gefunden hat — freilich auch dann kein gleiches im Sinn 
einer Beziehung meiner Vorstellung auf ein und dasselbe an sich 
reale Objekt, sondem nur im Sinn qualitativ und quantitativ gleich- 
artiger Bewufitseinsbestandteile , an die sich unter den gleichen, 
bestimmten Umstanden bei mir zu jeder Zeit und bei alien andem 
wiederum eine Menge qualitativ und quantitativ fur mich und andre 
stets gleichartiger Bewufitseinsbestandteile gesetzmafiig anschliefien 
wiirden; z. B. bei den Experimenten , die der Chemiker mit dem 
Honig veranstaltet, sofem sie sich in mathematischen For mein dar- 
stellen lassen. Daher kann es fur den Idealisten auch keine 
Sinnestauschungen uber Raumverhaltnisse geben. Das 
Ruder erscheint nicht im Wasser gebrochen und in der Luft gerade, 
wahrend es selbst beidemal gerade ist; sondem es ist tatsachlich 
hier gerade und dort gebrochen und erscheint auch so. Denn ein 
andres Kriterium fur tatsachliche Raumwirklichkeit als meine Wahr- 
nehmungen besitze ich nicht. Fasch ist nur meine Meinung, nach 
der ich das Ruder im Wasser fur das gleiche Ruder halte, das 
ich vorher in der Luft gesehen habe und nachher wieder in der 
Luft sehen werde. In Wahrheit handelt es sich um drei ver- 
schiedene Wahmehmungen oder Dinge, die einander abldsen, und 
die ich, wenn ich von ihren Unterschieden absehe, auf ihre gleichen 
Bestandteile reflektiere, alle „ Ruder" benennen mag. Nicht darin 
also liegt die Tauschung, dafi ich das Ruder gebrochen sehe (denn 
was ich sehe, ist auch wirklich), sondem dafi ich, infolge falscher 
erkenntnistheoretischer Voraussetzungen iiber die Identitat des 
Ruders als eines unabhangig existierenden realen Objekts, annehme 
und erwarte: dafi das Ruder im Wasser auch gerade oder aus dem 
Wasser gezogen auch krumm sein werde. Die Veranlassung zur 
Tauschung liegt hier also ganz in den Gedanken und nicht in den 
Sinnen — in gerader Umkehrung der Auffassung des gemafiigt- 
kritischen Realismus, der die Tauschungsursache ganz in die Aus- 
nahmsreaktion der Sinne und die Aufhebung ganz in die Korrektur 
durch gedankliche Erwagungen verlegt hatte. Aber wiederum ware 
nichts verkehrter als die Meinung, nun schwebten doch all die 
mfihsamen Untersuchungen der Physiker, Physiologen und Psycho- 



Diittes KapiteL Die Kntik der grieduschen Skepsis. 


205 


logen uber die Brechungsgesetze verschiedener Medien (der Luft, 
desWassers, der Augenlinse usw.) , die Rolle der Augenbewegungen 
und allerlei psychischer Faktoren, aus denen die „Erklarung“ dieser 
und andrer Sinnestauschungen hervorgehe, ohne Halt und Sinn in 
der Luft. Nichts weniger! Diese Untersuchungen sind als Ermittlung 
der gesetzmafiigen Beziehungen zwischen unsem Wahmehmungen 
von der hochsten Wichtigkeit. Denn der Idealist leugnet ja nur, 
dafi das identische Ding Ruder einmal gerade, dann krumm er- 
scheine; aber nicht: dafi die Vorstellungen eines geraden, dann 
wieder eines gekrummten, dann wieder eines geraden Ruders in 
gesetzmafiiger Folge einander abldsen; d. h. dafi caeteris paribus die 
Wahmehmung X, die an die Luftwahmehmung gebunden sei, stets 
so: |v, die Wahmehmung Y, die an die Wasserwahmehmung ge*. 
bunden sei, stets so: Ky t beschaffen sei, wobei X und Y eine 
Menge Wahraehmungsbestandteile gemeinsam und nur denWinkel 
v udd Vjl verschieden aufweisen. Die mathematische Optik be* 
rechnet nun ganz genau v t fu r Wasser, v 8 , v 8 usw. fur Flintglas, 
Crownglas, Hohlspiegel usw., so dafi ich die Wahmehmung Y (Ruder 
im Wasser) aus Wahmehmung X (Ruder an der Luft) genau vor- 
hersagen kann, ebenso Wahmehmung Z, wenn ich damnter etwa 
— bei sonst gleichen Umstanden — die Wahmehmung des Ruders, 
nach Anbringung eines Hohlspiegels vor meinem Auge, verstehe. 

Auch die ubrigen Einwande der griechischen Skeptiker gegen 
die sinnlichen Wahmehmungen als Erkenntnismittel sind von hier 
aus leicht zuriickzuweisen. Der bedeutendste der noch ausstehenden 
ist wohl der: dafi das namliche Ding (Apfel) noch viel mehr oder 
weniger Eigenschaften besitzen konne, als unsre Sinne an ihm wahr- 
nehmen (vgl. S. 51). Dafi es Wesen mit hoheren oder niedereren 
Wahraehmungsfahigkeiten als denen des Menschen gebe oder geben 
konne, braucht der Idealist nicht zu leugnen. Aber alle diese 
Wahmehmungen waren nicht neue Wahmehmungen des gleichen 
Dinges, sondem neue, wirkliche Dinge, die unserm Wahmehmungs- 
ding Apfel gegeniiber eine Anzahl gleicher, ein Plus oder Minus 
andrer Eigenschaften aufwiesen. Skeptische Folgerungen von irgend 
welcher Tragweite sind aber nicht daraus zu ziehen, dafi moglicher- 
weise eine Menge Dinge nicht im menschlichen Bewufitsein auf- 
tauchen. Solche Folgerungen ergeben sich immer nur aus der 
ganzlichen oder teilweisen Unerkennbarkeit als beharrlich existierend 
angenommener realer Dinge. Und so prallen die Pfeile Aenesidems 
am Panzer des extremen Idealismus vollstandig ab. 



206 


Erster Abschnitt. Die griechische Skepsis. 


Die Ursache dieser Unverletzbarkeit lafit sich in folgenden 
Satzen zusammenfassen: Die sinnlichen Wahraehmungen ais solche 
— das mufi jeder kritische Erkenntnistheoretiker, realistischen vie 
idealistischen Glaubens, zugeben — stehen niemals miteinander in 
Widerspruch, weil sie noch jenseits von alien logischen Beziehungen 
sich befinden. Erst wenn ich verschiedene sinnliche Wahrnehmungen 
durch logische Ausdeutung als Vorstellungen eines identischen, 
von ihnen unabhangigen Dinges fasse, kdnnen Urteile, in denen 
ich den Inhalt der Wahrnehmungen diesem Dinge als Eigenschaften 
beilege, miteinander in Widerspruch geraten. Der extreme Realist 
sprach zunachst in seinen Urteilen alle Wahrnehmungsbestandteile 
den realen Dingen zu; und da das gleiche, vor jeder Veranderung 
bewahrte Ding dem einen Subjekt griin, dem andern blaulich, dem 
einen Sinn des gleichen Subjekts flachenhaft, dem andern kdrperlich, 
dem gleichen Sinn des gleichen Subjekts heute grun, morgen blaulich, 
dem gleichen Subjekt in einem besthnmten Medium gerade, in einem 
andern gebrochen erschien, und doch in Wirklichkeit nicht am 
selben Orte, zur selben Zeit zugleich griin und blau, zwei- und 
dreidimensional , gerade und gebrochen sein konnte, und andrer- 
seits keine Quelle als die Sinne zur Entdeckung der realen Ding- 
eigenschaften zur Verfugung stand, sich also lauter gleichwertige, 
einander widersprechende Aussagen iiber die Natur des Dinges 
vorfanden — so war die Unerkennbarkeit dieser Natur die not- 
wendige skeptische Folgerung aus diesen Voraussetzungen. Der 
gemafiigte Realist sprach in seinen Urteilen nur einige Wahr- 
nehmungsbestandteile (die raumlich-zeitlichen) und auch diese nur 
unter bestimmten Umstanden den realen Dingen zu, und da 
diese Urteile niemals von dem gleichen Ding zur gleichen Zeit am 
gleichen Ort widersprechende Aussagen machten, so war auch der 
skeptischen Folgerung der Unerkennbarkeit der Rechtsgrund ent- 
zogen. Der extreme Idealist setzte in seinen Urteilen alle ein- 
heitlichen Wahrnehmungen oder Empfindungsmannigfaltigkeiten den 
realen Dingen gleich und alle Wahraehmungsbestandteile den 
Eigenschaften der Dinge; dadurch wandeln sich mit den Wahr- 
nehmungen die Dinge und es ist unmoglich, dafi jemals die Wahr- 
nehmungen mehr oder andre Eigenschaften aufweisen sollten, als 
den Dingen zukamen. Meint man, dafi dadurch der Idealist zwar 
der pyrrhonischen Skepsis entginge , aber nur um sich einer andern 
Skepsis in die Arme zu werfen, so ist man im Irrtum. Denn da 
die Dinge fQr den Idealisten nicht beliebigaufeinanderfolgen, soadem 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 


207 


gesetzmafiig, und nicht in alien Teilen verschieden, als eine Flucht 
unbekannter und unvertrauter Erscheinungen voriiberziehen, sondem 
eine Fulle von Ahnlichkeiten miteinander aufweisen, so kann er 
den Inhalt seines Bewufitseins genau so gut logisch ordnen wie 
der Realist. Objektive Erkenntnis oder Erkenntnis von Objekten 
bedeutet ihm, iiber die augenblickliche Sinneswahrnehmung hinaus: 
die Erkenntnis gesetzm&Giger Beziehungen, in denenWahrnehmungen 
(oder Objekte), die einander gleich oder ahnlich sind, zu andern 
Wahmehmungen (oder Objekten) stehen; also die objektive Er- 
kenntnis desQuecksilberoxyds einmaldie gegen wartige Wahrnehmung 
des ziegelroten Pul vers in meinem Bewufitsein, und daruber hinaus 
das Wissen , dafi so oft diese Wahrnehmung in meinem Bewufit- 
sein ist, und mit der Wahrnehmung einer starken Erhitzung des 
Probierglaschens , in dem der Stoff sich befindet, verbunden ist, 
die Wahrnehmung eines schwarzen Pulvers folgt und unter be- 
stimmten Umstanden (wenn ich ein Entwicklungsrohr angefugt und 
uber dessen Ausgangsdffnung ein andres Probierrohrchen gestiilpt 
hatte) die Wahrnehmung eines farb- und geruchlosen Gases, in 
dem ein glimmender Holzspan hell aufflammt usw. 

Die Isosthenien in den skeptischen Tropen sind fur den ex- 
tremen Idealisten also nicht vorhanden; denn verschiedene sinn- 
liche Wahmehmungen iiber den gleichen Gegenstand: bedeutet ihm 
eine vollstandige contradictio in adjecto. Er vermag aber iiber- 
dies — was mehr sagenwill — den Schein von Berechtigung, der 
den Isosthenien innewohnt, psychologisch zu erklaren. Allen 
neun Tropen n&mlich liegt die Nichtbeachtung der Tatsache zu- 
grunde, dafi es neben gewohnlichen und alltaglichen Wahmehmungs- 
verbindungen auch ungewohnliche, neben gut bekannten auch 
minder bekannte gibt. Dafi die Empfindungen gelb, klebrig, siifi 
verbunden auftreten konnen, ist gewohnlich und bekannt; dafi die 
Empfindungen gelb, klebrig, bitter gleichfalls verbunden auftreten 
konnen, ist ungewohnlich und unbekannt. Dafi mit gewissen op- 
tischen Wahmehmungen (Schatten- und Lichtverteilung) Tast- 
empfindungen verbunden sind, die uns Dicke oder Kdrperlichkeit 
anzeigen, ist gewohnlich und bekannt; dafi auf die gleichen op- 
tischen Wahmehmungen Tastempfindungen folgen konnen, die nur 
Flachenhaftigkeit und Unkorperlichkeit anzeigen (Beispiel der Ge- 
malde wahmehmungen im 3. Tropus), ist ungewohnlich und un- 
bekannt. Erwarten wir nun beim Anblick der gelben zahfliissigen 
Masse auch den sufien Geschmack, oder nach den optischen Wahr- 



208 


Erstcr AbschnitL Die griechische Skepsis. 


nehmungen beim Anblick eines Gemaldes die als kdrperlich charak- 
terisierten Tastempfindungen, und tauscht uns diese Erwartung, 
d. h. treten Sufi- und Korperlichkeitsempfindungen nicht ein, so 
glauben wir: hier ist etwas nicht in Ordnung, unsre Sinne haben 
nicht richtig funktioniert; entweder hat mein Gesicht oder mein 
Getast, mein frfiherer oder mein jetziger Geschmack etwas nicht 
recht aufgefafit. Wir sahen eine uns wohl vertraute Gesetziichkeit 
durch sinnliche Wahrnehmungen gekreuzt , und stutzig gemacht, 
fragten wir uns skeptisch: ob wir an der Gesetzmafiigkeit oder an 
unsern Sinnen irre werden sollten. In Wahrheit aber hatten wir 
nur aus (die Objektivitat stets erkennenden) Sinnesdaten falsche 
Polgerungen auf den Eintritt gewohnlich mit ihnen verbundener 
Sinnesdaten gezogen, an deren Stelle nun andre, ungewohnlich mit 
ihnen verbundene, aber wiederum die Objektivitat vollig erkennende 
Sinnesdaten sich einfanden. Der falsche Schlufi lag also nicht an 
einer unvorhergesehenen Sprengung der bestehenden Gesetze,, 
sondem an einer falschlichen Aufstellung gar nicht bestehender 
Gesetze. Denn es gibt, wenn wir die Erfahrung methodisch durch- 
forschen, kein Gesetz, das lautete: mit den optischen Wahrneh- 
mungen a, b, c ist immer, sondem nur: ist unter den Bedingungen 
Pt y (zu denen auch eine bestimmte Beschaffenheit der Sinnes- 
organe fur den ersten, eine bestimmte Wahmehmungsmdglichkeit 
bei Betrachtung von der rfickwartigen Seite gehort fur den zweiten 
Fall) die Geschmacksempfindung sfifi, die Tastempfindung dick 
verbunden , und diese Gesetze sind nicht im mindesten verletzt. 
Wohl aber konnen falschlich angenommene, aus der rohen Er- 
fahrungsdeutung aufgeraffte Urteile fiber gar nicht bestehende Ge- 
setze hier durchkreuzt erscheinen. Und so schieben wir, statt in 
unsrer mangelnden Kenntnis ungewohnter Verbindungen den Fehler 
zu suchen, diesen Mangel dem einen Glied der ungewohnten Ver- 
bindung selbst unter, und da wir nicht wissen, welchem Gliede, 
so ist unser ganzes Vertrauen in die Sinne erschfittert oder wir 
suchen den Mangel in der Durchbrechung alter Gesetzmafiigkeit. 
Wir gleichen dabei einem Menschen, der einen Eisenbahnzug mit 
Verspatung in die Bahnhofshalle einlaufen sieht und dieses Phanomen 
sich nur so zu erklaren vermag, dafi entweder die Lokomotive in 
ihrer Bewegung die mechanischen Gesetze fiber Geschwindigkeits- 
grofien durchbrochen, oder dafi sein Auge ihn beim Anblick der 
Uhr und des hereinfahrenden Zuges getauscht habe; daran aber 
gar nicht dachte, dafi zwischen fahrplanmafiiger Einfahrtszeit und 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepais. 


209 


wirklicher Einfahrt nur dann die gesetzmafiige Gleichzeitigkeit be- 
stfinde, wenn alle dazu erforderlichen Bedingungen (Abfahrt von 
der vorigen Station um eine bestimmte Zeit, Dampfstarke usw.) 
erffillt waren. — Ebenso wird der Analogieschlufi auf die gleichen 
oder ahnliche Erkenntnisbedingungen bei andem Individuen fur den 
Idealisten nicht dadurch angetastet, dafi den einzelnenMenschen 
und Lebewesen manche auf vielen Punkten ahnliche Dinge auf 
andem Punkten anders erscheinen (vgl. den 1. und 2. Tropus), 
und skeptische Folgerungen aus der Verschiedenheit dieser Aus- 
sagen leitet er nicht her. Denn die Tatsachen berechtigen ja immer 
nur zu der Aufstellung: dafi verschiedene Individuen auf manchen 
Punkten ahnliche, auf andren verschiedene Wahmehmungen haben; 
nicht dafi das gleiche Ding verschiedenen Subjekten verschieden 
erscheint; die Abweichungen in den Wahmehmungen folgen aber 
wiederum bei alien Menschen der namlichen Gesetzmafiigkeit, und 
wenn wirklich Demophon in der Sonne fror und im Schatten 
schwitzte (vgl. S. 49), so bedeutet das nicht, dafi Demophon das 
reale Ding Sonne als kalt empfand, das alle andem als warm em- 
pfinden; auch nicht, dafi seine Wahmehmungen nach andem Ge- 
setzen sich verketteten, als die unsrigen (wenn sie auch de facto 
anders verkettet sind, was nach S. 186 nicht dasselbe ist), sondem 
nur: dafi eine notwendige Verkettung zwischen Sonnenstrahlen- 
wahraehmung und Warmeempfindung fur die Menschen nicht be- 
steht; dafi wir vielmehr das Glied der Wahmehmungsmoglichkeit 
bestimmter Organisationsverhaltnisse als Bedingung dieser Beziehung 
ausgelassen und voreilig Gesetze aufgestellt haben. Erst wenn die 
Pyrrhoniker nachweisen konnten, dafi wirklich nach verschiedenen 
Gesetzen in den einzelnen Lebewesen die Wahmehmungen ver- 
kettet waren, wfirde daraus — wenn auch nicht die Erkennbar- 
keit der Dinge — aber die allgemeingfiltige Erkenntnis gleicher 
Dingwelten dahinfaUen. Diesen Nachweis aber sind sie schuldig 
geblieben. 

Soviet fiber die beiden kritischen Standpunkte, die, so ver- 
schieden sie auch untereinander sind, doch in dem einen zusammen- 
stimmen, dafi man von ihnen aus dem sensuellen Skeptizismus ent- 
geht Noch mochte man glauben, die Stellung der Kantischen Er- 
kenntnistheorie sei als eine vierte Grundposition diesem Skep- 
tizismus gegenfiber auszuspielen. Aber davon ist hier abzusehen. 
Nicht nur, weil Kants Lehre an einem andem Ort dieser Unter- 
auchung ausfuhrlich gewfirdigt werden soli, sondem weil ihre 

Richter, Skeptizismus. 14 


210 


Enter Absdmitt. Die griechische Skepsis. 


Zuruckweisung der skepdschen Folgerungen aus der Wahrnehmungs- 
erkenntnis im Grunde zusammenfallt mit deijenigen des extremen 
Idealismus. Kants Eigenart in der Wahrnehmiingstheorie besteht 
hauptsachlich in der Feststellung verschiedener Erkenntnisgrade 
innerhalb der rein subjektiven Bewufitseinswelt — ein Problem, 
das die Angriffe der Skepsis nur indirekt beruhrt und insoweit 
auch schon seine Berucksichtigung gefunden hat 

Die sensuale Skepsis der Pyrrhoniker ist abgewiesen. Aber 
es scheint wahrscheinlich, dafi mit diesem Abweis gerade fur den 
denkenden Leser eine neue Form des Zweifels geschaffen worden 
ist; wie durch die Messer der Chirurgen giftige Geschwure wohl 
entfemt werden, aber auch neue Keime dabei eindringen konnen, 
die neue Geschwure hervortreiben. Staunend hat man hier ver- 
folgt: wie gemafiigte Realisten und extreme Idealisten zwar beide 
die skeptische Stellung Aenesidems erschiittert und wohl auf ewig 
vemichtet haben; wie dabei aber so diametrale Anschauungsweisen 
uber Sinn und Bedeutung unsrer Wahmehmungserkenntnis zwischen 
den zwei hier zur gemeinsamen Aktion vereinigten Armeen zu- 
tage treten (und dies bereits in den elementarsten erkenntnistheo- 
retischen Fragen und trotz bewufiter Anwendung der namlichen 
Wahrheitskriterien), dafiman von neuer skeptischer Unruhe ergriffen, 
nun vor allem wissen mochte, wer von diesen beiden im Rechte, 
wer von den beiden im Besitz der Wahrheit ist; und voll Ver- 
wunderung uber die ungenugende Funktion der Wahrheitskriterien, 
die gleich im ersten Fall ihrer Anwendung zu entgegengesetzten 
Ergebnissen fuhren, schopft man gegen diese Kriterien selbst 
Verdacht. 

Der endgultige Entscheid uber den Wahrheitsgehalt in den 
realistischen oder idealistischen Gedankenreihen ist der Untersuchung 
des 2. Bandes dieser Arbeit vorbehalten; hier handelte es sich zu- 
nichst datum, in beiden Anschauungen Auswege nachzuweisen, 
die durch die antike Skepsis nicht verbaut sind, und erlauben: 
die Beschaffenheiten der Dinge doch zu erkennen. Erst wo in 
der Geschichte der Philosophie aus dem Aufeinanderprallen dieser 
Theorien ein neues skeptisches Argument erwSLchst (was in 
der Lehre David Humes der Fall sein wird), hat die Kritik auf 
dieses einzugehen und zu der angeregten Frage Stellung zu nehmen. 
Jetzt mogen nur die Zweifel in die entwickelten Wahrheitskriterien 
eingedammt und dabei ein paar Bemerkungen daruber hinaus ala 
Ausblicke in spatere Teile erlaubt werden. 


Drittes Kapitel. Die Kzitik der griechischen Skepsis. 2 II 

Andre letzte Erkennungszeichen der Wahrheit als das auf- 
gefiihrte unmittelbare und unausrottbare Oberzeugungsgefuhl besitzen 
wir leider nicht; und es ist ganz vergeblich , aus Ungeniigen an 
dem engen Wissenskreis, den es uns erschliefit, nach andem 
Schlusseln uns umzusehen. Wir mussen also ganz offen eingestehen, 
dafi bei den uns hier beschaftigenden Problemen und deren Ld- 
sungen (ob gemafiigter Realismus, ob extremer Idealismus) das 
unuberwindbare Gefiihl des Durchdrungenseins von der Wahrheit 
einer der beiden Anschauungen in seiner vollen Starke und Ein- 
deutigkeit fur den besonnen die verschiedenen Stellungen gegen- 
einander Abwagenden wohl uberhaupt nicht auftritt. Denn sonst 
wurde es sich um entschiedene und nicht um schwebende Fragen 
handeln, wie es doch tatsachlich der Fall ist Solange wie sich 
hier noch die philosophischen Parteien befehden, solange darf von 
der Wahrheit eines Parteiprogramms fur den Erkenntnis- 
theoretiker nicht die Rede sein. Denn es wird ja nicht die Ober- 
zeugung eines oder mehrerer Menschen, sondem die unuberwind- 
bare und notwendige Zustimmung alter, d. h. jedes beliebigen 
Menschen dazu gefordert; dies ist keinEntscheid durch die Majorit&t, 
sondem durch die allgemein menschliche geistige Organisation. 
Wo nicht die Zustimmung jedes beliebigen gesunden Menschen zu 
einer Ansicht erzwungen werden kann, wenn ihm der Inhalt der- 
selben nur verstandlich gemacht wird (was freilich oft schwierig 
genug ist und manchmal jahrelanges Studium des Betreffenden er- 
fordert), da mufi man auch die grundsitzliche Unuberwind- 
barkeit der Oberzeugung jedes andem, ja des Urhebers dieser 
Ansicht bezweifeln. Die Forderung, nur dort von Wahrheit zu 
sprechen, wo diese Bedingungen erfullbar sind, ist hart, sehr hart, 
und man wird sich, wie in alien menschlichen Verhaltnissen, fiir 
die Praxis und selbst oft fiir die Theorie mit der annaheraden 
Erfullung derselben begnugen mussen. Im taglichen Leben kann 
man nicht warten, bis die Wahrheit eines Urteils nach so strengen 
Kriterien sichergestellt ist, um eine Handlung darauf zu grunden; 
denn sonst wurde es uberhaupt zu keiner Handlung kommen; aber 
auch die Wissenschaft baut oft genug auf S&tzen weiter, die im 
absoluten Sinne nicht wahr genannt werden konnen; sie wiirde 
sonst nicht von der Stelle rucken. Das Recht und die Pflicht, an 
den Bedingungen fiir die Wahrheit eines Satzes in deren ganzer 
Herbheit und Unerbittlichkeit festzuhalten, hat allein die Erkennt- 
nistheorie; denn sie ist eine Kritik gerade der Grundlagen alles 

* 4 * 



212 


Erster Abschnitt. Die griechische 


Erkennens; sie legt die Fundamente zu alien Wissenschaften oder, 
wie einige wollen, sie legt durch logische Bearbeitung der tatsach- 
lich bestehenden Wissenschaften deren Fundamente blofi. In den 
Gang der Wissenschaften soli sie nicht eingreifen; aber diese 
sollen von ihr iiber sich selbst aufgeklart werden, uber ihre Grenzen 
und ihr Gebiet, sollen durch sie nie vergessen lernen, Spezialisten 
der Wahrheitsforschung zu sein. Die Erkenntnistheorie selbst 
aber kennt keine vorlaufigen Abfindungen mit der Wahrheit, keine 
Konzessionen an die Wirklichkeit, keinen ErlaG von den Bedin- 
gungen des Erkennens, keine Provisorien; denn sie ist ja dazu 
berufen , nicht eine Masse Wahrheiten zu finden, Wirklichkeiten 
zu durchforschen oder gar zu beeinflussen , Erkenntnisse zu 
sammeln — sondem festzustellen , was Wahrheit, Wirklichkeit, Er- 
kenntnis iiberhaupt ist. Alle Satze iiber Einzel -Wahrheiten, -Er- 
kenntnisse, -Wirklichkeiten empfangen so erst ihren Sinn und ihre 
innere Bedeutung von der erkenntnistheoretischen Durchleuchtung, 
die ihnen wird. Die Erkenntnistheorie ist die eigentliche Hohe- 
priesterin der Wahrheit, die zwar nicht die Wahrheit schafft (so- 
wenig wie der Priester die Religion), nicht einmal am meisten von 
ihr besitzt (sowenig wie der Priester von der Religion), aber sie 
am strengsten verwaltet und keine Verletzung ihrer Reinheit duldet. 

Sich des hohen Emstes ihrer Aufgabe bewuGt, macht sie daher 
vor einem * Entscheid uber die Wahrheit von Realismus und Idea- 
lismus zdgerad Halt und gesteht ein, solchen Entscheid nur pro- 
blematisch und nach „bestem (aber nicht einzig moglichem) Wissen 
und Gewissen" geben zu durfen. Denn sie glaubt zwar, die for- 
malen Kriterien der Wahrheit sicher bestimmen zu kdnnen; aber 
in der naheren Feststellung der MaGstabe, namlich der Elemente, 
an welche sich jenes unausrottbare Oberzeugungs- oder Wider- 
strebungsgefuhl kettet, sieht sie bereits eines der tiefsten und 
schwierigsten Probleme der Erkenntnistheorie: was ist unmittelbar 
gegeben oder Tatsache der Erfahrung? was ist denknot- 
wendig? Und die Losung einer nicht minder inhaltschweren Frage 
bedeutet ihr derzweiteSchritt: welche Aussagen stehen nun im 
Einklang mit diesenbeidenBedingungen, und welchenicht? 
Zwar besitzen wir als vollig sichere Ausgangspunkte hier uberall Ant- 
worten, iiber die keinStreit herrscht, welche diegestelltenBedingungen 
ganz erfullen, und ohne die wir — da sich an sie eben das nicht 
beschreibbare sondem nur aufzeigbare Dberzeugungsgefuhl unaus- 
rottbar kettet — auch von den Kriterien der Wahrheit gar nichts 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechitchen Skepsis. 


213 


wissen wQrden ; aber diese Antworten sind mager, und es gibt 
ihrer nur wenige. Immerhin sind sie es , die uns als Musterbilder 
fur jede weitere, in ihnen selbst noch nicht enthaltene Wahrheit 
vorschweben und als die anschaulichen und stets sichtbaren Sterne 
die Lichtart und Lichtstarke darstellen , an der wir alle iibrigen 
angeblichen Erkenntnisse auf ihren Wahrheitsgehalt zu priifen haben. 
Dafi eine bestimmte Wahmehmung bei Betrachtung des heiteren 
Himmels mir unmittelbar gegeben ist, die wir „blau“ zu nennen 
pflegen, dafi der Satz der Identitat eine Denknotwendigkeit , und 
dafi die Urteile: jetzt empfinde ich blau und dies blau ist sich 
selbst gleich (beide beim Anblick des heiteren Himmels gefallt) in 
Einklang mit alien Erfahrungen und Denknotwendigkeiten stehen 
— das wird wohl von keinem Sterblichen, weder Laien noch 
Philosophen je bestritten werden. Hier haben wir zugleich die 
klassischen Beispiele , an denen jeder das Erlebnis jenes unaus- 
rottbaren Oberzeugungsgefuhls selbst erproben kann, und an deren 
Umkehrung (Verneinung beider Urteile) ihm das Widerstrebungs- 
geluhl nicht minder deutlich zum Bewufitsein kommen wird. Es 
ist gut, sich einmal von diesen Gefuhlen bei solch’ anscheinend 
kindlichen SelbstverstSndlichkeiten durchdringen zu lassen; denn 
nur an „ kindlichen Selbstverstandlichkeiten" kann man ganz rein 
vom Quell der Wahrheit kosten. Spater bleibt der Vergleich mit 
diesem Geschmack allein der Mafistab dafur, wie weit man sich 
von dem Quell entfernt hat. Schon die Frage, ob die Blaue des 
Himmels auf eine Ursache zuruckzufuhren ist, ist nicht einfach mit 
Ja oder Nein zu beantworten, und es streiten sich Hume und 
Kant daruber, ob solche Verursachung absolut denknotwendig ist 
oder nicht Wenn ich vollends die Ursachen der Blaue auf be- 
stimmte reale Atherwellen und die Existenz derselben an dieser 
Stelle des Raums auf gewisse materielle Vorgange in der Atmo- 
sphere zuruckfuhre, die unabhangig von einem Bewufitsein vor 
sich gehen, so ist es nicht unbezweifelt, also vorlaufig nicht un- 
zweifelhaft, ob diese Behauptung im Einklang mit Erfahrung und 
Denken sich befindet. Man sieht: dafi schon sehr friihe und an 
noch sehr elementaren Stellen die Frage nach der inhaltlichen Be- 
schaffenheit der Elemente im Wahrheitskriterium und nach den 
mit diesen Elementen im Einklang befindlichen Inhalten philo- 
sophisches Problem zu werden beginnt. Dies einzugestehen, er- 
fordert die intellektuelle Redlichkeit. Denn nicht das Auffinden 
derWahrheitskriterien, sondern das Anwenden derselben 



I 


21 4 Enter Abschnitt Die griechische Skepsis. 

macht die Schwierigkeit. Das unmittelbar Gegebene lifit 
sich nicht ohne weiteres herausfinden, weil wir ja den Erscheinungen 
gegenuber kein ganz reines Gemut mitbringen. Eingewurzelte 
Gewohnheiten, Assoziationen, uberkommene Ansichten, individuelle 
Zutaten, mit denen wir vielleicht auf das „ Gegebene” reagieren 
und die mit diesem zur Einheit verschmelzen, triiben uns den 
Blick fur die 99 reine Erfahrung". Denknotwendigkeiten be- 
stehen ihre Probe oft erst nach jahrtausendelangem Selbstbesinnen 
auf die dem eigenen Geiste immanenten Gesetze (man denke an 
den Sturz angeblicher Denknotwendigkeiten durch die metageome* 
triscben Axiome) oder werden durch die Kenntnisnahme ernes 
reichen Tatsachenmaterials uberhaupt erst ins Bewufitsein gehoben 
(z. B. Herbert Spencers 99 apriorisches“ Axiom von der Erhaltung 
der Energie, das er wohl schwerlich vor der Existenz der modemen 
Chemie und Physik trotz der behaupteten Aprioritat hatte ent- 
decken kdnnen). Und endlich, was mit alien Erfahrungen im 
strengen Sinne des Wortes und mit alien Denkgesetzen im ebenso 
strengen Sinn im Einklang ist, was nicht — das festzustellen 9 ist 
uns wieder ein neues Hemmnis in den Weg gelegt: die Zeit. So 
m5chte 9 wer die Anspruche der Wahrbeit kennt, fast verzweifeln, 
nach ihr zu suchen; wenn er nicht von einem unwiderstehlichen 
Bedurfnis getrieben wiirde, das selbst den ganz unspekulativen 
Kopf beim Fallen all* seiner Urteile unbewufit leitet; und wenn er 
nicht jene kostliche Beruhigung genossen hatte, welche die Wahr- 
heit etwa eines mathematischen Satzes oder auch nur eines ge- 
wohnlichen richtigen Schlusses im taglichen Leben gewahrt und 
die zugleich in sich den Anreiz enthalt, auch in verwickelteren 
Verhaltnissen immer und immer wieder durch mdglichst getreue 
Anwendung der bekannten Forderungen von neuem erzeugt zu 
werden. 

Wir werden nun spater sehen: dafi auch die Grundanschau- 
ungen des gemafiigten Realismus und des extremen Idealismus 
nicht etwa selbst schon unmittelbar Gegebenes oder a priori Denk- 
notwendiges zum Ausdruck bringen, und sich demnach heraus- 
stellen: nicht als Ergebnisse einer ruhigen Selbstbesinnung oder 
einfachen Oberlegung, sondern als Produkte eines komplizierten 
kritischen Mechanismus. Der Satz: die sinnlich wahrgenmximenen 
Dinge sind nur Vorstellungen, beschreibt weder ein unmittelbares 
Erlebnis (wie es etwa der Satz ohne das 99 nur cl tun wiirde), noch 
eine reine Denknotwendigkeit. Und das gleiche gilt von der rea- 



Drittes Kapitei. Die Krilik der griechischen Skepsis. 2 1 5 

listischen These: die Dinge sind noch etwas unabhangig von ihrem 
Vorgestelltwerden. Wo Idealisten oder Realisten das Gegenteil 
behauptet und ihre Anschauung als Ausdruck der „reinen Er- 
fahrung" oder eines urspriinglichen logischen Zwanges hingestellt 
haben, sind sie, wie spater erhellen wird y im Irrtum. Daher haben 
die Widerlegungen, die sie auf diesem Punkte sich gegenseitig 
zuteil werden lassen, etwas durchaus Oberzeugendes. Aber auch 
nicht einmal das kann zur Gewiflheit erhoben werden, dafi einer 
der zwei Satze sich im Einklang mit alien Erfahrungen und 
Denlcgesetzen befinde und deshalb notwendig wahr sei. Denn 
beide Urteile „die sinnlich wahrgenommenen Dinge sind nur Vor- 
stellungen", „diese Dinge sind noch etwas aufier ihrem Vorgestellt- 
werden" machen Aussagen iiber eine grundsatzlich unerfahr- 
bare Wirklichkeit und sind daher metaphysische Aussagen. 
Denn wir erfahren von den Dingen immer nur durch unsre Be* 
wufitseinszust&nde, kdnnen also durch Erfahrung iiber eine Existenz, 
Nichtexistenz, Beschaffenheit bewufitseinunabhangiger Wirklich- 
keiten niemals belehrt werden. Andrerseits kann unser reines 
Denken immer nur iiber Beziehungen zwischen Begriffen giiltige 
Urteile fallen, niemals iiber das Dasein oder Nichtdasein einer 
Wirklichkeit Vielmehr sichert uns solches unbezweifelbar allein 
die unmittelbare Erfahrung oder ein nach Gesetzen, welche die 
Erfahrung beherrschen, denknotwendig vollzogener Schlufi auf 
eine mogliche Erfahrung (was allerdings hier nur Behauptung 
bleibt). Es kann daher niemals denknotwendig sein, eine Wirk- 
lichkeit anzunehmen, oder zu leugnen, die grunds&tzlich unerfahrbar 
ist. Demnach steht keine Aussage iiber eine bewufitseintrans- 
zendente Welt jemals in positivem Einklang mit den Denkgesetzen 
und alien Erfahrungen. Denn dazu wird ja nicht nur gefordert: 
dafi die Aussage den isolierten logischen Axiomen und den 
isolierten Erlebnissen konform ist, sondem dafi sie auch mit 
den, aus der Bearbeitung der Erlebnisse durch die lo- 
gischen Axiome notwendig gewonnenen S&tzen iiberein- 
stimmt. Da nun einer dieser Satze lautet: iiber eine nicht erfahr- 
bare Wirklichkeit lassen sich keine, das unausrottbare Evidenz- 
gefiihl erzeugende Aussagen machen (denn kein Erlebnis fur sich, 
noch irgend ein Denkgesetz fiir sich, noch die Anwendung der 
Denkgesetze auf die Erlebnisse setzen mich dazu in Stand) — so 
entspricht keine Aussage, die doch diesen Anspruch erhebt, den 
strengen Bedingungen des Wahrheitskriteriums. Daher werden 



2l6 


Enter Abcchmtt Die griechiscbe Skepsis. 


wir auch alle eigentlichen Beweise, die ffir die Wahrheit der einen 
oder der andern Anschauung geltend gemacht werden, notwendig 
scheitern sehen. Und wiederam haben die Widerlegungen , die 
beide auch auf diesem Punkte sich gegenseitig zuteil werden liefien, 
etwas durchaus Oberzeugendes. Nun ware aber ein Entscheid 
wenigstens fiber die Falschheit von Realismus oder Idealismus 
noch auf die Art moglich: ist auch keiner von beiden als in posi- 
tivem Einklang mit der denknotwendig gedeuteten Erfahrung und 
auf diesem Wege jemals als wahr zu erweisen, so konnte doch 
einer oder der andre sich in Widerspruch mit Denkgesetzen oder 
Erfahrungen befinden und deshalb falsch sein. Wir wfirden d*nn 
diese Theorien als metaphysische Hypothesen anzusehen und 
zu fragen haben: geraten die Folgerungen aus ihnen mit Erleb- 
nissen und Denkgesetzen in Widerstreit, wie es mit der extrem- 
realistischen Hypothese tatsachlich der Fall gewesen war? Nun 
wird sich herausstellen, dafi bis jetzt weder die eine noch die 
andre dieser Hypothesen in ihrer Anwendung auf die Erfahrungs- 
welt, d. h. wenn wir ihre Konsequenzen fur die Erfahrung bedenken, 
sich irgend eines Verstofles gegen Denkgesetze oder Er- 
fahrung schuldig gemacht hat, und deshalb uber Bord zu 
werfen ware. Die Tatsachen der Erfahrung und ihre gedankliche 
Ausdeutung fugen sich sowohl der einen wie der andern Annahme 
fiber die Existenzart der wahrgenommenen Dinge. Und das zwar 
im weitesten Umfang. Nicht nur die Einzelerlebnisse, nicbt nur 
die Harmonie in den Aussagen aller Gesunden fiber diese Erleb- 
nisse, nicht nur der Unterschied zwischen subjektiven Phantasmen 
und objektiver Wirklichkeit, auch die Gesetzm&fiigkeit dieser ob- 
jektiven Wirklichkeit, auch die Beziehungen zwischen Leib und 
Seele, auch das Voraussagen der Ereignisse und deren Beherr- 
schung — all das ordnet sich sowohl in das idealistische wie rea- 
listische Weltbild widerspruchlos ein. Und auf beide Weisen ist 
eine einheitlich zusammenhangende und logiscb durchsichtige Auf* 
fassung der Erfahrung moglich. Daher haben hier die Wider- 
legungen, die sich die Gegner gegenseitig angedeihen lassen, nie- 
mals etwas Oberzeugendes; denn die Widerspruchlosigkeit seiner 
Auffassung in sich und mit den Tatsachen kann jeder mit gutem 
Recht fur sich in Anspruch nehmen. Jede dieser metaphysischen 
Annahmen ist also nicht nur nicht falsch, weil sie zu keinen Wider- 
sprfichen zu fuhren braucht, sondera auch durchaus eine brauch- 
bare Arbeitshypothese, um sich den Zusammenhang der Erfahrung 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 


217 


mit Hilfe metaphysischer Erganzungen verstandlich zu machen. 
Einzig danach hat man nunmehr zu fragen: welche von beiden die 
brauchbarere Hypothese ist. Da aber in den Entscheid dieser 
Frage eine Menge von Momenten hineinspielt: der Grad des hypo- 
thetischen Charakters (der beim extremen Idealismus geringer zu 
gestalten ist, sowie dieser das „nur“ aus seiner Grundthese streicht, 
als beim gemafiigten Realismus), der Mafistab fur die Arbeits- 
leistung der Hypothesen (der Phanomenalismus leistet im Sinne 
der reinen Okonomie des Denkens mehr als der Realismus, 
wahrend dieser filr das augenblickliche Stadium unsres Denkens 
dem Prinzip des „kleinsten Kraftmafies" mehr entspricht wegen der 
realistischen Tradition, durch die fast alle wissenschaftlichen Be- 
griffsbildungen auf antdidealistischen Geleisen laufen) — so durfen 
wir, ohne Mifiverstandnisse zu erregen, den Losungsversuch dieses 
Problems noch nicht vorwegnehmen. 

Wer aber vermeint, die Ergebnisse der Einzelwissen- 
schaften, denen doch gewisse erkenntnistheoretische Ansichten 
zugrunde liegen, wiirden nun so lange hinfallig, als nicht die Wahr- 
heit einer dieser erkenntnistheoretischen Grundpositionen absolut 
feststunde, der vergifit: daC die Einzelwissenschaften Einsichten 
erarbeiten, die zwar immer imGewand einer erkenntnistheoretischen 
Grundanschauung auftreten — der Physiker spricht von der Materie 
an sich, der Historiker von der Seele der Konige, der Mediziner 
vom Gehirn als Trager des Geistes — daC sie aber, auch dieses 
Gewandes entkleidet und in eine andre terminologische Haut ge- 
steckt, den wirklichen Wahrheitsgehalt nicht zu verlieren pflegen. 
Denn gerade die tieierdringende Forschung ergriindet immer mehr die 
gesetzm£fiigen Beziehungen zwischen und an den Dingen und 
weniger die Dinge selbst, ja lost die letzteren geradezu in einen 
Komplex solcher Beziehungen auf; dadurch aber konnen ihre Ergeb- 
nisse in jede philosophische Sprache meist unschwer ubemommen 
werden, die nur diese Beziehungen nicht angreift, iiber den Begriff 
desDinges aber denken mag, wie sie will. Wenn der Historiker von 
der grofien Oder niedrigen Seele eines Herrschers redet, so meint 
er damit eigentlich nur, dafi dieser auf die und die Motive mit 
moralisch hoch- oder tiefwertigen Gedanken, Gefuhlen, Willens- 
regungen zu reagieren pflegte, und ob es Seelen gibt oder nicht, 
ist fur den Sinn seiner Behauptungen irrelevant Auch fur den 
Physiker verschafft mehr die Konstanz in alien aufieren Erschei- 
nungen als ihre grundsatzliche Unabhangigkeit vom Geiste der 



21 % 


Enter Absdmitt. Die griechische Skepsis. 


Materie das Epitheton „an sich“; und der Mediziner legt, solange 
er in den Grenzen seiner Wissenschaft verharrt, kein Gewicht 
darauf, dafi unser Gehim wirklich das „Organ“ oder der „Trager“ 
der geistigen Funktionen sei, sondern nur, dafi zwischen Gebim 
und Geist regelmafiige und wechselseitige Beziehungen obwalten. 
Alles ubrige ist ihm, wie den andem, uberflussige erkenntnistheo- 
retische Zutat, blofie fagon de parler, die den Kern seiner Ansichten 
unberuhrt laflt. Gerade die doppelte Kommentierung der natur- 
wissenschaftlichen Ergebnisse, die wir vorher kennen gelemt batten, 
ist in dieser Hinsicht lehrreich, weil typisch. Dnd so erregt das 
Zugestandnis von der Moglichkeit verschiedener erkenntnistheo- 
retischer Positionen gegen den Wert der Arbeit der Einzelwissen- 
schaften keine Bedenken mehr. 

Oberschaut man die skeptischen Gedankenreihen als Ganzes, 
so staunt man, dafi diese scharfsinnigen Manner in ihrer Er- 
kenntnistheorie sich oft so nahe an der Grenze fruchtbarer 
Entdeckungen bewegen , ohne doch je den entscheidenden Schritt 
zur Eroffnung neuer Bahnen getan zu haben. In der Theorie der 
sinnlichen Wahmehmung weisen sie mit einer Ausfuhrlichkeit auf 
den Anteil des Subjekts an der Bildung der Vorstellungen bin, 
wie es im Altertum nie zuvor geschehen war; und doch streifen 
sie an keiner Stelle den Gedanken } dafi die subjektiven Zutaten 
den Inhalt der Vorstellungen erschopfen kdnnten, und dafi, wenn 
man die Existenz unabhangig vom Subjekt bestehender Dinge 
fallen liefie, auch alle Griinde des Zweifels an dieser Erkenntnis- 
art mit hinwegfielen (extremer Idealismus). Sie werfen die Frage 
aut, ob nicht weniger Eigenschaften, als wir an den Dingen wahr- 
nehmen, und nur gewisse von den wahrgenommenen den Dingen 
selbst zukommen konnten; aber sie finden die Kraft nicht, die 
Eigenschaften daraufhin zu untersuchen und durch eine nach lo- 
gischen Gesichtspunkten vollzogene Trennung derselben in objek- 
tive und subjektive einen zweiten Ausweg aus den skeptischen 
Folgerungen zu eroffnen (gemSLfiigter Realismus). Die Mdglichkeiten, 
den Skeptizismus gegen die sinnliche Erkenntnis zu uberwinden, 
deren jede eine bestimmte Art der Aufhebung der naiv-realistischen 
Voraussetzungen bedeutete, waren bereits zur Zeit Pyrrhos an- 
geschlagen worden. Die Cyrenaiker hatten hier den extremen 
Idealismus vertreten und alle Empiindungen als rein subjektive 
Zustande (itaSrrj) ohne Hinweis auf an sich bestehende Objekte 
aufgefafit. Demokrit hatte den grundsatzlichen Standpunkt des 



Drittes KapiteL Die Kritik der griechischen Skepsis. 


219 


gema&igten Realismus mit der Ansicht verkundet, daG alle sinn- 
lichen Qualitaten rein subjektiven, die mathematisch - physikalischen 
Eigenschaften aber realen Bestand besaGen. Ja selbst die 
Passivitat des Subjekts beim Zustandekommen der sinnlichen 
Wahmehmung , dieses standige Element jedes extremen Realismus, 
war schon in dem erkenntnistheoretischen Apergu eines Prota- 
goras und Empedokles von der 99 Gegenbewegung im Subjekt* 
durchbrochen worden. In welchem Grade diese Richtungen einem 
Manne wie Sextus vertraut waren, welchen EinfluG Demokrit 

1 

und die Sophisten auf die Begrunder des Skeptizismus geubt haben, 
ist bekannt. Auch ist es merkwurdig, wie Sextus, wo er auf die 
Erkenntnislehre Demokrits oder der Cyrenaiker zu sprechen 
kommt, gelegentlich eine extrem-idealistische oder gem&Gigt-rea- 
listische Bemerkung unterflieGen l2Gt, gewissermaGen gegen seine 
Absicht, mit fortgerissen von der Anschauungsart dieser Manner. 
Und trotzdem halt er hartnackig an seinem Standpunkt fest Wie 
ist dies bei dem hohen Grad von Kritik, welcher diesem Skep- 
tiker wie seinen Vorgsingem im einzelnen eigne t, zu verstehen? 
Nur so, daG diese Manner die dunkle Ahnung gehabt haben mogen, 
daG ihr totaler Skeptizismus einzig auf dem Boden eines totalen 
Realismus erbluhen konne. Nun ware es ja fur einen Philosophen 
ein ubler Grund, an gewissen Voraussetzungen nur darum fest-: 
zuhalten, um zu bestimmten Ergebnissen gelangen zu konnen. 
Einen Irrtum aufzugeben, wenn man ihn eingesehen, hat seit je 
als die Tugend des theoretischen Erkennens gegolten. Und in 
der Tat ware das (man mochte sagen) krampfhafte Festhalten an 
den naiv-realistischen Voraussetzungen bei einer so kritischen 
Richtung unverstandlich, waren uberhaupt theoretische und nicht 
in erster Linie praktische Motive die treibenden in dieser Philo- 
sophic gewesen. Die apxfl der Skepsis aber war das Bestreben, die 
Ataraxie, die Apathie, und dadurch die Eudaimonie zu erlangen; 
und Mittel dazu war das philosophische Ergebnis einer vorlaufigea 
Unmoglichkeit des Erkennens. Wo aber ethische Beweggriinde, zu- 
mal in ethisch intensiv empfindenden Epochen oder Individuen die 
Fuhrung desPhilosophierens ubernehmen, da erscheint eine Triibung 
auch des scharfsinnigsten Verstandes auf bestimmten Punkten nicht 
xnehr wunderbar, mag derselbe nun einem antiken Skeptiker oder 
einem Kant, Schopenhauer, Nietzsche zu eigen sein. 

So sehen wir die scheinbar freieste, unabhangigste und kritischste 
Philosophic des Altertums auf naiv-dogmatischen Voraussetzungen 



220 


Erster Abscfanitt Die griedrische Skepsis. 


fufien, welche in gewissem Sinne unter dem erkenntnistbeoretischen 
Niveau andrer Denker ihrer Zeit geblieben sind. Aber nur auf 
dieser Basis liefien sich die skeptischen Ergebnisse mit solcher 
Wucht entwickeln, wie es ein Teil der Menschheit in der muden, 
verfallenden Welt damals bedurfte. Wissenschaftlich wertvoll bleibt 
der pyrrhonische Skeptizismus trotz dieser Ruckstandigkeit Denn 
durch ihn wurde eigentlich der extrem - realistische Standpunkt in 
der Erkenntnistheorie, den er sich selbst zur Voraussetzung wahlte, 
zu Tode getroffen; mogen andre Denker des Altertums schon teil- 
weise diesen Standpunkt verlassen haben, seine Selbstaufhebung 
erfuhr er erst dadurch , daC die Pyrrhoniker mit unerbitdicher 
Kritik seine letzten Konsequenzen zogen — die skeptischen. In- 
dem diese Manner aus einer Form des naiven erkenntnistheore- 
tischen Dogmatismus kritisch den Skeptizismus entwickelten, machten 
sie die Bahn frei fur andre positive Formen, die nun nicht als 
Voraussetzungen angenommen, sondem als Ergebnisse erarbeitet 
wurden, und welche den skeptischen Folgerungen entgingen. In 
der Tat hat die in der neueren Zeit frisch erbluhende Erkenntnis- 
theorie in ihren klassischen Vertretem wohl nie wieder auf den 
extremen Realismus zuruckgegrifien. Sie suchte neue Positional, 
welche den gefahrlichen Folgerungen der Skepsis nicht verfallen 
konnten, zum Teil ausdrucklich in Hinblick auf diesen VorteiL 
Noch heute ringen diese Richtungen um die Herrschaft ; der extreme 
Realismus dagegen, die Voraussetzung des Pyrrhonismus, darf fur 
die Wissenschaft als iiberwunden gelten. 


Es eriibrigt noch zum letzten Tropus: von dem Wider- 
streit der Meinungen auf alien Gebieten, ein paar kritische 
Bemerkungen zu machen. Dieser Tropus greift, obwohl seine 
Zugehorigkeit zu den Aenesidemschen Weisen von vomherein 
das Gegenteil vermuten liefi, weit uber die Polemik gegen das 
sinnliche Erkennen hinaus. Er richtet sich gegen die Moglichkeit 
jedweder Erkenntnis, und nur sein Platz in der Darstellung 
im vorigen Kapitel — durch Aenesidem, nicht von der Sache 
vorgeschrieben — fordert auch die Beurteilung an dieser Stelle. 

Der zehnte Tropus beruht auf einer Erwagung, deren prak- 
tische und theoretische Bedeutung in gar seltsamem Gegensatz zu- 
einander stehen. Praktisch ist er vielleicht der wirksamste 
aller skeptischen Gedanken gewesen, theoretisch ist er 



Drittes KapiteL Die Kritik der griechischen Skepsis. 


221 


— deren schwachster. Die Grunde dafur sind nicht weit her- 
zuholen. Die praktische Wirkung einer Einsicht mifit sich an dem 
Grade, in dem diese auf unser Gemtit, auf unser Wollen und Fiihlen, 
auf den Kern unserer Personlichkeit Einflufi gewinnt. Und da mufi 
man allerdings sagen: es braucht jemand noch kein zaghafter Geist 
zu sein, um hoffnungslos zusammenzusinken vor den iiberwaltigen- 
den Massen von Meinungswiderspruchen, die sich uberall vor ihm 
auftiirmen; besonders hoch, wo um die Losung der fur unser 
Weltbild entscheidendsten Fragen gekampft wird (namlich der 
spezifisch philosophischen und der Grenzfragen der Einzelwissen- 
schaften); besonders hoch auch, wo gerade die berufensten, nam- 
lich die bedeutendsten Kopfe sich an diesem Kampf beteiligen. 
Denn unentrinnbar kommt die Oberzeugung liber ihn: der Ein- 
zelne — sei er auch noch so grofi — ist nicht imstande, eine 
philosophische Gewifiheit, eine theoretisch sichere Erkenntnis vom 
Wesen der Welt, des Menschen, des Lebens zu gewinnen. Das 
gilt heute noch so gut wie vor zweitausend Jahren. Aber mag 
der xponog Ik dioupcorlaz aus psychologisch noch so verstandlichen 
Ursachen im Einzelnen tiefste Niedergeschlagenheit erzeugen, ihm 
die qualendsten Zweifel an der Mdglichkeit einer Erkenntnis auf 
alien sein Inneres bewegenden Fragen eingeben und so den emst- 
zunehmenden Stimmungskeptizismus hervorrufen — nimmer- 
mehr kann er die grundsatzliche Unmoglichkeit der Erkenntnis 
fur den von Zeit und Ort unabhangigen Menschengeist beweisen. 
Denn wo einst Widerspruch herrschte, besteht heute Einigkeit; 
(etwa in der Frage nach der Konstanz der Arten); und wo heute 
noch Widerspruch besteht, dessen Umfang wir weder leugnen noch 
herabstimmen wollen, wird oder kann doch einst Einigkeit herrschen. 
Nut eine Erschutterung der Erkenntnisprinzipien selbst, nicht ein 
Aufzeigen von zurzeit bestehenden Mangeln in ihrer Anwendung, 
ist ein emstzunehmendes Argument fur den philosophischen Skep- 
tizismus, wenigstens fur denjenigen Begriff desselben, welcher 
diesen Untersuchungen zugrunde liegen sollte (vgl. S. XVIII). Obrigens 
mag hier, wie auch sonst, eine Erscheinung, die dem Einzelnen 
zum Leidensborne wird, fur die Entwicklung und Okonomie des 
Ganzen von unabsehbarem Nutzen sein. Mit Recht bemerkt 
daher Hegel unter diesem Gesichtspunkte, dafi die Kategorie 
der Verschiedenheit eine sehr kahle und Verschiedenheit der 
Ansichten in grundsatzlichen Fragen nicht „ein trockenes Ist“ sei, 
sondem wesentlich Prozefi. Damit meinte er, dafi diese Ver- 



222 


Erster Abschnitt. Die griechische Skepsis. 


schiedenheiten nicht beziehungslos gegeneinander stehen, sondem 
dafi die heterogenen Philosophien die gleichen Dinge unter andera 
Gesichtswinkeln beleuchten, den Reichtum ihrer Eigenschaften da- 
durch erst entdecken , am Ende aber eine Versdhnung der Wider- 
spriiche und dadurch eine Erkenntnishohe moglich mac hen, die 
ohne die Stufen diescr Antithesen niemals hatte erklommen werden 
kdnnen. Inwieweit aber diese oder auch eine nuchternere Ansicht 
von der Moglichkeit zukiinftiger Erkenntnis den Stimmungskepti- 
zismus im Individuum aufzuheben vermag, das hangt in erster 
Unie davon ab, inwieweit das Individuum sich und sein Gluck, 
inwieweit es dieWahrheit und deren Beforderung liebt, ob es im- 
stande ist, auch seine Stimmungen nicht fiber dem eigenen Er- 
kenntnisgluck, sondem fiber der Ansicht auf zukiinftigen Erkennt- 
nisfortschritt aufzubauen, aus unpersdnlichen Grfinden personliche 
Leiden zu fiberwinden und so neue Hoffnungen zu schopfen. 

in. Die rationale Skepsis. 

Wir fahren in der Beurteilung der slceptischen Theorien fort 
und gelangen zur Kritik der Angriffe auf das vernfinftige Er- 
kennen (im Gegensatz zur sinnlichen Wahmehmung). Gelingt es 
nicht, diese Angriffe abzuschlagen, so schweben auch alle unsre 
Versuche, die LeistungsfShigkeit der sinnlichen Erkenntnis der 
Skepsis gegeniiber zu retten, haltlos in der Luft. Denn nur unter 
der Annahme von der Giiltigkeit der logischen Operationen liefi 
sich durch das Medium der Sinne von den Dingen irgend etwas 
erkennen. 

Aber eben diese Giiltigkeit bestreitet die Skepsis; und sie 
bestreitet sie fur alle Teile des vemiinftigen Erkennens. Folgt 
hier die Beurteilung, wie billig, den Pfaden der Darstellung, so 
hat sie sich zunachst mit der skeptischen Mifiachtung der Begriffe 
auseinanderzusetzen. 

Hier ist nun mehr die Unvollstandigkeit in den Aussagen als 
die Fehlerhaftigkeit derselben hervorzuheben. Denn das eigent- 
hche Ziel der Skepsis: die reale und objektive Ungiiltigkeit der 
Gattungsbegriffe darzutun, kann als erreicht angesehen v^erden. 
Wir erkennen durch dieselben keinerlei unabh&ngig von unsem 
willkiirlichen Gedankenbildungen vorhandene Dinge, die diesen 
Begriffen entsprachen, weil es solche Dinge — Qberhaupt nicht gibt. 

In alien Abschnitten der Geschichte hat sich der Kampf um 
diese These wiederholt; immer wieder sind die drei monumentalen 



Drittes Kapitel. Die Kritik des griecfaiachen SkeptizUmus. 


223 


Standpunkte, wie sie die Antike grundsatzlich ausgebildet hatte, 
in diesem Kampf offen oder verhullt zutage getreten. Im Alter- 
turn hatte Plato in grofiartiger Einseitigkeit die Gegenstande der 
Allgemeinbegriffe ein selbstandiges Dasein fuhren lassen, als „Ideen u 
in einer transzendenten Welt — alle Versuche, an dieser grotesken 
Tatsache etwas andem zu wollen, sind gescheitert Der Mensch 
erkennt diese real -transzendenten Objekte, die Idee des Holzes, 
des Dreiecks, der Schonheit vermdge der Begriffe, die er a priori 
aus seiner fniheren Heimat, dem jenseitigen Reich, mit auf die 
Welt bringt; beim denkenden Betrachten der Einzeldinge dammert 
die Erinnerung an das einst Geschaute wieder auf, und die „Idee (( 
wird im Begriff erfafit Aristoteles hatte den Begriffen jede 
transzendent- reale Geltung geraubt, um ihnen — eine immanent- 
reale zu erteilen. Gegenstand des Begriffs ist das Wesen der 
Einzeldinge, die „Form <( , der „Zweck“ derselben; es existiert real 
nur in den Dingen, aber als der wichtigere Teil derselben, als ihr 
a priori demWerte nach. Erkannt wird dieses Wesen durch die 
Beobachtung und Erforschung des Einzelnen (auf induktivem oder 
deduktivem Wege), aus der sich der Begriff nicht als ein in uns 
liegender, sondem als ein erworbener aufbaut. Die Stoiker 
endlich liefien den Allgemeinbegriffen gar keinen Realitatswert 
aufierhalb des menschlichen Geistes, und sahen in ihnen nur spate 
Abstraktionsprodukte des Denkens, nichts Real-Objektives, nur 
Ideal -subjektives, avvnapxra. — Im Mittelalter wird das 
gleiche Problem im sogenannten Universalienstreit eingehend be- 
handelt und von den namlichen drei Seiten aus beleuchtet 
Manner wie Anselm von Canterbury und Scotus Eriugena halten 
an der platonischen Auffassung von der realen Praexistenz der 
„Ideen“ fest: universalis sunt ante rem; wdhrend die Klassiker der 
Scholastik, Thomas von Aquino, Alexander von Hales, Albertus 
Magnus, naturlich des Aristoteles Spuren folgend, aber geschickt 
die gegnerischen Ansichten zu sich hinuberziehend, behaupten: die 
Universalia existieren real nur in den Einzeldingen, vor denselben 
als SchdpfungsgedankenGottes, nach denselben im abstrahierenden 
Bewufitsein des Menschen. Die Herabsetzung der Allgemeinbegriffe 
zu blofien Namen endlich geschieht durch die Vertreter des 
Nominalismus, Roscellin, Occam u. a. Und auch in der Art der 
Aneignung der Begriffe, in dem Hin- und Herschwanken zwischen 
a priori und a posteriori, wiederholt sich der gleiche Gegensatz 
wie in der Gultigkeitsfrage. — Die Neuzeit aber sieht die grofien 


224 


Enter Abschnitt. Die griechische Skepeus. 


rationalistischen Systematiker (mag man die Werke eines Des- 
cartes, Malebranche, der Cambridger Intellektualisten , Spinozas oder 
Leibniz' daraufhin durchgehen), trotz bedeutender Abweichungen 
in der Bestimmung der Begriffe und der Art ihres Zustande- 
kommens, im ganzen auf Seiten des scholastischen Realismus, 
wahrend die empirischen Denker von Bacon bis Hume dem No- 
minalismus das Wort geredet haben. Die entscheidendsten SchlSge 
gegen die objektive Giiltigkeit der allgemeinen Begriffe wurden 
von Locke und Berkeley gefuhrt; von Locke durch den Nach- 
weis im einzelnen, dafi keines dieser Gebilde vor der Erfahnmg 
in uns liege, dafi sie vielmehr alle nur Ergebnisse des (die ein- 
zelnen Erfahrungselemente) verbindenden, beziehenden, vergleichen- 
den Denkens seien, dafi aber das Denken alien Stoff fur seine 
Urteile fiber objektive Realitat nicht aus sich, sondem nur aus der 
Wahmehmung zu schopfen habe. Berkeley, noch radikaler vor- 
gehend, bestritt nicht nur den a priorischen Ursprung, nicht 
nur die reale und objektive Giiltigkeit der allgemeinen Begriffe, 
sondem deren Existenz in jedwedem Sinne. Da niemand imstande 
ist, irgend einen allgemeinen Begriff sich vorzustellen, etwa den Be- 
griff eines Dreiecks, das weder recht- noch stum pf- noch spitzwinklig 
sei, so fuhren die allgemeinen Begriffe nur eine Existenz in Worten, 
nicht einmal in Vorstellungen. Sie sind nicht nur objektiv, sie 
sind auch subjektiv unwirklich. Mit diesem Vemichtungsschlag 
war eigentlich die Frage nach der Existenz der allgemeinen Be- 
griffe erledigt, und nur in verschamter und verhfillter Gestalt wagen 
sie es, in Kants Lehre vom „Schematismus“ als „ Monogramme 
der Einbildungskraft 1 ‘ fast als Gespenster wieder zu erscheinen* 
Da versuchte sie endlich noch einmal Schopenhauer zu neuem 
Leben zu erwecken: die platonischen Ideen treten als eine meta- 
physische Realitat 2. Grades bei ihm auf, als Objektivationsstufen 
des Willens, schwebend zwischen dem zeit- und raumlosen ur- 
einen Ding an sich und der Ffille der raumlich-zeitlichen Er- 
scheinungsweisen, — als raum- und zeitlose Vielheit Schopen- 
hauers Auffassung nimmt somit eine sonderbare Mittelstellung 
zwischen der Platonischen und der Aristotelischen Lehre ein. Er- 
kannt aber werden die Gattungsrealitaten nicht durch den abstrakten 
Begriff, sondem durch die kfinstlerische Intuition. Seitdem hat sich 
wohl die fiberwaltigende Mehrheit der wissenschaftlichen Philo- 
sophen auf die Seite der Antirealisten (in scholastischer Termi- 
nologie geredet) geschlagen. 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 


225 


In diesem Jahrtausende wahrenden Streite sind die Nomi- 
nalisten die Sieger geblieben. Wir haben hier eines der wenigen 
philosophischen Probleme vor uns, das man ohne Cbertreibung 
als erledigt bezeichnen darf. Da sich naturlich im Lauf der Ge- 
schichte eine Menge andersartiger Fragen mit ihm verwoben und 
seinen Kern verhullt haben, gilt es, dasselbe noch einmal inner- 
halb seiner eigentlichen Grenzen genau zu fbderen. Es handelt 
sich um die Frage, ob den allgemeinen Begriffen, unabhangig 
davon, dafi sie einen willkurlich 67 ) gebildeten Bewufitseinsinhalt 
des Subjekts ausmachen, eine eigene Wirklichkeit zuzuschreiben 
ist. Dabei sind unter den allgemeinen Begriffen nur die Gattungs- 
begriffe zu verstehen, d. h. also inhaltlich erfullte Begriffe, 
die vielen erfahrbaren Einzeldingen gemeinsame Eigenschaften in 
sich enthalten; also etwa die Gattungsbegriffe Baum, Mensch, Pferd, 
die alien B&umen, Menschen, Pferden gemeinsame Qualitaten in sich 
bergen. Ganz unberiihrt von dieser Frage aber bleibt der Wirk- 
lichkeitswert formaler Verstandeskategorien, die Kant bekannter- 
weise gleichfalls mit dem Ausdruck „Begriff“ belegt hat, und 
welcheFunktionen des Subjekts sind, die durch eine schopferische 
Synthese des Bewufitseins den Stoff der sinnlichen Empfindungen 
zur Einheit des Gegenstandes binden. Ob in mir solche Funk- 
tionen vorhanden sind, durch welche mein Geist das Nebenein- 
ander von Weiflempfindungen zur einheitlichen Vorstellung „ weifie 
Lime “ zusammenfafit, und welcher Wirklichkeitswert diesen Pro- 
dukten des verbindenden Denkens dann zukommt, das hat mit 
dem Problem, welcher Wirklichkeitswert der Weifie oder der 
Lime als Gattung aller einzelnen Weifie und Linien unabhangig 
von ihrem willkurlich gebildeten Begriff zukommt, kaum einen Be- 
ruhrungspunkt. Die erste Frage mufi hier um so mehr unberuck- 
sichtigt bleiben, als weder die Verteidiger des Objektivitatswerts 
aligemeiner Begriffe noch ihre skeptischen Gegner, deren Lehren 
unsre Untersuchung gilt, wohl jemals dabei an die Wirklichkeits- 
oder Unwirklichkeitsgeltung rein formaler Synthesen gedacht haben, 
die apriorische Voraussetzungen jeder einzelnen Dingvorstellung 
sein sollen; sondem stets nur an den Wirklichkeits- oder Un wirk- 
lichkeitswert inhaltlich erfullter Gattungsvorstellungen, welche Teile 
der Einzeldingvorstellungen irgendwie in sich bergen. Innerhalb 
dieser Auffassung machen sich vorzugsweise zwei Richtungen 
geltend, deren Gegensatz in dem Widerstreit zwischeil der Pla- 
tonischen und der AristotelischenErkenntnistheorie bereits vorgebildet 

Richter, Skeptixismat. 15 


22 6 Enter Abedudtt Die griedriadie Skepos. 

ist. Man kann sie als die periphere und als die zentrale Auf- 
fassung bezeichnen. Nach der einen — Sokrates- Plato sind ihre 
Schopfer — erscheinen die Gattungen vorzugsweise als die Spharen 
der unter sie begriffenen Einzeldinge; die Gattungen enthalten das 
v Generelle. (Der Baum also setzt sich aus den gememsamen 
Eigenschaften der Einzelblume zusammen; er hatWurzeln, Stamm, 
Blitter; wlchst, vergeht usw.). Nach des Aristoteles und seiner 
Nachfolger ungleich tieferer Deutung aber ist die Gattung der 
QueUpunkt, welcher das Wesen (ro ft fpr drat) der einzelnen 
! Arten darstellt; die Gattung ist das Essentielle. (Der Baum 
also enthielte die physiologischen Merkmale, die zum Wachsen, 
Wurzeln schlagen, Blilhen, Welken usw. erforderlich sind.) Beide 
Sorten von Gattungsbegriffen nun sind durch unser ab- 
strahierendes Denken gebildete Vorstellungen und weiter 
ni chts. Die Schwierigkeiten , ihnen ein andres Dasein zuzuschreiben, 
hatte die Skepsis scharfsinnig bei beiden der Reihe nach hervor- 
gehoben. 

Aber zu diesen Schwierigkeiten treten als zwingende Gegen- 
instanzen gegen ein solches Dasein vor allem: die Genese dieser 
Begriffe und die Oberflussigkeit wirklicher Gattungen. Der 
periphere, zugleich der popullre Gattungsbegriff, kommt dadurch 
zustande, dafi ich die besondem Eigenschaften einzelner Dinge, 
z. B. der Rosen, fallen lasse, die Art ihrer Farbe, ihres Duftes, 
ihrer Grofie, und auf die gemeinsamen (Bluhen im Sommer, all* 
gemeine Form , gewisse Grenzen der Grofie usw.) reflektiere. Der 
zentrale, zugleich der wissenschaftliche Gattungsbegriff, wird ge- 
bildet, indem ich, weniger auf der Oberfilche haften bleibend, 
mehr in die Tiefe dringe, im ubrigen aber die nimliche Operation 
des Absehens von einigen, des Reflektierens auf andre Eigen- 
schaften vollziehe; — unter dem Gesichtspunkt, nicht so sehr die 
generellen und individuellen, sondem die essentiellen und acci- 
dentellen Qualitlten voneinander abzusondem; also diejenigen 
Eigenschaften ausfindig zu machen, mit deren Vorhandensein die 
Existenz einer Rose, welcher Art auch immer, gesetzt ist. Vor- 
Uufig, in unserm Beispiel, ein noch unerreichtes Desiderat, ist dodi 
die physiologische Botanik grundsltzlich darauf aus, die Gattung 
„Rose u auf diese Weise in einer chemischen Formel zu be- 
greifen. Die ganze Rolle, die unser Denken dabei spielt, lafit es 
von vornherein als ausgeschlossen erscheinen, den Gattungen noch 
eine andre Existenz neben ihren B^riffen zu bdassen. Biingt es 


Diittes K&pitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 


22 7 


doch nicht einmal das Bewufitsein fertig, ihnen als einheitlicher 
Gegenstandsvorstellung innerhalb seiner selbst ein Dasein zu 
verschaffen. Dafi die peripheren Gattungsbegriffe als gegen- 
st&ndliche Vorstellungen von unserm Geist nicht erfafit werden, 
sondera zun&chst nur ein Wort enthalten, zu dessen Interpretation 
beliebige einzelne Vorstellungen als Illustrationen und Reprfi- 
sentationen , aber niemals als adaequate und erschdpfende „ Mono- 
gramme der Einbildungskraft “ herangezogen werden kdnnen , hat 
Berkeley wohl fur immer dargetan. Die zentral gebildeten Gattungs- 
begriflfe aber teilen diese Art von Unvorstellbarkeit , weil der wissen- 
schaftliche Begriff einer Gattung von Einzeldingen, der das not- 
wendig aneinander Gebundene, wenn mdglich in einer mathematisch- 
physikalischen Formel, festzuhalten sucht, grunds&tzlich von den 
sinnlichen Empfindungsbestandteilen absieht; dadurch aber wird 
der Begriff wiederum von jedem gegenstindlichen Vorstellen aus- 
geschlossen und ganz in das Reich des Gedankens, besser noch 
des Denkens verwiesen. Denn etwas Unsinnliches ist wohl denk- 
bar, aber nicht im obigen Sinne vorstellbar. So sind die All- 
gemeinbegriffe blofie Formeln, Denkakte, nicht Bewufitseins- 
inhalte. Mit dieser Unvorstellbarkeit wire die Wirklichkeitsfrage 
fur den extremen Idealisten , dem einzig die sinnliche, gegebene 
Empfindung das Kriterium fur alle Wirklichkeit ist (vgl. S. 190), 
erledigt. Aber — so konnte man entgegnen — der gemifiigte 
Realist gestand ja auch den gegenstindlich unvorstellbaren und 
nur begrifflich denkbaren, mathematisch - physikalischen Konstella- 
tionen gegenstandliche Realitat zu (vgl. S. 172). Warum sollte das 
n&mliche nicht auch mit den nur denkbaren Gattungsbegriffen der 
Fall sein? Dieser Einwand iibersieht, dafi zur Annahme objektiver 
Wirklichkeit nicht jeder beliebige, begriffiiche Gedanke geniigt, 
sondem zwingende Veranlassungen vorliegen mQssen. Dieser Zwang 
war in dem Passivititsgefuhl oder dem Wirklichkeitsbewufitsein 
gegeben, das die unmittelbaren sinnlichen Wahmehmungen be- 
gleitete. Hier lag das Motiv, das den Realisten trieb, den einzelnen 
Wahmehmungen solange realen Gfiltigkeitswert zuzuschreiben, als 
keine Widerspruche daraus entstehen wurden. Um solchen zu 
entgehen, sah er sich spiter gezwungen, die sinnlichen Qualititen 
ins Subjekt zuruckzunehmen , und die allerdings nur begrifflich 
fafibaren Eigenschaften reiner Raum-, Zeit- und Massenverhalt- 
nisse nicht wegen, sondera trotz ihrer (in ihrer Isolation) unsinnlichen 
und rein gedanldichen Merkmale dem Objekt als reale Eigenschaften 

* 5 * 



228 


Enter Abschnitt Die griedusche Skepeis. 


und als Rest seiner kritischen Analyse zu belassen. In unsenn 
Falle aber liegt nicht der geringste Zwang vor, den Gattungs- 
begriffen Wirklichkeitswert zuzugestehen. Denn sie stammen ja 
in keinem ihrer Teile unmittelbar aus der sinnlichen Wahr- 
nehmung, und fuhren weder ein Passivitatsgefuhl noch ein ursprung- 
liches Wirklichkeitsbewufitsein mit sich. Insoweit sie aber mittelbar 
auf unmittelbaren sinnlichen Wahrnehmungen fufien, da sie aus 
solchen zu unsinnlichen Gebilden abstrahiert sind, ist dera Wirk- 
lichkeitsbedurfnis mit der Objektivitat eben dieser einzelnen Dinge, 
als den Gegenstanden der Wahrnehmungen, Genuge getan. Der 
Ursprung der Allgemeinbegriffe gibt also in keinerWeise Anlafi, 
sie aus der Sphare des Bewufitseins hinaus zu projizieren. 

Dazu konnte man sich nun trotzdem bewogen fuhlen , wenn 
etwa die Wirklichkeit von Gattungen, hypothetisch angenommen, 
wenigstens den Zusammenhang der Einzeldinge irgendwie verstand- 
licher machte oder zu deren Erklarung etwas beitruge. Aber ein 
Hinweis auf die Naturwissenschaften, denen ja die Durchleuchtung 
der physischen Wirklichkeit, ein Hinweis auf die Psychologie, der 
die Durchleuchtung der psychischen Wirklichkeit zugefallen ist, 
belehren uns, dafi dem ganz und gar nicht so ist. Der Physiker 
bedarf ebensowenig der Annahme, dafi die Anziehungskraft un- 
abhangig von den einzelnen Massenteilchen besteht, zu deren 
Eigenschaften sie gehdrt, wie der Psychologe der Annahme be- 
darf, dafi das Wollen unabhangig von den einzelnen Willensakten 
existiert. Und in der organischen Natur, im Pflanzen- und Tier- 
reich, wo die Gattungen und Arten auf den ersten Blick ein be- 
sonders selbstandiges Dasein zu fuhren schienen, ist selbst ihr 
begrifflicher und klassifikatorischer Wert durch die Einsicht be- 
deutend herabgemindert worden, dafi die absolute Konstanz der 
Arten sich nicht aufrechterhalten lafit und an der Stelle unuber- 
steigbarer Barrieren zwischen Pflanze, Tier und Mensch und noch 
mehr zwischen deren einzelnen Genera in Wahrheit nur fliefiende 
Grenzen bestehen. Damit ware die Objektivitat von Gattungen, 
schon durch den Ursprung der Gattungsbegriffe hochst unwabr- 
scheinlich gemacht, auch in ihrer Anwendung als etwas vollig 
Oberfliissiges dargetan. Aber der Satz: entia praeter ne- 
cissitatem non sunt multiplicanda hat auch heute noch seine 
Giiltigkeit. 

Da nun die Begriffe die einzigen Elemente sind, durch die 
wir im Bereich der V ernunfterkenntnis wirkliche Gegenstlnde und 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 229 

deren Beschaffenheiten unabhangig von der sinnlichen Wahr- 
nehmung allenfalls hatten erkennen konnen, so folgt daraus: 

1. dafi die Vemunft allein niemals Gegenstande zu erkennen 
imstande ist; 

2. dafi, falls der Skepsis ihr Angriff auf die sinnliche Wahr- 
nehmung gelungen, und auch dies Mittel, Dinge zu erkennen, 
ausscheidet, eine Erkenntnis der Wirklichkeit Qberhaupt un- 
mdglich ist 

Da wir aber nur die erste These der Skepsis unbedingt zu- 
» 

geben, die Pr&missen der zweiten aber ebenso unbedingt bestreiten, 
so erhebt sich noch die Frage: tragen die allgemeinen Begriffe zur 
Erkenntnis der Dinge nicht doch irgend etwas bei? Obwohl die 
Gattungsbegriffe keine wirklichen Dinge unmittelbar erkennen, da 
eskeinWirkliches gibt, das ihnen entspricht, sind sie doch darinvon 
schwer zu iibersch&tzendem Nutzen: das ihnen nicht entsprechende 
Reich der Realitat und der Wirklichkeit, das Reich der einzelnen 
Dinge kennen zu leraen und zu uberschauen. Zwar erkennen wir das 
einzelne Ding (Lafrance-Rose, Eichbaum) in seinen realen und ob- 
jektiven Eigenschaften durch die sinnliche Wahrnehmung und deren 
vernunftige Deutung (wobei die Gultigkeit der logischen Operationen, 
die immer noch Voraussetzung bleibt, bald gesichertes Ergebnis 
sein wird). Aber die nahere Kenntnis der Dinge, das Sichzurecht- 
finden in ihnen und ihrem Zusammenhang wird durch die Gattungs- 
begriffe indirekt ungemein gefordert und erleichtert. Schon die 
gew&hnlichen Begriffsbildungen des alltaglichen Lebens konnen 
uns davon iiberzeugen. Die rohen und oberflachlichen Vergleichungen, 
auf denen des Kindes Gattungsbegriffe fuGen, sind bereits mach- 
tige Erkenntnisvehikel in der geistigen Entwicklung. Solange das 
Wort Pferd dem Kinde nur ein Lautzeichen fur eine einzelne Vor- 
stellung ist, etwa fur das Holzpferd, das es besitzt, ,,erkennt“ es 
durch dieses Wortsymbol gar wenig. Hat es aber einmal erst 
den Kreis seiner Pferdvorstellungen zu einer Art Gattungsbegriff, 
naturlich noch ohne bewufit-logische Reflexion, erweitert, d. h. hat 
es in das Wort Pferd, durch die Ahnlichkeit mit den Formen seines 
Holzpferdes aufmerksam gemacht, auch die Bezeichnung fur viele 
andre Pferdeexemplare aufgenommen, so hat es zur Beantwortung 
der skeptischen Frage: wie sind die Dinge beschaffen? in zwei- 
facher Richtung einen grofien Schritt vorwarts getan. Denn einmal 
hat es Ordnung in einen kleinen Teil seiner Vorstellungswelt ge- 
bracht, durch die Unterordnung einer Menge von Einzelvor- 



230 


Enter AbtchmtL Die griechische Skepsis. 


stellungen unter eine Formel , die zwar im kindlichen Bewufitsein noch 
ohne Definition, doch einer Klammer gleich, die einzelnen Pferde- 
vorstellungen zusammenh&lt; und da diese Formel, zwar selbst eia 
Denkakt, kein Denkinhalt, dennoch sprachlich durch ein Symbol, 
das Wort Pferd, fixiert ist und uberdies jederzeit durch einen be- 
stimmten Denkinhalt reprasentiert und illustriert werden kann (durch 
die reproduzierte Vorstellung eines einzelnen Pferdes), so wird 
sie bald zu einem festen Bestandteil des kindlichen Bewufitseins 
werden. Welchen Vorzug aber jede neue Ordnung und Gliedenmg 
im Chaos unsrer BewuGtseinswelt fQr die Erkenntnis der Dinge 
besitzt, das bedarf keiner Ausfuhrung. Leuchtet es doch ein, 
dafi jemand, der Gold-, Silber- und Papiergeld in verschiedenen 
Abteilen seines Portemonnaies zu tragen pflegt, beim Zahlen einer 
Rechnung weit schneller und sicherer operiert als deijenige, der 
erst mfihsam seine Baarschaft fQr jeden einzelnen Fall nach den 
n&mlichen Prinzipien zu ordnen hat. — Der zweite Schritt betrifft 
nicht den allgemeinen formalen Vorteil, den eine okonomische 
Gruppierung unsrer Vorstellungswelt fQr alles Erkennen abwirft, 
sondera die spezielle Erleichterung, welche die Begriffsbildung 
fQr die Neugewinnung von inhaltlichen Erkenntnissen leistet 
Es wird unser Kind z. B. jetzt mit ganz bestimmten Erwartungen 
an die einzelnen Dinge herantreten, die ihm pferde&hnlich zu 
sein scheinen, wird von vomherein glauben: dafi auch das Pferd, 
das er nur im Stehen und lautlos wahrgenommen hat, laufen und 
wiehem kann, und es wird sich eine Menge sonst nur durch zu- 
f&llige Einzelerfahrungen zu erwerbende Erkenntnisse auf diese 
Weise, durch Anticipationen von den BegrifTen aus, verschaffen. 
Sicherlich wird es mit diesen Anticipationen oft irren, wird z. B. 
glauben, dafi alle Pferde, wie das Pferd im Stall seinen Vaters, 
sanft und fromm sind. Dann wird die Erfahrung, die es nun be- 
fragt, es eines besseren belehren und die Korrektur am Pferde- 
begriff wird die Folge sein. Aber der Begriff Pferd dient schon 
dem Kinde als ,,heuristisches Prinzip“. Die VorgStnge in der kind- 
lichen Erkenntnis und die Rolle, welche der Begriff in ihnen spielt, 
wiederholen sich nun in zweiter und dritter Potenz in dem ge- 
wohnlichen Erkennen des erwachsenen Menschen und in den Er- 
kenntnisprozessen der Wissenschaft. 

Zwar erkennen wir auch hier durch den Begriff selbst keine 
neue Tats&chlichkeit , auch nicht einmal irgend etwas an den Einzel- 
dingen, aus denen wir den Begriff bilden und gewinnen; sondem 



Drittes KapiteL Die Kritik der griechischen Skepsis. 23 1 

dieser Prozefi des Gewinnens und Bildens wird in seinen Ergeb- 
nissen im Begriff deponiert: namlich in den erkannten logischen 
Beziehungen der Einzeldinge zueinander. Die Begriffsbildung 
und -Gewinnung ist der eigentliche Erkenntnisakt, durch 
den ich Neues an den Dingen erkenne, nimlich ihre lo- 
gischen Beziehungen. Ob diesen Relationen irgend welche 
Realitat unabh&ngig von unserm Bewufitsein zugestanden wird, ist 
cine weitere Frage, der die antike Skepsis nicht naher trat, die 
also nicht hierher gehdrt, und welche die verschiedenen Logiker 
und Erkenntnistheoretiker in verschiedenem Sinne entschieden haben. 
Die Allgemeinbegriffe selbst sind also keine Brill en, durch die 
man die Dinge besser erkennen konnte, sondem — Futterale, 
in denen man die durch das vergleichende und trennende Denken 
erarbeketen genaueren Kenntnisse ihrer logischen Beziehungen auf- 
bewahrt. Aber der Besitz eines Systems solcher, untereinander 
nach Grofie und Umfang geordneter Futterale ist fhr das wissen- 
schaftliche Denken eine unerlaflliche Forderung. „Wir h&tten ein 
verwirrendes Chaos von Einzelheiten, von Formen der Dinge und 
Vorgange, welches festzuhalten keiner erinnemden Einbildungskraft 
gelange, wenn sich das vergleichende und unterscheidende Denken 
nicht der Vielheit des Inhalts bemichtigte, hier Gleichheit und 
Ahnlichkeit zu erkennen, dort den Abstand der Unterschiede zu 
messen vermochte. Erst wenn wir das Eine und Gemeinsame in 
dem Vielen herausfinden, scheiden, was in den riumlich und zeitlich 
getrennten Erscheinungen gleich, was in ihnen verschieden ist, 
wenn wir die Unterschiede abstufen und so den Inhalt derselben 
ordnen, wird die Wahmehmung zur wirklichen Kenntnis, kann 
jedes einzelne in ein schon vorhandenes System von Vorstellungen 
eingereiht werden, die als Pradikate unserer Wahraehmungsurteile 
jede einzelne Erscheinung in eine feste und bleibende Vorstellung 
zu verwandeln gestatten. In ihrer idealen Vollendung gedacht, 
fuhrt diese Richtung zu einem allumfassenden System von 
Begriffen, in welchem der ganze Inhalt des Wahrgenommenen 
nach Gleichartigkeit und Verschiedenheit geordnet vorlage, zu einer 
das ganze Gebiet unsrer Wahrnehmungen umspannenden Klassi- 
fikation, der die feste sprachliche Bezeichnung, die wissenschaft- 
liche Terminologie Ausdruck gibt“ (Sigwart.) — Aber damit ist die 
methodologisch wichtige Rolle der Gattungsbegriffe fur unser 
Erkennen noch nicht erschdpft Erschienen die Begriffe soeben als 
Standorte, um die Fulle des gegebenen Stoffs klarer zu uber- 



2 32 Enter Abschnitt. Die griechische Skepsis. 

schauen und dadurch befahigt zu werden, denselben willkurlich 
zu Urteilen, Schlussen und Beweisen zu verwenden, so ermoglichen 
sie es andrerseits, von diesen Standorten in ganz bestimmten 
Richtungen zum Einzelnen herabzusteigen und uber dasselbe be- 
stimmte Voraussagen zu machen. War der Gattungsbegriff vorher 
von der induktiven Seite der Gewinnung her als okonomische 
Zusammenfassung zahlreicher Beobachtungen vom hochsten Nutzen, 
so leistet er, von der deduktiven Seite seiner Anwendung be- 
trachtet, nicht minder gute Dienste. Wieviel neue Aufschlusse 
uber die Eigenschaften der Dinge verdankt nicht die Wissenschaft 
der hypothetischen Anwendung eines vorlaufigen Gattungsbegriffs 
auf die einzelne Erscheinung. Wie oft verlauft nicht ihre Schlufi- 
art also: die Gattung x zeigte bislang immer die Qualitat y — sollte 
das Phanomen z, das in alien sonstigen Merkmalen der Gattung 
x zugehort, nicht auch die Qualitat y aufweisen? Und die Be- 
obachtung, daraufhin angestellt, entdeckte eine bis dahin unbekannte 
Eigenschaft von z. Ein Beispiel mag beide Falle erlautern: mein 
Bewufitsein richtet sich auf eine Gruppe bestimmter Phanomene 
(ein gesehenes Rot, Blau, Griin), die es als einander ahnliche er- 
fafit und deren gemeinsame Eigenschaften es in eine Formel 
zusammenschliefit, mit einem Wort (Farbe) belegt Das Wort 
und auch den Begriff in rohen Umrissen erhalten wir in diesem 
Falle vom popularen Bewufitsein und dessen Sprache geliefert 
Aber das analysierende wissenschaftliche Verfahren entdeckt bald Be- 
ziehungen der Ahnlichkeit zwischen Farben, Tonen, Geschm^cken u.a., 
und Beziehungen der Verschiedenheit zwischen diesen Elementen 
und etwa Gefuhlen der Lust und Unlust; es trennt unter dem 
Begriff der Empfindungen die einen gegen die andem ab. 
Die Empfindungen und Gefiihle zusammen werden wegen gemein- 
samer Merkmale als psychische Gebilde den psychischen Zu- 
sammenhangen gegenubergestellt, psychische Gebilde und Zu- 
sammenhange gemeinsam machen den Begriff der Seele aus usw. 
Soli ich jetzt uber irgend eine beliebige Frage ein Wissen erlangen, 
die nur irgendwie in Beziehung zu den psychologischen Problemen 
steht, z. B. iiber das Verhaltnis von Leib und Seele zueinander — wie 
unentbehrlich ist mir dazu die Ordnung der psychischen Bestand- 
teile; wie unentbehrlich eine ebensolche Gliederung fiir den Korper 
(etwa die Bildung der Begriffe : Centralnervensystem, Blutumlauf, 
Sinnesorgane usw.) Wie schnell werden jetzt wenigstens die ein- 
schlSgigen Untersuchungsgebiete festgesteilt sein zur Klarung der 



Dritte* Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 


233 


Frage; Untersuchung der Pulsveranderungen bei Gefuhlserregungen, 
der Sinnesorgane bei den Empfindungen. — Fur den zweiten Fall, 
die heuristische Rolle des Begriffs betreffend, denke man sich etwa 
Newton folgende Erwagung in genialer Phantasie schauend, die 
wir nur in diirren, abstrakten Operationen hier wiedergeben: der 
Apfel fcLllt zur Erde; alle irdischen Korper werden vom Erdmittel- 
punkt angezogen; sollten nicht die gleichen physikalischen Eigen- 
schaften der Attraktion und Repulsion, die gattungsma&ig alien 
Korpem, also dem Begriff Korper, zuzukommen scheinen, auch 
den Himmelskorpem zu eigen sein? Unmittelbar beobachten konnen 
wir die Gravitation der Gestirne ja nicht; aber mittelbar konnen 
wir uns von der Wahrheit oder Unwahrheit dieser Erkenntnis uber- 
zeugen, wenn wir das Wirken der Gravitation auch in den Ge- 
stimen voraussetzen, und unter dieser Annahme ihre Bahnen be* 
rechnen. Das Ergebnis ist bekannt. 

Somit lehrt uns eine kritische Pnifung der skeptischen Be- 
griffstheorie: Gattungsbegriffe erkennen keine ihnen ad&quaten Ob- 
jekte, keine realen Gattungen — darin hat der Skeptiker recht. 
Aber Gattungsbegriffe sind hochwichtige methodologische Werk- 
zeuge, die Erkenntnis der wirklichen Einzeldinge zu erweitem und 
zu vertiefen. In formaler Hinsicht, indem sie, wie geistige Gelenke 
wirkend, die Beweglichkeit des Denkens ungemein erleichtem; 
material, indem sie zur Auffindung neuer Eigenschaften an dem 
Einzelnen, das der Sphare eines Begriffs irgendwie nahe liegt, an- 
leiten. .Der Skeptiker, der diese Vorzuge leugnet, hat unrecht 


Die Begriffe sind das einzige Element im Bereich des ver- 
nunftigen Erkennens, durch das man wahnen kann, Dinge, d. h. 
hier: unabhangig vom willkurlichen Denken befindliche Objekte 
unmittelbar zu erkennen. DaG auch die Begrifle tatsachlich nur 
logische Operationen, nicht feste Bewufitseinsinhalte sind, liefi sich 
ubersehen. Bei denVorgangen des Urteilens, Schliefiens, Be- 
weisens ist das unmoglich. Hier konnte eine skeptische Polemik 
ihren Angriff gegen die Ungiiltigkeit dieser Funktionen nur so 
fuhren, dafi sie deren „Wahrheit u nicht in dem Sinne bestritt: im 
Urteil, Schlufi und Beweis wiirden keine Objekte erkannt, sondem: 
Urteil, Schlufi und Beweis seien in sich briichige Werkzeuge, die 
auch zu keiner mittelbaren Kenntnis der Dinge etwas taugten. 

Das Problem der Erkenntnis von Dingen oder der objektiven 
Erkenntnis verliert der Pyrrhoniker niemals aus dem Auge. Daher 



2 34 


Enter AbsduritL Die griechiache Skepsis. 


kommt es ihm auch nicht bet, etwa die Verbindlichkeit der logischen 
Axiome als solcher emsthaft zu bezweifeln. Dafi A= A, A nicht 
— Non A, dafi wenn A — B, B = C, A — C sein mufi — das hatte 
auch Aenesidem innerlich gewifl zugestanden; so gut wie er ans 
seiner Anerkenntnis der tpatvo^uva als unmittelbarer Eriebnisse 
kein Hehl machte. Wenn wir dennoch in den Schriften dieser 
Manner auf keine ausdruckliche Zustimmung zu der Verbindlichkeit 
der logisch - formalen Axiome treffen, so ist wohl der Grand dafur 
ein dreifacher: Einmal waren diese Axiome noch nicht eindeutig 
herausgearbeitet worden. Dann tobte der Kampf zwischen den 
logischen Schulen der Zeit; peripatetische, epikureische, stoische 
Logiker bestritten einander die Richtigkeit in ihren Aufstellungen 
rein formaler Denknotwendigkeiten; es schien also doch, dafi selbst 
die formellen Denknotwendigkeiten nicht ganz unbezweifelbar fest- 
standenl (In Wirklichkeit wurden die logischen S&tze entweder in 
komplizierte Verlstelungen verfolgt und dadurch Irrtumsmdglich- 
keiten geschaffen, ihnlich den Irrtumsmdglichkeiten bei Berechnung 
mathematischer Gleichungen; Oder die formalen Axiome waren mit 
Inhalt erfiillt und dadurch bestreitbar geworden.) Endlich bestimmte 
der tief in der skeptischen Schule eingewurzelte Geist der Re- 
signation, ein trotz aller Beweglichkeit der jQngeren Skepsis me 
ganz verlorenes ErbstQck Pyrrhos, das unmittelbare Evidenz- 
gefuhl nur in der Passivitat zu entdecken, und daher die 
Gleichwertigkeit in der Evidenz unsrer passiven inneren 
Erlebnisse und der aktiven logischen Operationen zu 
ubersehen. Aber die Polemik, die sie im Vorubergehen ge- 
legentlich auch gegen die formalen Denknotwendigkeiten selbst 
f&hrten, ist stets nur ein oberfl&chliches Gepl&nkel (von der Art 
des S. 67/68 angefuhrten) , und nach dem auf S. 43 Gesagten fur 
uns kaum in Betracht zu ziehen. Der positive Beweis fur die 
Verbindlichkeit der logischen Normen, d. h. fQr die unbedingte 
Wahrheit aller nur in diesen Grenzen sich bewegenden, also in- 
haltlich nur hypothetisch erfiillten Satze liegt in dem unmittelbar 
empfundenen, unausrottbaren Evidenzgefiihl , das das letzte Kri- 
terium f&r die Wahrheit einer Aussage ausmacht und hier in Idchtester 
Weise durch das Experiment von jedermann jederzeit bes&tigt 
werden kann. Nur wer sein Oberzeugungsgefuhl auszurotten ver- 
mag, das sich an Aussagen von der Art haftet, wie: Sein (wenn es 
solches gibt) ist nicht Nichtsein (wenn es solches gibt) — nur der 
hat das Recht , die Verbindlichkeit der logischen Axiome zu bezweifeln. 



235 


Drittes Kapitel. Die Kxitik der griechuchen Skepsis. 

% 

Worauf es aber dem Pyrrhonismus ankam, und womit es 
ihm blutiger Ernst war, das ist genau das gleiche Problem, das 
fur die moderae Erkenntnistheorie, der die formalen Axiome durch- 
aus a priori gesichert sind, in unverminderter Schwierigkeit auch 
heute noch besteht: inwieweit ist mit Hilfe der logischen Axiome 
auf Grund der sinnlichen W ahmehmungen objektive Erkenntnis 
zu erzielen? Die Skepsis antwortete: Gberhaupt nicht. Und ob- 
wohl sie unter objektiver Erkenntnis stets die Erkenntnis realer, 
bewufitseinunabhangiger Dinge an sich versteht, sind diesmal ihre 
Angriffe um so gefShrlicher, als ihre Waffen nicht mehr in der 
Schmiede des extremen Realismus, vielmehr jenseits von Realismus 
und Idealismus gehammert sind. Jeder, der inhaltlicher Vemunft- 
aussagen bedarf, um objektive Erkenntnis zu gewinnen, mufi den 
skeptischen Einwanden Rede und Antwort stehen. Diese Voraus- 
setzung aber triffit fur alle irgendwie haltbaren erkenntnistheoretischen 
Positionen zu. Denn seitdem die Anschauung des extremen Rea- 
lismus wohl endgCUdg gestiirzt ist, nach der die sinnlichen Wahr- 
nehmungen in ihrer Isolation die Beschaffenheiten bewufitseinunab- 
hangiger Dinge zu erkennen vermogen, bedienen sich gem&fiigter 
Realismus wie extremer Phanomenalismus gleichmifiig inhaltlicher 
Vemunftaussprfiche zur Erforschung der objektiven Wirklichkeit. 
Fiir den gem&fiigten Realismus leuchtet das (nach dem S. 1 72 
daruber Gesagten) von selber ein. Vom Berkeleyaner allerdings 
konnte man glauben, ihm genQge die sinnliche Wahmehmung zur 
Erkenntnis der Dinge, da Ding und Wahmehmung ja fur ihn aus- 
tauschbare Begriffe seien. Aber so sicher nach dessen Bekenntnis 
die sinnliche Wahmehmung stets das Ding selber ist, so sicher 
bedarf auch er zur tieferen Erforschung dieser Wahmehmungen 
oder Dinge — schon um die konstanten Dinge als Objekte der 
Wissenschaft gegenuber den variablen Dingen des popularen Be- 
wufitseins herauszufinden — gleichfalls der inhaltlichen Vemunft- 
aussagen (vgl. S. 199/200). Vollends, wo es sich fur den Realisten 
wie Idealisten nicht um die objektive Erkenntnis eines Dinges, 
sondera von allgemeinen WirklichkeitszusammenhStngen handelt 
(bewufitseinunabhangiger oder - abhangiger Art) , da ist der eine wie 
der andre ohne die Hilfe der Vemunftoperationen g^nzlich lahmgelegt 

Von derBedeutung des eigentlichen Ziels in der skeptischen 
Bekampfung aller V eraunfterw&gungen also durchdrungen, mussen 
wir auch hier die Abwehr von Grund aus versuchen. Der 
Kern der rationalen Skepsis aber war folgender: Alles Urteilen 



236 


Enter Absdmitt Die griechische Skepsis. 


mufi, um als wahr zu uberzeugen, sich begriinden lassen. Alles 
Begriinden und Beweisen bedient sich des Schlufiverfahrens. Dieses 
aber ist kein Organon, das dem objektiven Erkennen dient Deon 
sein Ziel: den Beweis von der Wahrheit eines Satzes zu liefem 
durch Reduktion 68 ) dieses, in seiner Wahrheit zweifelhaften Satzes, 
auf andre , unbezweifelbar wahre Satze ist grundsitzlich un- 
erreichbar. Der konzentrierte Extrakt dieser Polemik ist in den 
drei logischen Tropen (wie man sie nennen kann) enthalten: 
dafi jeder Schlufi, jeder Beweis, wie uberhaupt jede Begriindung 
in die Unendlichkeit hinausfuhre, oder bei einer Hypothese stehen 
bleibe oder sich im Zirkel drehe. Von diesen Einwanden gehoren 
die beiden ersten ersichtlich eng zusammen. Sie sind die beiden 
Glieder einer Alternative: entweder ich mufi von Begrundung zu 
Begriindung steigen, immer weiter ins Unendliche, oder ich 
mache bei einer unbegrundeten Behauptung, also auch einer an- 
zuzweifelnden Behauptung Halt Wir werden gleich sehen, dafi 
die Alternative von der griechischen Skepsis nicht so falsch, als 
schief gestellt ist. 

Zun&chst behalt die Skepsis den gewohnlichen Begrun- 
d ungen des allt&glichen Lebens gegenuber wieder recht 
Wenn ich — um unser fruheres Beispiel heranzuziehen — im All- 
tagleben das Urteil falle: die elektrischen Strafienbahnen sind eine 
wohltatige Einrichtung, und man fragt mich: Warum? d. h. nach 
der Begrundung, so wurde ich etwa antworten: weil sie den Ver- 
kehr erleichtem. Dafi alle Verkehrserleichterungen wohltatige Ein- 
richtungen sind, nehme ich als ausgemacht dabei an. Ich bin mir 
fur gewohnlich nicht bewufit, weder, dafi ich mit diesem Satz 
eine gewagte und wiederlegbare Hypothese ausspreche; noch dafi 
ich wieder nach Begrundung dieses Satzes, nach der Begrundung 
dieser Begrundung usw. gefragt werden kdnnte. Und doch ver- 
mochte ich diesen skeptischen Folgerungen, wenn sie mir ent- 
wickelt wurden, nicht gut auszuweichen. Das liegt daran, dafi im 
gewohnlichen Leben die meisten BegrOndungen, die wir geben, 
nur provisorische sind, und auf strenge Beweiskraft keinen 
Anspruch erheben konnen. Doch nur wenig Menschen sind 
sich dessen bewufit, und die meisten halten ihre Alltagsbehaup- 
tungen als naive Dogmatiker fur streng erwiesene Wahrheiten. 
Hier tut die Skepsis also ein gutes Werk, wenn sie uns alle 
aus der satten logischen Sicherheit und Selbstgefalligkeit energisch 
aufriittelt. 



Drittes Kapitd. Die Kritik dor griechischen Skepsis. 


237 


Ganz anders stellt sich der Fall, wenn man die Frage erhebt: 
behalt die antike Skepsis prinzipiell mit ihren Einwanden recht, 
abgesehen davon, dafi im taglichen Leben oft Schlusse und Be- 
grundungen als solche ausgegeben werden, die es nicht sind; ist 
das Schliefien und Beweisen an sich und unter alien Um- 
standen eine Unmoglichkeit? Die Skeptiker glaubten, diese 
Frage bejahen zu durfen auf Grand des regressus in infinitum oder 
der Hypothese, deren einem von beiden jeder Schlufi notwendig 
verfalle. Demgegenuber ist zu sagen: ins Unendliche braucht man 
sich nicht hinaustreiben zu lassen, wenn man weifi, dafi es aller- 
dings Satze gibt, die zwar die Stiitze aller Beweise, aber selbst 
keines Be weises fahig sind; und von dem skeptischen Argument: 
wenn du nicht ins Unendliche hinausgetrieben sein willst, so mufit 
du bei einem hypothetisch angenommenen, unbewiesenen Satz 
Halt machen, braucht man sich nicht einschuchtem zu lassen, 
wenn man weifi: dafi gewisse unbeweisbare Satze darum noch 
keineswegs „ hypothetisch 1 * sind, sondern genau so evident, wie 
der strengst bewiesene Satz, ja die Trager von der Gewifiheit 
aller Beweise. Deutlicher gesprochen: richtig ist an den logischen 
Tropen der Skeptiker, dafi nicht jedes wahre Urteil sich beweisen 
lasse, falsch, dafi diese unbeweisbaren Reste weniger uberzeugend 
wirken als das Bewiesene. Also zunachst ist es nicht richtig, dafi 
jedes Urteil, um als wahr zu iiberzeugen, sich begriinden lassen 
mufi. Es gibt von selbst evidente, beweisunbediirftige Urteile. 
Das sind all die Urteile, die notwendig von dem unausrottbaren 
Wahrheitsgefuhl im Bewufitsein aller normalen Menschen unmitt el- 
bar begleitet werden. Solcher Satze gibt es sogar eine ganze 
Menge; aber die Sphare ihres Inhalts ist ebenso eng, wie die un- 
mittelbare Gewifiheit ihrer Wahrheit sicher ist. Die hberwiegende 
Mehrzahl aller Urteile aber, die im Leben wie in der Wissenschaft 
gefallt werden, ist nicht selbstevident, und kein erkenntnistheo- 
retischer Standpunkt vermag ihnen diese fehlende Selbstevidenz zu 
verschaffen. Bereits Urteile von der Art: dafi Feuer Wasser loscht, 
die ich etwa wahrend eines Gardinenbrandes im Geiste faille und 
nach ihnen mein Handeln einrichte, sind nicht unmittelbar evident; 
ebensowenig das physikalische Urteil, dafi alle Korper von der 
W£rme ausgedehnt werden. Die ganze Fiille solcher Urteile, ohne 
die ich in der Erkenntnis weder zu praktischem noch theoretischem 
Behuf einen Schritt vorwarts k&me, mufi, um in der Wahrheit 
gesichert zu sein, bewiesen werden. Nun ist das Ideal, dafi jeder 



2 38 


Enter Ahschnitt Die griedusche Skepsis. 


Schlufi und Beweis erstrebt: den strittigen Satz zurfickzufuhren 
auf absolut unstrittige, d. h. beweisunbedurftige Satze. Denn Be* 
weisen und Schliefien bedeutet im streng erkenntnistheoretiscbea 
Sinn: von der Wahrheit eines Satzes uns dadurch mittel- 
bar fiberzeugen, dafi man ihn nach den logischen Axiomen 
aus Satzen gewinnt, deren Wahrheit uns unmittelbar ge* 
wifi ist Unmittelbar gewisse Satze sind Satze, bei denen wir uns 
unmittelbar bewufit sind, dafi sie sich mit alien Erfahningstatsacheo 
und Denkgesetzen im Einklang befinden; mittelbar gewisse Sitze 
sind Satze, bei denen wir uns erst durch die Ableitung aus un- 
mittelbar gewissen Satzen bewufit werden, dafi sie mit alien Denk- 
gesetzen und Erfahrungen im Einklang sind. Denn es ist ein Ge- 
setz unsres Denkens, dafi mit dem Grund die Folge gegeben ist, 
dafi aus wahren Satzen nur wahre Satze folgen konnen, oder dafi 
alle S&tze, die aus solchen folgen, die mit Denken und Erfahrung 
im Einklang sind, gleichfalls mit Denken und Erfahrung im Ein- 
klang stehen mussen. So endet kein logisch streng gfiltiger Schlufi, 
wenn man ihn zur Quelle zurfickverfolgt, in der Unendlichkdt, 
sondera in der Endlichkeit. Und zwar ist er daselbst in unmittel- 
bar einleuchtenden Gewifiheiten verankert Denn alle inhaltlich 
erffillten Satze von etwas weiterem Umfang leuchten nicht von 
selber ein, mfissen also auf jene obersten Grundwahrheiten zurfick- 
gefuhrt werden. 

Diesen Grundwahrheiten nun — so verschiedenartig ihre Be- 
stimmung auch vorgenommen wird — sind sicher alle Aussageo 
i. fiber unmittelbare innere Erlebnisse und 2. fiber die den 
Denkgesetzen konformen, rein formalen Beziehungen 
zwischenden Vorstellungen zuzurechnen. Die inneren Erlebnis- 
aussagen sind unmittelbar gewifi ; denn sie machen in logisch korrekter 
Form nur Aussage fiber uns unerschfitterlich verbfiigte Erfahrungen, 
mussen sich also mit alien Tatsachen und Denkgesetzen im Einklang 
befinden; die formalen, rein logischen Beziehungss&tze sind unmittel- 
bar gewifi, denn sie verlaufen konform den Denkgesetzen, ohne 
fiber Erfahrungen oder Tatsachen etwas zu behaupten, sind also 
wiederum notwendig mit beiden Bedingungen im Einklang. Erst 
eine logisch korrekte Aussage fiber nicht unmittelbar erlebte Er- 
fahrungstatsachen konnte mit der Erfahrung in Widerspruch geraten 
und also falsch sein (daher war die doppelte Beziehung auf Denken 
und Erfahrung in das Wahrheitskriterium notwendig aufzunehmen); 
wfihrend ein mit alien Erfahrungen im Einklang befindlichcr Satz 



Drittes K.pitel. Die Kritik der griechuchen Skepsis. 


239 


niemals den Denkgesetzen widersprechen kann, weil es antilogische 
Erfahrungen nicht gibt. Die psychologische Probe auf die beweisun-* 
bedurftige Wahrheit solcher Satze, d. h. auf das unmittelbare Evidenz- 
gefiihl, ist jederzeit anzustellen. Die Erlebnisse selbst aber (ein 
Lustgefuhl, eine Sinnesempfindung) als nackte Tatsachen und die 
logischen Axiome selbst (Satz der Identitat usw.) als nackte Funk* 
tionen befinden sich zu Erfahrung und Denken in keiner „Be- 
ziehung 44 , sind vielmehr selbst Urerfahren und Urdenken und 
stehen daher jenseits von wahr und falsch. Erst die Aussage: 
„ich sehe blau, fiihle hart 14 , und Aussagen wie: „wenn alle Men- 
schen sterblich sind und wenn Cajus ein Mensch ist, so ist Cajus 
sterblich 44 sind solch letzte unerschiitterliche Gewifiheiten, auf 
welche es die erschiitterlichen zuruckzufhhren gilt, um auch diese 
— unerschutterlich zu machen. 3. Aussagen iiber allgemeine 
inhaltliche Denk- resp. Anschauungsnotwendigkeiten, 
wenn es solche geben sollte. Denn diese transzendenten denk- 
notwendigen Bedingungen jeder Erfahrung whrden a priori mit 
alien Erfahrungen und Denkgesetzen im Einklang stehen. 4. Aus- 
sagen uber allgemeinste Wertnotwendigkeiten (ethischer* 
asthetischer Art), wenn es solche gibt. Denn diese a prio* 
rischen Bedingungen alter Werte mufiten notwendig und von vorn- 
herein mit alien Werten, die in der Erfahrung auftauchen oder 
von mir beurteilt werden konnen, im Einklang stehen. Nach dem 
Warum? bei Aussagen dieser vier Kategorien zu fragen, eine 
Begrundung ihrer Wahrheit zu verlangen, wire ohne Sinn. 
Denn wahr sein und das beschriebene Wahrheitsgefiihl erregen 
ist ein und dasselbe. Es gibt keine andre Wahrheit als die* 
jenige, die diesem Gefiihl ihr Dasein verdankt Eine Wahrheit im 
Gegensatz zu oder unabhingig von diesem Gefiihl ist ein hohles. 
Wort, eine Vorstellung, unter der dare et distincte sich nichts 
denken lafit 

Auf die unter 2. aufgefiihrten rein formalen Beziehungssitze 
lassen sich ersichtlich niemals Orteile uber die Wirklichkeit oder 
die Dinge zurQckfuhren, obwohl der Akt des Zunickfiihrens stets. 
an der Hand solcher Sitze geschieht Denn aus Primissen, die 
nur iiber die Relationen von Gedanken etwas aussagen, sind ob* 
jektive Erkenntnisse nicht herzuleiten. So bleiben nur die unter 
1., 3. und 4. angefiihrten Stiitzpunkte allein iibrig. 

Liefien sich nun die unmittelbaren Erlebnisse (ich sehe jetzt 
am Himmd dnen Blitz; empfinde den Regen auf meiner Hand} 



240 


Enter Absdmitt. Die griechische Skepsis. 


a llein als Rfickhalt ffir irgend welche Schlfisse verwenden, oder 
allenfalls gedeutet, verarbeitet und umgeformt durch die formalen 
logischen Axiome, so hatte die Skepsis diese Art des Schliefiens 
als wohlbegrfindet anerkennen mussen. Denn da sie die Wahrheit 
der Anssage iiber das einzelne individuelle Erlebnis (to (patyo/ievov) 
nicht bestritt und auch die Gfiltigkeit der formalen logischen Axiome 
nirgends emsthaft bekampft hat, so hatte sie auch alles Schliefien 
und Beweisen, liefie es sich auf ein solches logisch verarbeitetes 
Einzelerlebnis restlos zuruckfuhren , unbeanstandet lassen mussen. 

Leider ist nun das Beweisen irgend eines Satzes durch un- 
mittelbare Einzelerlebnisse auch unter Anwendung der formalen 
Denknormen nicht moglich, oder, wo es das ist, Jur die Er- 
kenntnis vollstandig — fiberflfissig. Zunachst im Bereich der sinn- 
lichen Wahrnehmung. Hier lafit sich ein Satz, der selbst kein 
unmittel bares Einzelerlebnis aussagt, durch unmittelbare Erlebnisse 
nicht beweisen; und ein Satz, der diese Aussage tut, lafit sich 
zwar beweisen, bedarf aber, da er von sich selbst einleuchtet, 
keines Beweises. Aus den Satzen: ich sehe jetzt am Himmel einen 
Blitz und ich ffihle jetzt auf meiner Hand den nassen Regen, lafit 
sich gewifi schliefien: also empfinde ich jetzt zugleich Nasse und 
Helligkeit. Aber dieser Satz ist ja nur der Ausdruck eines un- 
mittelbaren Erlebnisses, und ihn beweisen zu wollen, ware Torheit 
Vorausgesetzt wird dabei uberdies, dafi die Schlufioperation im 
gleichen Zeitaugenblick, in welchem die beiden Empfindungen 
gegenwartig sind, auch vollzogen wfirde. Denn im nachsten Augen- 
blick ware ich ja schon auf das Gedachtnis angewiesen, das wiederum 
nur als unmittelbare Augenblicksaussage (ich erinnere mich jetzt, 
dafi . . .) , keineswegs aber als (oft tauschende) Aussage fiber einen fruher 
wirklich gehabten Zustand des Bewufitseins Evidenz bei sich fiihrt 
Auch kann ich aus den zwei unmittelbaren Erlebnisaussagen nicht 
etwa unter Zuhilfenahme des GedSchtnisses schliefien: also waren 
in meinem Bewufitsein einst zwei Vorstellungen zugleich gegen- 
wartig, oder gar: also begreift der Umfang des menschlichen Be- 
wufitseins jedenfalls mehr als eine Vorstellung. Denn die Begriffe 
M mein Bewufitsein 11 als eine Dauergrdfie, „menschliches Bewufitsein“, 
das „begreifen u als Dauerzustand, gehen weit fiber den Kreis un- 
mittelbarer, reiner Erfahrung hinaus, bedfirfen daher selbst, wie die 
Existenz ihrer Objekte, der Begrfindung. Da es sich also beim Be- 
weisen niemals um die Begrfindung einer Aussage fiber ein unmittel- 
bares Erlebnis handelt, andrerseits aus Urteilen fiber unmittelbare 



Drittes Kspitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 


241 


Erlebnisse der Wahrnehmung nur die Wahrheit von Aussagen fiber 
unmittelbare Erlebnisse der Wahrnehmung folgen kann, so ist 
dieser oberste Stfitzpunkt, als nicht beweisbedfirfliger Urgrund 
aller Beweise, uns entzogen. Die uneinnehmbarste Festung als 
Hort fur die Wahrheit von Urteilen, als letzter Rfickhalt von Schlufi 
und Beweis ist unbrauchbar. 

Noch konnte man den Posten zu halten und eine grofie 
Gruppe von Schlfissen und Beweisen auf reine Erfahrungen zurfick- 
zufuhren suchen; namlich alle diejenigen , in denen eine Definition 
aus zwei gegebenen Definitionen, oder die Zugehorigkeit einer Art 
zu einer Gattung erschlossen wird. Hier namlich kann man die 
ursprfinglichen Definitionen und die Gattungsvorstellung als un- 
mittelbare Erlebnisse, namlich als Willensetzungen ansehen, 
aus denen ein neues Urteil absolut schlfissig gefolgert werden kann. 

Wenn ich z. B. durch Willensetzung alle nicht mehr chemisch 

m 

zerlegbaren Korper Elemente nenne und alle Schwere und Dichte 
besitzenden Stoffe Korper, so kann ich schlieCen : 

Ein Ding, das Schwere und Dichte besitzt, heifie ein Korper. 

Ein chemisch nicht zerlegbares schweres und dichtes Ding heifie 
ein Element 

Ein Element ist ein chemisch unzerlegbarer Korper. 

Oder: 

Alle Here, die lebendige Junge zur Welt bringen, nenne ich 
Saugetiere. 

Der Walfisch bringt lebendige Junge zur Welt. 

Der Walfisch ist ein S&ugetier. 

Aber die ganze Hohlheit dieser Schlufiarten verbietet es, bei ihnen 
gegen die skeptischen Tropen Hilfe und Schutz zu suchen. Ins 
tJnendliche wird man hier allerdings nicht hinausgetrieben und bei 
einer beweisbedfirftigen Hypo these endet man auch nicht; vielmehr 
bei einer keines Beweises bedfirftigen Sitivs im eigentlichen Sinne 
des Wortes. Aber das Endurteil, das hier bewiesen wird, liefert 
weder eine subjektiv- noch objektiv - allgemeingiiltige Wahrheit, 
keine Erkenntnis fiber die Dinge, und zur Beantwortung der ersten 
skeptischen Grundfrage: wie sind die Dinge beschaffen? tragt es 
nichts bei. Es ist nicht der Ausdruck fur irgend welche VerhSlt- 
nisse zwischen den Dingen, sondem nur fur die formate Willens- 
logik: Wer den Zweck will, mufi die Mittel wollen. Denn im Fall 
unsres ersten Beispiels, in dem willkfirlich gebildete Definitionen 

Richter, Skepturismm. 



242 


Enter Abschnitt. Die griechische Skepsis. 


zueinander in Beziehung gesetzt werden, drehe ich mich vollstandig 
im Kreise meiner eigenen Begriffe herum, und die GetoiGheit des 
Endurteils besitzt zwar den hdchsten Grad von GewiGheit, bleibt 
aber ganz in die Sphare subjektiver Willkur gebannt und gilt nur 
solange, wie die Willensentschlusse , uber welche die Pramissen 
Aussage machen, andauern. Ober die Existenz von Korpern, 
Dichte, Schwere , Elemente erfahren wir nichts, und das Endurteil 
ist genau so gewiG fur den so Wollenden, wie das Endurteil: ein 
Element ist kein Kdrper, fur denjenigen gewiG ist, der durch 
seinen Willen die erste Pramisse folgenderma&en umformt: ein 
Ding, das keine Schwere und Dichte besitzt, heifie ein Kdrper, 
der zweiten Pramisse aber zustimmt Denn sowie vernunftige 
Motive fur diese Definitionen vorausgesetzt werden, ist die Defi- 
nition bereits nicht unmittelbares Willenserlebnis, bedarf selbst 
der Begriindung und kann nie den gesuchten letzten Anhalt fur 
SchlieGen und Beweisen bieten. So kann man hier fhglich von keiner 
objektiven, noch von einer subjektiv-aUgemeingiiltigen Wahrheit 
des Urteils reden, die durch den Beweis gesichert sei. Von keiner 
objektiven: denn das Urteil, das bewiesen wird, macht Aussage 
nur iiber ein augenblickliches Ziel meines Wollens, nicht einen 
Gegenstand des Seins; in seiner ganz korrekten Formulierung 
wiedergegeben , wurde nur das Urteil bewiesen: das, was ich ein 
Element nennen will, muG ich einen Korper nennen. Aber auch 
keine subjektiv-generelle GewiGheit kommt diesem Urteil zu. Denn 
die beiden Pramissen, die meinen Willen verkiinden, sagen nur 
subjektiv-individuelle, unmittelbare Erlebnisse aus. Fur ein Indi- 
viduum A ist bereits der Willensakt von X nicht mehr unmittel- 
bares Erlebnis. Fiir A ist auch der SchluG nicht etwa ohne weiteres 
umformbar in die Erwagung: 

X nennt Dinge mit Merkmal a und c Korper. 

X nennt gewisse Dinge Elemente. 

also sind das, was X Elemente nennt, fiir X Korper. 

Hier sind die Pramissen nichts unmittelbar Einleuchtendes mehr; 
denn sie setzen die Existenz eines andera Willens voraus, die der 
Begriindung bedarf. Nur in der hypothetischen Form: wenn X 
so und so bestimmte Dinge Korper, gewiGe Dinge Elemente 
nennt, sind fiir X Elemente Kdrper, ist das Endurteil allgemeingultig 
wahr. Aber diese Wahrheit ist entweder eine rein formate, be- 
deutet nur eine Betatigung der logischen Axiome in beliebiger 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 


243 


Richtung und besagt: wenn die Pramissen wahr sind, ist auch 
der Schlufisatz wahr, oder, wenn sie mehr sein will, so ist sie 
nicht erwiesen und verfallt dem rpotcog vKoSerixog. 

In unserm zweiten Beispiel* wird allerdings auf die objektive 
Wirklichkeit in der zweiten PrSmisse reflektiert. Aber da die 
Gtiltigkeit des SchluGsatzes von der Substitution des Subjekts 
der zweiten Pramisse unter das Subjekt der ersten abhangt, 
die erste Pramisse aber eine individual - subjektive Willensmaxime 
ist, so gilt die Konklusion ebenfalls nur fur den so Wollenden, 
und die Conclusio lautet in exakter Fassung: also muS ich 
den Walfisch ein Saugetier nennen. Nicht aber wird hier etwa 
die erste Pramisse im Sinn einer allgemeingultigen Aussage tiber 
die Dinge genommen: alle Tiere, die lebendige Junge zur Welt 
bringen, sind Saugetiere. Denn das wtirde heifien: ihnen kommen 
Merkmale zu, die auch den anderwarts definierten Saugetieren zu- 
kommen; ein Satz, fhr den die Skepsis mit Recht nach der Be- 
grundung fragen und ihn nicht als eine letzte Wahrheit, die keines 
Beweises bedarf, anerkennen wiirde. 

So ist derVersuch, die objektive Wahrheit von Urteilen aus 
unmittelbaren Erlebnissen zu beweisen, als gescheitert anzusehen. 
Ob wir die Erlebnisse der Passivitats- oder der Aktivitatsphare, 
dem Wahrnehmen, dem Fuhlen oder dem Wollen (und auf diese 
Quellen geht jedes unmittelbare Erlebnis zuruck), entnahmen, nie- 
mals lieC sich ein Urteil, dessen Geltung uber den Umkreis des 
aussagenden Subjekts hinausgrifTe, und von den „Dingen“ (in 
idealistischem oder realistischem Sinne) handelte, gewinnen. 

Daraus ergibt sich: um strittige Sat ze tiber objektive Ver- 
haltnisse auf unstrittige zurtickzuftihren, also restlos zu beweisen, 
ist erforderlich: 

1. Die unstrittigen Pramissen miissen Existentialurteile 
sein, das wirkliche Sein von etwas behaupten, in welchem Sinne 
man auch immer die Begriffe Sein und Wirklichkeit gebrauchen 
mag (auch diese Anforderungen stehen jenseits von Realismus und 
Idealismus); 2. mindestens eine der Pramissen muC uber die Augen- 
blickswahrnehmung eines Objekts hinausgehen und allgemeiner 
Natur sein, d. h. tiber konstante Objektseigenschaften oder 
Objektzusammenh&nge berichten. Gibt es solche Satze? 

Die raumlich-zeitlichen (mathematischen) Eigen- 
schaften der Dinge und die (physikalischen) Gesetze des 
kausalen Zusammenhangs zwischen ihnen werden gewohn- 


244 


Enter Abechnitt Die griedusche Skepsis. 


lich als solche konstante Grdfien hingenommen. Warain 
gelten denn die Satze fiber die mathematischen Eigenschaften und 
die kausalen Verhaltnisse all gem ein, fur alle Zeiten, an alien Orten, 
fur alle Menschen, ffir alle Dinge? Die Konstanz dieser Eigen- 
schaften ist doch selbst kein unmittelbares Erlebnis; also auch die 
Aussage uber sie kein wahres Urteil, das des Beweises nicht be- 
dfirfte. Damit aber scheint das ,Warum‘ auch hier sich wieder 
einzunisten und der Jagd ins Unbegrenzte doch nicht zu entrinnen 
zu sein. Nun — die allgemeine Gfiltigkeit der Aussagen iiber 
mathematische und kausale Verhaltnisse lafit sich auf zweifache 
Weise dartun, deren jede als ein Versuch anzusehen ist, weitere 
Fragen nach dem Warum abzuschneiden und die Stfitzen alter 
Beweise durch letzte Evidenzen sicher zu stellen. Rationalisten 
wie Empiristen haben sich um die Losung dieser Aufgabe be- 
mfiht. Der Rationalist, soweit er auf der Hdhe der Zeit sich 
bewegt und nicht etwa von angeborenen Vemunftgrundsatzen uber 
das Dasein Gottes, die apriorische Kenntnis bestimmter Kausal- 
verbindungen, eine angeborene fertige Raumvorstellung usw. fabelt, 
wfirde dem Skeptiker entgegnen: der Inhalt eines geometrischen 
Axioms, in einen Satz uber einen individuellen Fall aufgelost, ist 
ein unmittelbar evidentes Erlebnis und als solches der Diskussion 
entrfickt (zwischen Punkt A und B lafit sich nur die eine Gerade 
A — B ziehen). Da ich aber keinen einzigen Fall finden oder mir 
nur anschaulich vorstellen kann, in dem es mehrere gerade linien 
A — B gibt, oder in dem Gleiches zu Gleichem nicht Gleiches er- 
gibt, so nehme ich an, dafi die rlumlichen Verhaltnisse entweder 
objektiv streng gesetzmafiige und real unverfinderliche sind und die 
Erkenntnis eines Verhaltnisses ffir alle gleichen gilt (rationalisti- 
scher Realist) oder: dafi die raumlichen Beziehungen und ihre An- 
wendung auf die Wirklichkeit Anschauungsnotwendigkeiten a priori 
sind (rationalistischer Idealist). Die parallele Erwagung fur kau- 
sale Verhaltnisse leuchtet ein: Da ich mir nicht denken kann, dafi 
ein Ding ohne Ursache existiert, sondem die Annahme eine Denk- 
notwendigkeit ist: dafi jedes Ding notwendig da ist, wo es ist, 
dann ist, wann es ist, so ist, wie es ist, so schliefie ich wieder, 
dafi auch die realen Zusammenh&nge der Dinge konstante sind 
(rationalistischer Realist), oder dafi ich den Begriff der Kausalitat 
a priori auf alle Erscheinungen notwendig anwende (rationalistischer 
Idealist). Daher gelten auch die Satze fiber die einzelnen Kausal- 
verhaltnisse absolut sicher und gewifi, und es ist sehr wohl mog- 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 


245 


lich, Urteile fiber bestimmte Beziehungen zwischen den Objekten 
(eine abgeschossene Flintenkugel von der Anfangsgeschwindigkeit v 
mufi im Zeitpunkt z zur Erde fallen) auf absolut gewisse Satze 
(bier die Gesetze der Ballistik) zuruckzufuhren , ohne ins Unend- 
liche getrieben zu werden oder bei einer Hypothese zu landen. 

Die Art solcher Beweise fur einzelne Werturteile moralischer 
oder asthetischer Natur (Lfigen ist schlecht — Beethovens Eroica 
ist schon) ist die gleiche und eine besondere Exposition derselben 
daher uberflussig. 

Der Empirist entrinnt auf andre Weise den logischen Tropen 
der Skeptiker. Liefie sich die Anschauungsnotwendigkeit bei den 
raumlich - zeitlichen Verhaltnissen, das gar nicht andets Wahr- 
nehmen-kdnnen der sinnlichen Phanomene wie unter der mathe- 
matischen GesetzmaGigkeit , zur Sanktion der mathematischen Axiome 
allenfalls verwenden, wodurch diese jedes Beweises uberhoben 
wurden — so vermag die gleiche Erwagung in Bezug auf kausale 
Beziehungen der Kritik keineswegs standzuhalten. Denn die 
Regelmafiigkeit des Weltlaufs, die absolute Naturgesetzlichkeit , oder 
wie sonst man den allgemeinen Kausalzusammenhang aller Erschei- 
nungen bezeichnen will, ist keine Denknotwendigkeit. Die 
Unregelmafiigkeit und UngesetzmaCigkeit des Naturlaufs ist weder 
ein logischer noch ein anschaulicher Widersinn. Daher tun wir 
gut, mit der Annahme von Denk- und Anschauungsnotwendig- 
keiten vorsichtiger zu sein und nicht dem Skeptiker, dem die Er- 
schutterung derselben nicht schwer wfirde, den Sieg zu leicht zu 
machen. Denn hat man ihm seine Denk- und Anschauungs- 
notwendigkeiten einmal zerstort, so steht der Rationalist dem 
Skeptiker gegenfiber ziemlich ratios da; der Empiriker aber, 
von vornherein die GewiCheitsgrade seiner Erkenntnisse nicht fiber- 
schraubend, vertritt dem Skeptiker etwa mit folgenden Worten 
den Weg: 

Weil ich unzahligemal gewisse geometrische Satze oder 
kausale ZusammenhSLnge wahrgenommenhabe, gibt es mathematisch- 
naturwissenschaftliche Axiome: als Ausdruck unveranderlicher realer 
Raum-Zeit-Naturgesetze (realistischer Empirismus), als Ausdruck 
eines konstanten Raum - Zeit - BewuCtseins , konstanter Verstandes- 
kategorien (idealisdscher Empirismus). Und diese Meinung, welche 
durch die unendliche Anzahl gleicher oder ahnlicher Erlebnisse nahe 
gelegt wird, verstarkt sich um ein bedeutendes durch die Tatsache, 
dafi diese mir durch die Erfahrung zugetragenen Kenntnisse sich 



246 Erster Abschnitt Die griechische Skepsis. 

in weitestem Umfang bestatigen bei willkurlicher und experimental 
geleiteter Nachprufung. Ich kann ohne Rucksicht auf die beson- 
deren UmstSnde stets und uberall zwei beliebige Punkte im Raume 
auswahlen, und immer finde ich, dafi nur eine Gerade zwischen 
ihnen moglich ist. Wo auch immer in der Natur zwei Erschei- 
nungen aufeinander folgen und in raumlich - zeitlich stetiger Ver- 
bindung und in bestimmtem quantitativem Verhaltnis stehen, da 
kann ich, wenn ich unter beliebigen Bedingungen die erste der- 
selben irgendwo wieder beobachte oder auch kunstlich hervorrufe, 
stets gewahr werden, dafi sich auch die zweite sofort einstellt So 
steigt die Wahrscheinlichkeit mathematischer und physikalischer 
Gesetzmafiigkeit auf eine ziemlich hohe Stufe und erreicht ihren 
Gipfel durch die Moglichkeit: jederzeit von dieser Gesetzmafiig- 
keit die Anwendung auf die Erfahrung machen und dadurch die 
denkbar grofite empirische Kontrolle bewirken zu konnen. Das 
gleiche gilt naturlich caeteris paribus von den Wertnotwendigkeiten 
der Rationalisten. 

Man sieht: die Gewifiheit von der Wahrheit eines allgemein- 
gultigen Satzes, durch den alle Begrundung und Beweiskraft erst 
moglich wird, setzt sich hier aus vier Elementen zusammen: letztes 
Element der Gewifiheit sind die einzelnen unmittelbaren Erlebnisse 
fiber Raum-, Zeit- und Tatsachenzusammenhange. Aber durch 
die logische Erwigung: Beziehungen, welche ungezahltemal in 
gleicher Weise erlebt wurden, und Beziehungen, die bei beiiebiger 
Variation aller Bedingungen konstant bleiben, sind vermutlich an 
sich konstant oder fur mich konstant — durch diese doppelte Er- 
wagung wird ein Erlebnis nicht in seiner individuellen Einzelheit, 
sondem in seiner Eigenschaft: beliebig wiederholbar zu sein, als 
allgemeines gefafit und sein Inhait in einen Satz von allgemeiner 
Geltung umgepragt. Schliefilich verdankt sich die Gewifiheit solch 
allgemeiner Satze noch der Probe: der emeuten unmittelbaren Er- 
fahrung am beliebigen Einzelfall. Freilich, wo der Empirismus 
konsequent ist, darf er nur eine wahrscheinliche Geltung seiner 
allgemeinen S&tze beanspruchen; denn der Schlufi von vielen Fallen 
auf alle, der seinen Erwagungen zugrunde liegt, ist nur ein Schlufi 
von wahrscheinlicher Geltung. Der Empiriker wurde also dem 
Pyrrhoniker erwidern: ins Unendliche werden wir beim Schliefien 
und Beweisen nicht hinausgetrieben. Sondem wir fuhren strittige 
Satze durch Schlufi und Beweis auf hochst wahrscheinlich unstrittige 
zuriick. Es gibt keine allgemeingultigen Slktze von hoherem Wahr- 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 247 

heitsgehalt; willst du diese Satze ihres Wahrscheinlichkeitsgehalts 
wegen „Hypothesen“ nennen, so haben wir nichts dagegen. Aber 
zwischen Hypothese und Hypothese ist scharf zu scheiden. Deine 
Behauptung von der Gleichwertigkeit aller Hypothesen geben 
wir nicht zu; es ist falsch zu sagen: im logischen Regressus sei 
es ganz gleichgultig, bei welch unbewiesener These ich Halt mache; 
wenn es uberhaupt bei einer unbeweisbaren Behauptung geschehe, 
konnte man sich ja schon bei der Konklusion als unbewiesener 
Voraussetzung beruhigen. 

Unsre allgemeinen Satze sind letzte Hypothesen, Ergeb- 
nisse der umfassendsten Induktion, deren Wahrheitsgrad sich der 
Obereinstiminung mit alien Denkgesetzen und alien bisherigen 
Erfahrungen verdankt. Die beweisbediirftige Konklusion aber, die 
aus ihnen gezogen wird, bevor sie aus dem allgemeinen Satz ab- 
geleitet ist, ist noch mit gar keiner Erfahrung und gar keinem 
Denkgesetz als in irgend welcher Obereinstdmmung befindlich 
aufgedeckt, ist also weder als wahr, noch als wahrscheinlich 
erkannt. Vermag ich aber einem vollig ungewissen Satz durch 
Reduktion auf jene obersten Urhypothesen hochste Wahr- 
scheinlichkeit zu sichem, so ist diese Begrundung doch wohl der 
Muhe wert. 

Aus alledem erhellt: Die Skeptiker haben mit ihren zwei 
ersten logischen Tropen wieder einen emsten Stofi gegen das be- 
weisende Erkennen gefuhrt. Die Abwehr hier ist keine leichte 
Sache. Es stellte sich heraus: 1. dafi das letzte Glied in einer 
strengen Beweiskette, die Aussagen uber Objekte begriinden soli, 
um nicht wieder durch ein Warum? in seiner Geltung erschuttert 
oder als blofie „Hypothese“ verketzert zu werden, ein objektiv- 
allgemeingultiger Satz von unerschutterlicher Gewifiheit zu sein 
habe; 2. dafi die sofort einleuchtenden unerschiltterlichen Gewifi- 
heiten, die Aussagen uber individuelle Einzelerlebnisse, nicht direkt 
verwendbar sind, und auch die allgemeinen logischen Axiome nur 
als Funktionen dem Prozefl des Reduzierens Geltung verschaffen, 
aber nicht etwa selbst als rein formale Satze einem inhaltlich 
strittigen Satz den letzten Riickhalt zu bieten vermogen; 3. dafi 
erst eine vemunftige Deutung gewisser Einzelerlebnisse uber mathe- 
matische und kausale Beziehungen (im rationalistischen oder empi- 
ristischen Sinne) die Gewifiheit oder doch die hochste Wahrschein- 
lichkeit letzten Satzen zu sichern und damit den Dispens von der 
Beweisbediirfdgkeit zu erteilen vermogen. 



248 


Enter Abschnitt Die griechische Slcepris. 


Diese Bemerkungen gelten nur zur Abwehr der skeptischen 
Untergrabung der stringenten und bis ins letzte died hinein 
absolut zwingenden Beweisfuhrung. Die griechische Skepsis bohrt 
uberall auf den Grund, und, lafit sich die Festigkeit dieses Grundes 
nicht dartun, mit oberflachlich aufgeworfenen Bollwerken und pro- 
visorischen Fortifikationen widersteht man ihr nicht. Denn diese 
wirflt sie gar bald uber den Haufen, wenn sie nicht weifi, dafi der 
Gegner sich in uneinnehmbare Festungen zuruckziehen kann. Hat 
er das aber erwiesen , so wird das skeptische Denken sich auch 
von den kleinen vorgeschobenen Verteidigungsposten fern halten 
mussen. Daher darf es jetzt ausgesprochen werden, nachdem die 
grundsatzliche Moglichkeit gezeigt worden, wie Schliefien und Be- 
weisen, ohne in der Onendlichkeit oder bei einer dem zu be- 
weisenden Satz gleichwertigen Hypothese zu enden, zu bewerk- 
stelligen ist: dafi die meisten Schlusse im Leben und auch in dea 
Wissenschaften allerdings nicht bei letzten evidenten Gewifiheiten, 
nicht einmal bei letzten Hypothesen, sondem bei provisorischen 
Hypothesen enden und doch — ihren hohen Erkenntniswert be- 
halten. Die gewdhnlichen SchlQsse und Beweise sind provisorische 
Reduktionen spezieller Satze auf allgemeine, wenn letztere gegen- 
uber den ersteren (nicht den absoluten, sondem nur) den hdheren 
Gewifiheitsgrad besitzen. Am Vorderreifen meines Fahrrades ent- 
stromt die Luft. Es fragt sich, aus welchem Grunde? Ich weifi 
von friiher: nur wenn der innere Schlauch durchlochert ist, ent- 
stromt die Luft. Nun schliefie ich, da Luft an meinem Reifen 
herausstromt: der innere Schlauch hat ein Loch bekommen. Vor 
dieser Erwagung wufite ich nicht das geringste davon, dafi der 
innere Schlauch ein Loch bekommen haben konnte. Erst mit der 
Reduktion auf den allgemeinen Obersatz (die psychologisch natur- 
lich nicht in pedantischer Anwendung des logischen Schemas, 
sondem in der Abbreviatur vor sich geht) steigt die Gewifiheit von 
der Wahrheit dieser Behauptung direkt proportional der Gewifiheit 
des Obersatzes. Nun gilt der Obersatz zwar nur provisorisch- 
hypothetisch, denn er stiitzt sich auf eine Anzahl von unmetho- 
dischen Erfahrungen und vorschnellen Verallgemeinerungen und 
ftbersieht, dafi auch ein Fehler am Ventil das Entstromen der 
Luft zur Folge haben konnte. Trotzdem fordert solch fraglicher 
Schlufi den Fortschritt objektiver Erkenntnis gewaltig. Denn x.deckt 
er die mdgliche Ursache eines Ereignisses auf und hebt damit den 
Erkenntniswert einer Behauptung uber diese Ursache im einzelnen 



Drittes KapiteL Die Kritik der griechiscfaen Skepsis. 


249 


Fall (mein Schlauch hat vermutlich jetzt ein Loch). 2. Der Ober- 
satz (immer wenn Luft entstromt, zeigt der Schlauch ein Loch) 
steigt durch das Mifllingen oder Gelingen der Subsumtion, das 
durch eine Beobachtung an der Erfahrung (Nachsehen, ob der 
Schlauch ein Loch bekommen) sich entscheidet, gleichfalls an Er- 
kenntniswert. Denn entweder befestigt sich seine Wahrheit, durch 
den Zuwachs der Wahrheit fur den vorliegenden Fall oder — 
gleichfalls ein Fortschritt in der Erkenntnis — er stellt sich als 
falsch heraus und ich werde zur Aufhebung resp. Modifikation des 
Obersatzes gezwungen. Was hier an einem Beispiel des Alltag- 
lebens gezeigt wurde, vollzieht sich in der Wissenschaft iiberall 
dort, wo die ZuruckfQhrung einer Aussage auf eine mathematische 
Gleichung oder auf ein Urteil iiber ein allgemeingultiges oder doch 
letztes Kausalverhaltnis nicht sofort moglich ist. Dann tritt die 
Arbeitshypothese in ihr Recht. . Auch ihre Rolle besteht fQr 
die Erkenntnis des einzelneh Falls zunachst darin, dafi diese Er- 
kenntnis deduziert wird aus allgemeinen Satzen oder reduziert auf 
allgemeine Satze hoheren Wahrheitsgehalts, d. h. auf solche, bei 
denen die Anforderungen des Wahrheitskriteriums (Obereinstim- 
mung mit alien Denkgesetzen und alien Erfahrungen) fur mein Be- 
wufitsein strenger erfullt sind als bei dem zu beweisenden Satz. 
Gibt es aber aufierdem noch ein andres Mittel wie das der Deduktion 
oder der Reduktion, um die Wahrheit eines speziellen Satzes zu 
festigen — etwa die unmittelbare Evidenz durch gewohnliche Er- 
fahrung oder Experiment — so steigt zugleich damit unsre Einsicht 
in die Wahrheit oder Unwahrheit einer Arbeitshypothese, und ein 
doppelter Zuwachs an Erkenntnis ist die Folge. So stiitzen 
sich Schlufisatz und Obersatz immer gegenseitig in der Forderung 
der Erkenntnis bei alien Schliissen, die auf Hypothesen beruhen. 
Durch die Zahl der Einzelsatze, die sich auf einen allgemeinen 
Satz zuriickfuhren lassen, wachst der Wahrscheinlichkeitsgrad einer 
Hypothese und mit diesem wachst die Sicherheit der Erkenntnis 
eines aus ihr abgeleiteten Satzes. 

So erhellt auch von hier, aus den unteren Regionen des 
Wissens, die Fehlerhaftigkeit der skeptischen Behauptung von der 
Gleichwertigkeit aller Hypothesen. Denn abgesehen davon, dafi 
man fur die strengsten und vollendeten Schliisse auf evidente 
Thesen (nach Ansicht der Rationalisten) oder doch auf letzte, 
durch methodische Beobachtung des Gesamtgebiets der bisherigen 
Erfahrung gestiitzte Hypothesen zuruckgeht, ist es auch fur die 


250 


Enter Absdmitt. Die griechiscbe Skepsis. 


alltaglichen Beweisarten im Leben und in der Wissenschaft von 
hochster Bedeutung, ob ein strittiger Satz nur auf sich selbst oder 
auf in viel geringerem Grade strittige Satze zuruckgefuhrt wird. 
Auch hier hat der Radikalismus mit seinem „Alles oder Nichts“ 
die Skepsis das Wesen des wissenschaftlichen Fortschritts durch 
approximative Annaherung an die Wahrheit ubersehen lassen; 
ubersehen lassen, dafi dieser Fortschritt nicht so sehr in der Reduk- 
tion einzelner Satze auf absolut wahre, sondem in gegenseitiger 
Stutzung wahrscheinlicher Satze besteht; dafi dieser Fortschritt 
weit mehr ein quantitativer als ein qualitativer ist; dafi er in der 
Auffindung mannigfaltiger, einander gegenseitig im Wahrheitsgehalt 
hebender Urteile, nicht so sehr in der Starkung des Wahrheits- 
gehalts weniger UrteOe besteht; dafi er mehr in der Eroberung 
von 90% Wahrheitsgehalt fur 1000 FSlle, als von ioo°/ 0 fur drei 
Fille zutage tritt 

Immerhin durfen wir niemals vergessen, dafi alle provisorischen 
Hypothesen, mit denen das gewohnliche und das wissenschaflliche 
Erkennen im grofiten Umfange arbeiten, haltlos in der Luft schweben 
wurden, wenn sie nicht an jenen letzten Hypothesen axiomatischen 
Charakters ihr Musterbild stets vor Augen hitten. Es zu erreichen 
bleibt freilich in all den Wissenschaften, deren Ergebnisse sich 
nicht auf mathematische Gleichungen oder mathematisch ausdruck- 
bare Kausalverh&ltnisse beziehen , ein unerffilltes Ideal. Aber die 
AnnSherung an dasselbe kann angestrebt werden; und dieses Streben 
wird nicht vemichtet, weil die Skepsis — aber zu Unrecht — ge- 
zeigt zu haben glaubte: dies Ideal sei ein in sich unmdgliches. 

Der dritte und letzte Einwand von elementarer Wucht, der 
gegen die erkenntnisfordernde Kraft aller logischen Begrundungen 
sich richtet, ist der Vorwurf der Zirkelbewegung. Unter einem 
Zirkelschlufi versteht man allgemein jene fehlerhafte Beweisform, 
nach der zwar der Schlufisatz durch die Voraussetzungen, zugleich 
aber die Voraussetzungen durch den Schlufisatz gestutzt werden 
sollen. So ist das Skelett des Cartesischen Gottesbeweises — was 
immer man auch zu dessen Rechtfertigung sagen mag — ein Muster 
sich im Kreise drehender Begrundung. Denn auf ein durres Schema 
gebracht, zeigt er folgende Struktur: 

Was clare et distincte erkannt wird, ist wahr. 

Gottes Dasein wird clare et distincte erkannt. 


Gott existiert 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 2 5 1 

Nur wenn Gott (als ein wahrhaftiges, giitiges Wesen) existiert, 
ist alles, was clare et distincte erkannt wird, wahr. 

Gott existiert 

Was dare et distincte erkannt wird, ist wahr. 

Hier wird aus dem Satze „subjektives Evidenzgefuhl verbiirgt 
objektive Wahrheit“ das Dasein Gottes, und aus dem Dasein 
Gottes die Gleichung: absolut evidente Urteile = wahre Urteile 
gefolgert Niemand wird sich vor dem Ergebnis solchen Be- 
weisverfahrens beugen. Und nun behauptet die Skepsis: 6s gibt 
gar kein andres Beweisverfahren! Jeder Schlufi, jeder Beweis, 
jede Begriindung stiirzt notwendig in die Falle der Diallele. Ist 
das wahr? 

Lafit man die heute noch existenzfahigen Richtungen dabei 
zu Worte kommen, d. h. allein diejenigen Aussagen, welche wissen- 
schaftlich heute noch mdglich oder auch wirklich sind, so wird 
zunachst der moderne Rationalismus Kantischer Farbung das 
skeptische Argument einfach nicht gelten lassen. Man kann, wurde 
er entgegnen, allerdings Satze von objektivem Wahrheitsgehalt 
begrunden, ohne sich dabei im Kreise zu drehen (von den 
rein formalen Subsumtionen einzelner Exemplare unter eine durch 
Willensetzung bezeichnete Gattung Oder von Pradikaten unter 
einen willkiirlich definierten Begriff diirfen wir bei dem Ernst der 
Lage wohl absehen; denn die Geltung solcher Beweise verharrt 
in der Sphare des individuellen Subjekts). AUe Pramissen, die 
mathematische oder kausale Gesetzmafiigkeit an der objektiven 
Welt zum Ausdruck bringen, sind a priori allgemeingiiltiger Natur. 
Daher bediirfen wir nicht des Einzelfalls aus der Erfahrung zu 
ihrer Stutze, und dieser kann, ohne dafi eine petitio principii da- 
bei statt hat, durch solche Pramissen zwingend bewiesen werden. 
Dafi eine Briicke bestimmter Konstruktion unter der Last ft ein- 
sturzen oder nicht einsturzen wird , ist absolut gewifi (Rechenfehler 
und etwa mitsprechende, aber noch nicht ermittelte Kausalverhalt- 
nisse in Abzug gebracht). Es kann also der Satz, dafi ein Artillerie- 
geschiitz A von der Last ft beim Passieren der Brucke abstiirzen 
oder nicht abstiirzen wird, mit Hilfe der obigen Pramisse stringent 
begrundet werden. Aber die Begriindung des Obersatzes bedarf 
ihrerseits nicht etwa der Unterstiitzung durch das Urteil: Artillerie- 
geschiitz A vermag die Briicke nicht zu passieren; sondern er kann 
Hunderte von Jahren vor der Existenz dieses Geschiitzes gefunden 



252 Enter Abschnitt Die griechisdie Skepsis. 

und ausgesprochen sein, als Konsequenz der mechanischen Gesetze, 
der Bewegungsgesetze materieller Grofien. Das gleiche gilt yon 
den mathematischen Relationen; nicht nur in ihrer formalen 
Bedeutung fur die subjektive Raumanschauung , sondem aucb 
dort, wo sie fibergreifen in das Reich objektiver Begebenheiten- 
Die mathematischen Berechnungen zur Ermittlung der Tragfahig- 
keit der Brficke und der Last des Geschutzes, die nicht nur auf 
eine fiktive Brucke, ein fiktives Geschutz, sondem auch auf die 
wirkliche Brucke, das wirkliche Geschutz anwendbar sind, drehen 
sich keineswegs im Zirkel. Ihre Ergebnisse beruhen, verfolgt man 
sie bis zu den letzten Stfitzpunkten, auf den geometrischen und 
arithmetischen Axiomen; diese aber keineswegs auf jenen Ergeb- 
nissen. Dafi keine kurzere Verbindung als die Gerade zwischen 
zwei Punkten (auch in der objektiven Wirklichkeit) moglich ist; 
dafi Gleiches zu Gleichem addiert (nicht nur bei reinen Zahlen, 
auch bei beliebigen Objekten) Gleiches ergibt, das steht dem ratio- 
nalistisch gesonnenen Mathematiker a priori fest. Es bedarf also 
nicht etwa der induktiven Begrfindung durch alle Erfahrungsfalle, 
von denen die Momente im Brucken- und Geschutzbau einige waren. 

Freilich mufi der Rationalist sich bewufit sein, dafi er dabei 
nicht nur die Allgemeingfiltigkeit der formalen Raumanschauung, 
sondern deren notwendige Geltung auch fur alle mog- 
lichen Verhaltnisse riumlicher Wirklichkeiten fordert. 
Ahnlich hat er sich bei der Aufstellung allgemeingultiger Natur- 
gesetze bewufit zu sein, dafi das Wissen urn die reine, inhaltleere 
Regelmifiigkeit des Naturlaufs noch nicht genugt, um ohne Zirkel- 
bewegung S«itze fiber Einzelfalle dieser Regelmafiigkeit streng zu 
beweisen; sondem dafi es dazu der Kenntnis von der Gesetz- 
mifiigkeit einzelner und bestimmter Kausalverhfiltnisse bedarf. Da 
aber solche, etwa die mechanischen Gesetze, kein Mensch mehr 
heute aus reiner Vemunft abzuleiten versucht, sondem fiber ihre 
Beschaffenheit von der Erfahmng sich belehren lafit, so bleibt dem 
Rationalisten (schwenkt er hier nicht ab in das empirische Lager) 
nichts weiter ubrig: als irgend eine inhaltliche Bestimmung 
in seine apriorischen Elemente aufzunehmen, in denen zwar 
nicht die besonderen Kausalverhfiltnisse enthalten, aber an deren 
Hand diese wenigstens zu ermitteln sind; vielleicht die Denknot- 
wendigkeit: alles, was unmittelbar aufeinander folgt und sich 
raumlich berfihrt, ist in der Aufienwelt immer kausal miteinander 
verbunden. 


Driltes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepais. 


253 


Neben mathematischen und kausalen Gesetzmafiigkeiten , aui 
welche sich, wenn wir auch tatsachlich noch so weit davon ent- 
femt sind, doch grundsatzlich alle Beweise nicht unmittelbar 
evidenter Satze, die Dasein und Wirklichkeit betreffen, zuriick- 
fuhren lassen , konnte der Rationalist noch eine gleichfalls vorhin schon 
erwahnte Aussagen - Gruppe namhaft machen, auf welche Urteile 
zuruckfuhrbar waren, ohne dafi sie selbst, vom Standpunkt strengster 
logischer Ansprfiche (nur um diesen handelt es sich ja) durch diese 
Urteile ihrerseits bewiesen zu werden brauchte. Das ist die Gruppe 
der moralischen und isthetischen Gesetzmafiigkeiten. Nimmt 
man in alien Menschen lagemde Wertungsnotwendigkeiten an, etwa 
des Inhalts: ich und alle sollen so handeln, dafi ihre Motive zum 
Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung erhoben werden konnten, 
oder dafi der Sinn des Daseins, der Wille Gottes, das Gluck der 
Menschheit u. a. dabei gefordert wurde, so ist damit wieder eine 
Quelle gegeben, aus der der Wert von Handlungen, Personlich- 
keiten, Gesinnungen, Lebenslagen usw. abfliefien kann, ohne dafi 
der Quell selbst (der allgemeine Obersatz), aus dem diese Werte 
abgeflossen waren, durch den Wert dieser abgeleiteten Einzel- 
grdfien seinerseits gespeist wurde. Das Beispiel von der Wohltatig- 
keit der Strafienbahnen (S. 68) ist hier einschlagig. Ware z. B. 
die Verwirklichung des Sinns des Daseins apriorisches Sittengesetz, 
bestunde dieser Sinn im Aufstieg zu immer hoherer Vergeistigung 
auf den Stufen biologischer und historischer Evolution, gehorte 
dazu die Forderung der Kultur und zur Fordenmg der Kultur die 
zunehmende Ausbildung der Technik und der V erkehrsmoglich- 
keiten (alles doch gewifi keine aus der Luft gegriffenen Behaup- 
tungen) — so ware die Wohltatigkeit oder der Wert der elektri- 
schen Strafienbahnen erwiesen, ohne dafi durch ihn der Wert aller 
Verkehrserleichterungen erwiesen wurde. Erweitert man nun das 
Bereich apriorischer Urteile auch auf die asthetischen Werte, so 
gewinnt man einen Riesenkreis von Aussagen uber Einzelwerte, 
die ohne lirkel begriindet werden konnen und deren strenge Be- 
weisbarkeit wohl den Menschen am innerlichsten interessiert. Frei- 
lich mufi auch die Begriindung solcher Werturteile mannigfach in 
die Wirklichkeitsbezirke ubergreifen, so in der Frage: was denn 
die Kultur fordert? so dafi eine logisch absolut durchsichtige und 
zugleich vollig schlussige Beweiskette fur ethische und Ssthetische 
Werturteile der Naturgesetzmafiigkeit in apriorisch gegebener Form 
als Stutze nicht entbehren kann und ein Beweis fur den Wert 



2 54 


Enter Abschnitt Die griechische Skepsis. 


eines Geschehnisses stets einen Etnschlag von Kausalschlussen in 
sich aufnehmen wird. 

Anders der Empirist. Ihm stehen ja die allgemeinen Satze 
fiber mathematische , naturgesetzliche und Wertnotwendigkeiten 
nicht a priori fest, sondera sind auf induktivem Wege ermittelte 
Einsichten. Nun waren diese Einsichten nur dann vdllig gewifi, wenn 
sie auf vollstandiger Induktion beruhten. Ware also der Satz: 
eine Briicke dieser Konstruktion stfirzt unter der Last ft zusammen, 
ein induktiv gefundener Satz und doch von der hochsten Gewifi- 
heit (also nicht etwa aus anderen induktiv gefiindenen Satzen 
deduziert; in der Wirklichkeit wurde dies wohl der Fall sein, wo- 
durch aber das Problem nur zurfickgeschoben und allenfalls das 
Beispiel, nicht aber die Losung abzuandem ware) — so mfifite 
von alien Lasten /J, also auch vom Artilleriegeschfitz A, beobachtet 
worden sein, dafi unter ihnen die Briicke stets einstfirzt Dann 
wurde allerdings der Empirist, der erst die Tragfahigkeit der Briicke 
aus dem Einsturz unter der Last des Geschfitzes und darauf das 
Einstfirzen unter der Geschfitzlast aus der Tragfahigkeit folgerte, 
sich vollstandig im Kreise drehen. Ebenso wurde jedes geo- 
metrische, jedes arithmetische Axiom, dessen sich der philo- 
sophised empiristische Ingenieur zur Berechnung der Starke der 
einzelnen Briickenpfeiler usw. bedient, seinerseits bei vollstandiger 
Induktion nur durch die einzelnen Falle, die jetzt aus ihm ab- 
geleitet werden, mitbewiesen worden sein. Und auch der Wert 
aller Verkehrserleichterungen, aus dem der Wert der elektrischen 
Strafienbahnen sich herleitete, konnte auf solche Art nur durch 
den Wert aller Verkehrserleichterungen und also auch der Strafien- 
bahnen (als einer dieser Erleichterungen) eingesehen werden. 

Trotzdem verfallt die empiristische Beweismethode, wo sie sich 
ihrer eigenen Grenzen undTragweite bewufit ist, niemals der Diallele. 
Denn sie wird den allgemeinen Obersatz ja immer nur auf Falle 
anwenden, durch die der Obersatz nicht selbst mit bewiesen wurde, 
von denen man aber wissen will, ob der Obersatz auf sie anwend- 
bar ist. Freilich ist die allgemeine Regel fiber die objektive Wirk- 
lichkeit dann immer nur unvollst&ndig induziert. Aber dafur 
wurde ein vorher ganz ungewisser Satz fiber die objektive Wirklich- 
keit (oder Wertverhaltnisse), wie dafi Artilleriegeschfitze eine Briicke 
passieren konnen oder gewisse kulturelle Einrichtungen wertvoll 
und zu fordem sind, zur hbchsten Wahrscheinlichkeit empor- 
geschnellt und aus der Nacht der Unsicherheit in das klare Tages- 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 


255 


licht, wena auch nicht in den vollen Sonnenglanz erhoben. Leben 
wie Wissenschaft bieten eine uberwaltigende Fiille von Beispielen, 
aus denen die Wichtigkeit eines derartigen Erkenntnisprozesses 
erhellt. In alien Voraussagen uber die Zukunft haben wir ja mit 
Fallen zu tun, die weder in die Induktion fur eine allgemeine 
Regel aufgenommen, noch selbst direkt beobachtet sein konnen. 
Hier ist also fur den Empiristen eine Ableitung aus allgemeinen, 
aber unvollstandigen Induktionsergebnissen das einzige Mitt el, um 
iiberhaupt eine logisch haltbare Aussage uber zukunftige Ereig- 
nisse zu machen. Welch ungeheure Rolle aber gerade solche Aus- 
sagen in den wissenschaftlichen Erkenntnisprozessen der Physik, 
Chemie, Medizin usw. spielen, ist bekannt. Ob der Naturforscher 
eine neue Substanz gewinnt, indem er die Stoffe, mit denen diese 
bisher nur in der Synthese vorkam, Verbindungen mit andem 
Stoffen eingehen laflt und so auf analytischem Wege die gesuchte 
Substanz rein erhalt, im Vertrauen: dafi die Stoffe nach den in- 
duktiv ermittelten Gesetzen sich auch diesmal wieder verbinden 
werden; ob der Mediziner ein Antitoxin erfindet, vertrauend, 
dafi die Abscheidungsprodukte der Bakterien auch diesmal eine 
bakterientotende Wirkung haben werden — stets handelt es sich 
um die Deduktion neuer Einsichten aus unvollstandig induzierten 
Satzen ohne Diallele; und den hohen Erkenntniswert dieser Ope- 
ration kann kein Besonnener verkennen. Auch stromen aus den 
Ereignissen des gewohnlichen Lebens die drastischsten Beispiele 
besonders reichlich zu, an denen die Wichtigkeit empiristischer 
Beweise, sowie deren Vermeidung der Zirkelbewegung, auf den 
ersten Blick deutlich zu ersehen ist: dafi Feuer den mensch- 
lichen Leib zerstort, ist vom rein empirischen Gesichtspunkt 
$in unvollstandig induzierter, also nicht vollig gewisser Satz. 
Wollte man nun im gegebenen Fall sich dadurch abhalten lassen, 
die Flammen an den brennenden Kleidem seines Kindes zu 
Idschen, um erst die Bestatigung des Satzes auch durch diese 
Erfahrung abzuwarten, so wiirde die Reue fiber solch unsinniges 
Vorgehen einem den Wert aus unvollstandiger Induktion gewon- 
nener Erkenntnisse grfindlich fuhlbar machen. Also die Skepsis 
hat insofem recht: wenn der Empirist aus vollstandig indu- 
zierten und empirisch ganz gewissen Satzen Einsichten zu be- 
weisen sucht, so dreht er sich dabei im Kreise. Da ihm das 
aber gar nicht einf&llt, noch (wegen der prinzipiellen Unmoglichkeit 
vollstandiger Induktion) einfallen kann, so verstrickt er sich nicht 


256 Enter Absdmitt. Die griechische Skepsis. 

in die ihm gelegten Schlingen und gewinnt trotzdem wertvolle 
neue Krkenntnisse. 

Eng verwandt, aber nicht zusammenfallend mit der These: 
jeder Schlufi ist ein Zirkelschlufi, jeder Beweis ein Zirkelbeweis, 
ist das skeptische Apergu von der OberflQssigkeit aller Syllo- 
gismen. Da namlich der Schlufisatz oder das Beweisergebnis stets 
in den Pramissen bereits enthalten sei, so diene die ganze, schwer- 
fallige Operation nur dazu: was die Pramissen schon in sich bergen, 
noch einmal zutage zu fordem. Oder in skeptischer Redeweise: 
sind die Pramissen TrpoStfXa , so kann der durch sie bewiesene 
Satz kein aSrjXov sein. Diese Auffassung, dafi jede Konklusion 
implicite in den Pramissen stecke und daher, wer diese kenne, jene 
gar nicht erst zu entwickeln brauche, hat etwas ungemein Ober- 
zeugendes und Verfuhrerisches. Manch bedeutender Denker hat 
sich ihr ergeben und Manner wie Bacon und Mill haben unter 
diese skeptische Kriegserklarung ihren Namen gesetzt. Doch ist 
der Einwand, alle Begriindungen nicht selbstevidenter Behauptungen 
uber die Wirklichkeit seien rein analytischer, nicht synthetischer 
Natur, seien blofi logischeErlauterungs-, aber niemals Erweiterungs- 
prozesse, mehr glSnzend als wahr. Wieder sind es die mathe- 
matischen und kausalen Urteile iiber die seiende Welt, die Wert- 
urteile iiber die seinsollende Welt, auf die letzten Endes alles 
strenge Begriinden zuruckzufuhren ist, an denen man auch hier 
die Haltbarkeit des skeptischen Einfalls zu prilfen hat. Um aber 
ermudende Schwerfalligkeit zu vermeiden, seien an einem einzigen 
Beispiel, der moralischen Wertungsph&re entnommen, die moglichen 
Losungen des Problems entwickelt. Die stillschweigende Ober- 
tragung des Ergebnisses auf alle Qbrigen Beweisaufgaben macht keine 
Schwierigkeit. Das corpus delicti sei durch den Schlufi vertreten: 

Handlungen, deren Maxime sich zur allgemeinen Gesetzgebung 
eignet, sind gut 

Wahrheitsagen unter den eben eintretenden unvorhersehbaren 
Umstanden ist eine solche Handlungsweise. 

Wahrheitsagen im gegenwartigen Falle ist gut 

Noch einmal vertreten Rationalisten und Empiristen dem Gegner 
den Weg. Dem Rationalisten steht der Obersatz, das Kantische 
Sittengesetz, a priori fest Dafi aber jetzt die Wahrheit zu sagen 
eine allgemeingultige Handlungsweise ist, war in dem Obersatz 
noch gar nicht enthalten, ehe ich die Erwagung ansteUte, dafi sie 


Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 


2 57 


es sei. Denn die Umstande waren ja vorher noch gar nicht ein- 
getreten, die dieses Enthaltensein erst ermoglichten. Was also 
die Skepsis eigentlich meint: dafi der Obersatz laute, allgemein- 
gultige Handlungen, d. h. Handlung a, b, c, d usw., unter denen 
Wahrheitsagen im gegenwartigen Fall eine ist , sind gut; und dafi 
dadurch der ganze Beweis fur den Wert des Wahrheitsagens im 
vorliegenden Fall uberflussig werde , das trafe nur fur einen all- 
umfassenden Verstand zu, der nicht nur Kants allgemeines 
Sittengesetz in sich bergen, sondem auch alle die Erfahrungsfalle, 
die noch gar nicht eingetreten sind, im voraus wissen wurde. Fur 
den Menschen aber ist der Schlufisatz weder objektiv (als wirk- 
lich), noch logisch (als wahr) in dem Obersatz fruher begriffen, als 
er aus diesem gewonnen wurde. Nicht objektiv: denn Wahrheit- 
sagen im gegenwartigen Fall konnte nicht vor der Wirklichkeit 
des Falles objektiv gut sein; nicht logisch: denn die Wahrheit 
des Satzes: in einem unvorhersehbaren Fall (und die Existenz un- 
vorhersehbarer Falle wird auch der Rationalist nicht ableugnen) 
aufrichtig zu sein, sei gut, konnte fur den Menschen gleichfalls 
nicht eher bestehen, als der betreffende Fall eingetreten war. Aber 
ein Satz, der fur den Menschen fruher nicht wahr sein konnte, 
war es auch in der Tat nicht. Denn ein andres Erkennungszeichen 
der Wahrheit, als das beschriebene Evidenzgefuhl erregen zu konnen, 
besitzen wir nicht. Nun schliefien wir auch oft, wo der Lauf 
der Natur es ermoglicht, iiber die Wahrheit eines Satzes klar zu 
werden, und also die Wahrheit oder Onwahrheit eines Satzes schon 
tatsachlich besteht, auch da schliefien wir aus allgemeinen, als 
wahr erkannten Obersatzen auf die Wahrheit des Schlufisatzes; 
etwa dafi eine langst geschehene Handlung gut oder schlecht sei. 
Hier ist der Schlufisatz objektiv und logisch in unsrer ersten Pra- 
misse enthalten. Trotzdem behalt der Syllogismus seinen grofien 
Erkenntniswert. Denn wir waren noch gar nicht darauf aufmerk- 
sam geworden, dafi die Handlungsweise im vergangenen Falle 
nicht allgemeingultig, also schlecht sei. Hier ist zwar mit dem 
Grunde die Folge gegeben, und von dieser objektiv-logischen 
Seite hatte die Skepsis recht, die Oberfliissigkeit des Syllogismus 
zu behaupten; aber zugleich ist, zur Erweiterung meiner Erkenntnis- 
sphare, mit dem Grunde die Folge mir aufgegeben; und unter 
diesem subjektiv-psychologischen Gesichtspunkt hat sie un- 
recht, den Syllogismus zu verwerfen, solange diese Aufgabe nicht 
gelost ist. Denn das Suchen und Finden der Folge vollzieht sich 

Ricbter, Skeptirismus. 17 


258 


Enter Abichnitt. Die gricchische Skepsis. 


an der Hand des Syllogismus. Also: die Konklusion eines Schlusses 
uber objektives Geschehen steckt niemals und in keiner Weise 
in den Primissen, wenn dieselbe uber Tatsachen, die nicht vor- 
ausgesehen oder gewufit werden konnten, vermoge der Pramissen 
berichtet. Die Konklusion steckt in den Pramissen objektiv und 
logisch, aber nicht fur das erkennende (auch nicht das rationalistisch 
gesonnene) Individuum, wenn sie tatsachlich nicht gewufit wurde, 
so dafi die Kenntnis ihres Inhalts erst aus den Pramissen gewonnen 
werden konnte. Im ersten Fall konnte die Wahrheit eines Satzes 
erst durch den Schlufi und nicht schon aus der obersten Pr&misse 
erkannt werden; im andem Fall wurde sie erst durch den Schlufi 
erkannt. Beidemal , wenigstens grundsatzlich , ist sie absolut zwingend 
zu erweisen. 

Und nun zum Empiriker. Fur ihn ist der allgemeine Satz 
„ Handlungen, deren Maxime usw., sind gut", a posteriori und in- 
duktiv bestatigt Ist die Induktion vollstandig, so ist auch der 
Wert der Handlungsweise im vorhergesehenen, gegenwartigen Fall 
darin enthalten; die Skepsis ware im Recht, die Cberflussigkeit 
solcher Beweise zu betonen. Diese Sachlage wird niemals ein- 
treten. Eine die Fiille der allgemeingeltbaren Handlungen er- 
schopfende Induktion ist wegen der notwendigen Vernachlassigung 
alter zukunftig moglicherweise eintretenden Handlungen unmdglich. 
Hatte aber eine bestimmte Handlung bei der Induktion beriick- 
sichtigt werden konnen, so whrde der induzierende Empiriker 
ihren Wert nur dann aus dem Obersatz erschliefien , wenn dieser 
Wert beim Aufbau der Induktion noch keine Berucksichtigung ge- 
funden hatte. Sonst mufite er allerdings beim Syllogismus „ver- 
lieren, statt zu gewinnen weil er statt der allgemeinen Regel 
einen einzelnen Fall setzte, der schon in dieser Regel enthalten 
war. „Die einzig fruchtbringende Anwendung des subsumierenden 
Syllogismus besteht aber darin, dafi wir ihn gerade auf solche 
Fille anwenden, die zur Aufstellung der allgemeinen Pramisse 
nicht gedient haben. Selbst an manchen der herkommlichen 
syllogistischen Beispiele lifit sich das leicht erkennen. Den Satz 
„alle Menschen sind sterblich <( auf die bereits gestorbenen Menschen 
anzuwenden, wurde freilich ein ziemlich unnutzes Beginnen sein. 
Aber wenden wir nicht diesen Satz fortwahrend an auf uns und unsre 
noch lebenden Mitmenschen? Und wie anders wurde es in der Welt 
aussehen, wenn nicht unsre ganze Lebensfiihrung unter der Herr- 
schaft dieses Syllogismus stiindel 1 * (Wundt.) Was folgt aus alledem 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 


259 


fur Beweise rein empirischen Charakters? Dafi, wo die Konldusion 
in der allgemeinen Pramisse steckte (objektiv, logisch und psycho- 
logisch), namlich bei vollstandiger Induktion, der Beweis zwar 
vollig zwingend, aber wegen der Unerfullbarkeit seiner Voraus- 
setzung unmogligh und selbst bei Annahme der Erfullbarkeit jeden- 
falls — iiberflussig ware; dafi, wo die Konklusion nicht in der 
allgemeinen Pramisse steckt, (wenn sie auch objektiv und logisch in 
ihr enthalten sein konnte, fur mein erkennendes Bewufitsein aber 
nicht enthalten ist), namlich bei un vollstandiger Induktion, der 
Beweis moglich ist, auch nicht uberfliissig, aber sein Ergebnis nie 
vollig gewifi ausfallt Gilt doch der allgemeine Obersatz nur innerhalb 
der empirisch-induktiven Genauigkeitsgrenzen , und das gleiche mufi 
von dem auf ihn zuruckgefuhrten und so durch ihn erwiesenen 
Urteil gelten. 

Unter den spezifisch wissenschaftlichen Methoden, als 
der Anwendung der Vemunftoperationen zu gelehrten Zwecken, 
waren von der Skepsis vor allem die Induktion und die De- 
finitionen einer scharfen Kritik unterzogfen worden. 

Die skeptische Erwagung, durch die alle Induktion ins 
Wanken geraten sollte {(faXsvetiSai), ist in ihrem innersten Kern 
eine unbestreitbare und l&ngst anerkannte, auch auf den vorigen 
Seiten dauernd angewandte Wahrheit. Unvollstandige Induktion 
ist unsicher (a/Sifiatog) „da stets die Mdglichkeit besteht, dafi von 
den in der Induktion beiseite gelassenen Einzelfallen, irgendeiner 
sich der allgemeinen Regel nicht fiigt {rep xa$o\ov ivaviiovtiSai )" ; 
vollstandige ist unmoglich, „da die Einzeldinge unendlich sind und 
unbegrenzt". Wir werden es spater, beim Skeptizismus der mo- 
demen Positivisten, ausfhhrlicher zu begrunden haben, was den 
knappen Satzen der Pyrrhoniker entsprechend hier auch nur knapp 
gesagt werden soli: Alle Versuche, induktiven Ergebnissen, so- 
lange sie rein als solche sich darbieten, die vollstandige 
Pe/Haiotrjz zu verschafTen, sind als gescheitert anzusehn. Ein noch 
so gut induzierter Satz erlangt niemals absolute Gewifiheit, denn 
ich kann mir von ihm niemals bewufit werden, dafi er mit alien 
Erfahrungen sich im Einklang befindet, daB er im strengen Sinne 
des Wortes also wahr ist. Greifen wir auf unser altes Beispiel 
zuruck, in dem der Satz „alle Pferde haben eine Blutwarme, die 
sich innerhalb bestimmter Temperaturgrenzen bewegt (< als ein in- 
duktiv gewonnener gelten sollte. In dieser Eigenschaft ware der 
Satz zunsLchst absolut gewifi und wahr, wenn „alle Pferde haben 

17* 



2 tO 


Erster Abachnitt Die griechische Skepsis. 


warmes Blut u als brachylogischer Ausdruck stande fur „alle bisher 
beobachteten Pferdeexemplare hatten warmes Blut u . Allerdings 
ware in dieser Einschrankung das Urteil als Erkenntnis allgemeiner 
Natur ganzlich wertlos; es uberschritte nicht den Kreis unmittel- 
barer Erlebnisse Oder Erinnerungen an solche; sein Inhalt ist eine 
blofie Wiederholung der Einzelbeobachtungen in abstrakterer Form. 
Weder ist es in dieser Fassung geeignet, irgend einen nicht selbst 
evidenten Satz liber objektive Verhaltnisse zu beweisen, d. h. 
evidenter zu machen, noch einer Voraussage in die Zukunft als 
Basis zu dienen; noch einzugehen als Bestandteil in das System 
wissenschaftlicher Erkenntnisse. Nun wurde die Induktion als 
wissenschaftliche Methode von den ihr vorausgehenden Beobach- 
tungen gar nicht verschieden und also von keinem selbstandigen 
Nutzen sein, wenn sie weiter keine Einsicht abwurfe als die (Ge- 
dachtnisschwankungen abgerechnet) allerdings gewisse Aussage: ich 
habe die und die Erlebnisse gehabt, die und die Beobachtungen 
gemacht. Aber der vorsichtigste Empiriker glaubt sich zu weiter- 
gehenden Folgerungen b’erechtigt. Er beansprucht namlich fur den 
Satz „alle Pferde haben warmes Blut" je nach der Technik seiner 
Induktion im betreffenden Falle mehr oder minder gewisse Geltung; 
und zwar nicht fur den Satz in der brachylogischen Ausdeutung, 
sondem fur den Satz in wortlichem Sinne, nach dem „alle Pferde u 
alle wirklichen, moglichen, zukunftigen, vergangenenbegreift; gleich- 
giiltig, ob die BlutwSLrme bei ihnen gemessen wurde oder nicht 
Wie kommt der Empirist zu diesem Anspruch, der dem Laien 
so selbstverstSndlich erscheint, dem Philosophen aber seit Hume 
eines der schwierigsten Probleme seiner Wissenschaft bedeutet? 
Die Annahme: wenn in vielen Fallen die gleichen Merkmale a, 
b, c usw. (— die Pferdemerkmale) mit dem Merkmal bestimmter 
Blutwarme verbunden waren, so werden auch in alien ubrigen 
Fallen diese beiden Merkmalgruppen aneinander gebunden sein, 
ergibt sich nicht einfach aus der Beobachtung der „vielen Falle“. 
Sondem dieser Annahme liegt eine gewichtige Voraussetzung zu- 
grunde: die Gleichmafiigkeit des Naturlaufs oder die Ge- 
setzmSfiigkeit alles Geschehens. Nach dieser Voraussetzung 
ist dasjenige, was oft miteinander verbunden war, immer mit- 
einander verbunden. In der Tat geht, wie der Heros der modernen 
Induktionsmethodologie eindringlich hervorhob, in jede strenge 
Induktion, welche die Eigenschaft beobachteter Falle zur Eigen- 
schaft aller gleichen oder ahnlichen, aber nicht beobachteten Falle 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 261 

erhebt, diese Voraussetzung gewissermafien als oberste Pramisse 
ein, so dafi unser Beispiel in logischerDurchsichtigkeit lauten wurde: 

Was oft miteinander verbunden war, ist immer miteinander ver- 
bunden. 

Blutwarme von Temperatur x ist oft mit den Pferdemerkmalen 
verbunden. 

Alle Pferde haben warmes Blut 

Aber, wird man einwenden, das ist ja die versteckte Flucht ins 
rationalistische Lager. Denn die Voraussetzung, durch welche die 
Induktion erst ermoglicht und den Einzelbeobachtungen eine liber 
ihre eigene Sphare hinausgreifende Erkenntnisbedeutung verliehen 
wurde, ist ja eine Denknotwendigkeit, ein apriorischer Satz, das 
allgemeine Gesetz der Kausalit&t in etwas ungewohnlicher Formu- 
lierung! Und die ganze Induktion hat sich in eine Deduktion aus 
einem vollig gewissen denknotwendigen Satz verwandelt Das Urteil 
uber die Warmbliitigkeit der Pferde ist jetzt nicht mehr aus ein* 
zelnen Beobachtungen als allgemeines Ergebnis induziert, sondem 
aus einem viel allgemeineren Satz als dessen spezielle Folge de- 
duziert. Die Beobachtungen spielen zwar noch die gleiche Rolle 
wie vordem, da man sich uber das, was oft miteinander verbunden 
ist, nur durch Beobachtung der Erfahrung unterrichten kann; aber 
der eigentliche Nerv des Induzierens ist durchschnitten und der 
skeptische Knoten, wie unvollstandige Induktion sichere Erkenntnis 
allgemeiner Satze verschaffen konne, nicht gelost, sondem zer- 
hauen. Darauf wurde der Empirist entgegnen: keineswegs. Denn 
die Annahme von der Gleichformigkeit des Naturlaufs ist selbst 
das Ergebnis einer Induktion, aber sie ist unter alien Induktionen 
die allgemeinste und gewisseste. Sie ist die Sanktion, unter der 
sich alle einzelnen Induktionen vollziehen. Dafi linter gleichen 
Umstanden gleiche Erscheinungen, unter gleichen Bedingungen 
gleiche Wirkungen eintreten, hat die Erfahrung millionenfach be- 
statigt, die Erfahrung des Lebens in alien ihren Teilen, die Er- 
fahrung der Wissenschaft in alien ihren Zweigen. Und wenn ich 
andrerseits diese Voraussetzung, zu der mich objektiv die iiber- 
waltigende Masse von Erfahrungen, subjektiv der „Trieb nachVer- 
allgemeinerung u (Mill) oder der Zwang der Assoziation (Hume) 
fast gewaltsam drangt, nun wieder der Gewinnung neuer Ein- 
sichten zugrunde lege, so sehe ich diese Einsichten von der Er- 
fahrung stets bestatigt und damit jene Urhypothese durch das 



262 


Erster Absdmitt. Die griechische Skepsis. 


Gelingen ihrer Anwcndung immer starker bekraftigt Aber absolut 
gewifi ist auch diese Urhypothese nicht; denn sie steht nicht mit 
alien, sondem nur mit unendlich vielen Erfahrungstatsachen im 
Einklang; das unausrottbare Evidenzgefuhl heftet sich nicht an sie, 
und das Wahrheitsgefiihl wird zum Wahrscheinlichkeitsgefuhl 
herabgestimmt. 

Die Technik der Induktion, auf die naher einzugehn, hier 
noch nicht der Ort ist, besteht im wesentlichen darin, heraus- 
zufinden: was eigentlich oft miteinander verbunden ist. Diese 
Forderung birgt ein qualitatives und ein quantitatives Moment 
in sich. Mit der immer reineren Herausarbeitung des qualitativen, 
der immer umfassenderen Berucksichtigung des quantitativen 
Moments steigt direkt proportional der Erkenntniswert einer In- 
duktion. So handelt es sich im obigen Beispiel darum, zu unter- 
suchen: a) ob wirklich die Pferdeeigenschaften mit der Warm- 
blutigkeit verbunden sind , und nicht etwa die Warmblutigkeit der 
Pferde durch ganz andre Umstande, die nur zufallig auch in den 
untersuchten Pferdeleibem sich abspielten (etwa pathologische Pro- 
zesse) bedingt ist; dazu bedarf es der, womoglich experimental 
geleiteten, „isolierenden Abstraktion" von alien NebenumstSnden ; 
b) ob an moglichst vielen, oder (um b mit a zu verbinden) an 
beliebigenExemplaren dieBlutwarme die bestimmten Temperatur- 
grenzen einhalt. Dabei zeigt sich: wo die erstgenannten Bedin- 
gungen sehr vollkommen erfullt sind, die zweitgenannten indirekt 
bereits miterfiillt, und deshalb direkt mehr oder minder entbehrlich 
sind. Dieses merkwurdige Verhaltnis von qualitativen und quan- 
titativen Induktionskriterien hat seinen Grund darin, dafl der Em- 
pirist beflissen ist, moglichst viel indirekt zu induzieren, d. h. Satze, 
die durch direkte Induktion ziemlich schwach gestfitzt waren, aus 
induktiv ermittelten Satzen von hoherer Gewifiheit zu deduzieren. 
Dabei spielt die Zahl der in die Induktion eingehenden Einzelfille 
bei der Ermittelung des obersten Gesetzes, des allgemeinen Kausal- 
prinzips die hochste Rolle; sowie aber einmal, wiederum auf quan- 
titativem Wege, die allgemeinsten qualitativen Kriterien dieser 
Gesetzmafiigkeit ermittelt sind, handelt es sich nicht mehr in erster 
Linie um die Anzahl, in der bei bestimmten Erscheinungen diese 
Kriterien erfullt sind, sondem um den Grad, in dem ihnen, viel- 
leicht nur in einem Falle genugt wird, um die VeraUgemeinenmg 
daraufhin zu wagen. So verdankt sich die allgemeine Geltxmg des 
Gesetzes „raumlich-zeitlich stetig miteinander verbundene Er- 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 


263 


scheinungen, zwischen denen das Verhaltnis der Aquivalenz be- 
steht, sind immer (d. h. kausal) miteinander verbunden (< rein quan- 
titativen Momenten, namlich der dauemden Bestatigung durch die 
Erfahrung. Dies Gesetz ware also nach Ansicht des reinen Em- 
pirismus per enumerationem gefunden. Alle iibrigen Satze all- 
gemeiner Natur fiber objektive, aufiere Erfahrung ist der modeme 
Empirist bemfiht, auf dieses oberste Gesetz zuriickzufuhren, um 
sie an dessen hohem Wahrscheinlichkeitsgehalt teilnehmen zu lassen. 
Am besten gelingt ihm das bei den mechanischen, physikalischen 
und chemischen Gesetzen, auf die man wieder die physiologischen, 
botanischen u. a. Gesetze zuriickzufuhren sucht. Hier konnen oft 
die quantitativen Momente, die Anzahl der Falle, ersetzt werden 
durch das qualitative Merkmal der Aquivalenz unter den an- 
gegebenen Bedingungen. Ist dies Merkmal auch nur in einem 
einzigen Fall sichergestellt, so findet der betreffende auf diesen 
Einzelfall bin behauptete allgemeine Satz seine Stiitze am all- 
gemeinen Kausalprinzip fur die aufiere Erfahrung und ist weiterer 
Beobachtungen unbedurftig geworden. In den weniger „exakten“ 
Disziplinen mufi dann oft wieder die Fiille der Beobachtungen an 
die Stelle der qualitativen Merkmale treten. Aber auch dort, wo 
der Empirist durch eine einzige Beobachtung einen allgemeinen 
Satz aus einem noch allgemeineren ableiten konnte, gelang dies nur, 
weil der Einzelfall ein Merkmal zeigte, dafi bei einer Unzahl von 
Fallen als mit einem bestimmten Verhalten verbunden beobachtet 
worden war. Daher gibt — man mag gegen die enumeratio sagen, 
was man will, und noch so oft darauf hinweisen, dafi auch der 
Empirist sich ihrer keineswegs iiberall bediene — doch schliefilich 
die Quantitat sich gleich verhaltender Falle fur die Gewifiheit 
eines induktorischen Ergebnisses ffir den reinen Empiristen den 
letzten Ausschlag. Es erscheint z. B. die Verbindung von Pferde- 
merkmalen und Blutw&rme nicht sogleich als ein Spezialfall des 
quantitativ am vollkommensten induzierten Kausalgesetzes fiber 
Aquivalenz. Man wird also zunachst den Satz von der Warm- 
blfitigkeit des Pferdes durch die Anzahl der FSLlle zu stutzen 
suchen. Gelingt es aber, die Warmbliitigkeit als mit bestimmten 
Oxydationsprozessen verbunden nachzuweisen, die wieder durch 
die Pferdekonstitution, Atmung, Ernahrung usw. bedingt sind, so 
tritt an Stelle weiterer Enumeration die Deduktion aus dem all- 
gemeinen chemischen Gesetz: Verbrennungsprozesse von bestimmter 
Art sind m* v der Entwicklung einer bestimmten Anzahl Kalorien 



264 


Enter Abschnitt. Die griechische Skepsis. 


kausal verbunden. Dieser Satz brauchte nicht mehr aus der Zahl 
der Falle, sondern kann vermoge der isolierenden experimentellen 
Methoden der Chemie als spezielle Aufierung des Gesetzes auf- 
gezeigt werden: was raumlich und zeitlich sich unmittelbar anein- 
ander anschliefit und dem Aquivalenzprinzip genii gt, ist kausal 
aneinander gebunden. Aber dieses Gesetz ist selbst wieder nur 
der Ausdruck quantitativ reicher Induktion, wie es seinerseits 
unter dem quantitativ noch reicher induzierten allerallgemeinsten 
Kausalgesetz steht: der Naturlauf ist ein gesetzmafiiger, und 
an diesem seinen letzten Rfickhalt findet Es darf also der in- 
duzierende Empirist von der Anzahl der Einzelfalle zur Gewinnung 
eines allgemeinen Satzes nur dann absehen, wenn er die allgemeine 
Regel als Aufierung eines Gesetzes nachweisen kann, das quan- 
titativ weit vollkommener induziert ist, als seine allgemeine Regel 
es je werden konnte. 

So halten wir daran fest und mfissen der Skepsis darin recht 
geben: fur den Empiristen, dem alle allgemeinen Satze fiber ob- 
jekdve Verhaltnisse auf direkter Induktion oder Ableitung aus 
direkt induzierten Satzen letzten Endes beruhen, gibt es absolute 
Evidenz, also auch „Wahrheit 4< der betrefTenden Satze: nur bei 
Urteilen fiber unmittelbare Erlebnisse und formal logische Ope- 
rationen. Dem Rationalisten dagegen sind fiberdies noch alle apri- 
orischen Denk- und Anschauungsnotwendigkeiten als Bedingungen 
aller Erfahrung gewifi und wahr (Kants synthetische Urteile a priori 
in verschiedener Fassung); und, falls er in eine dieser Denknot- 
wendigkeiten (etwa in das Kausalgesetz) irgend ein inhaltliches 
Merkmal aufnimmt, auch alle allgemeinen Satze, die aus einem 
einzigen Erfahrungsfall, der das allgemeine Merkmal zeigte, ge- 
folgert sind. (Z. B. alle speziellen Kausalgesetze der Physik, 
Chemie usw.) 

Dafi die induktive Methode, obgleich sie ffir sich allein allge- 
meinen Satzen von objektiver Geltung nicht vollkommene Gewifiheit 
zu sichem vermag, dennoch machtig zur Fdrderung der Erkenntnis 
beitragt, ist ebenso selbstverstandlich, wie dafi die antike Skepsis 
diese Leistung nicht weiter beachtete. Was ging es sie an, ob bei 
methodisch geleiteten Induktionen die induktiv gewonnenen Satze 
an der Ableitbarkeit aus andem von hoherer Gewifiheit deduktiv 
geprfift werden konnen; ob man aus ihnen, als hypothetisch an- 
genommenen, vorlaufige Folgerungen zieht, um diirch die Probe 
an der Erfahrung die Richtigkeit dieser Folgerung und damit den 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 


265 


Gehalt der induzierten Hypothese selbst zu prfifen! Dieses in Flufi 
Geraten der Erkenntnisprozesse gerade durch Operationen, die 
nicht absolut gewisse Ergebnisse liefem, verkennt die Skepsis stets, 
und sie mufite es verkennen durch ihre starre Forderung „alles 
oder nichts", der in ihrem ersten Teil nur ein Rationalismus ganz 
genugen kann, welcher an a priori gewisse Satze mit allgemeinen 
Merkmalen fur inhaltliche Erfullung glaubt 

Weniger tiefgreifend sind die Bemerkungen, die der Pyrrho- 
nismus gegen das wissenschaftliche Verfahren des Definierens 
geltend machte. Dafi durch die Definitionen keine neuen Erkennt- 
nisse uber die Dinge gewonnen werden, die nicht durch die un- 
mittelbaren Erlebnisse oder mittelbar durch die Anwendung der 
logischen Axiome, resp. der allgemeinen (apriori - apodiktischen oder 
empirisch-wahrscheinlichen) Grundsatze auf die unmittelbaren Er- 
lebnisse schon vorher bestanden, ist uns heute eine Binsenwahr- 
heit. Wenn sie mit ihrer Persiflage der stoischen Definierwut diese 
Einsicht bezweckte, war die Skepsis im Recht Denn wenn man 
ubertreibend gesagt hat, dafi die formale Logik „fiberhaupt kein 
besseres Schicksal verdient, als dafi sie verhohntund mit Ffifien ge- 
treten wird“ (Prantl.), so trifft dies fur eine formale Logik, die sich 
als materiale und objektive gebardet, jedenfalls zu. Dafi andrerseits 
die Definitionen in ahnlicher Weise wie die Bildung der BegrifTe 
ein unentbehrliches Hilfsmittel sind, uns selbst und andern den 
jeweiligen Stand unsrer Erkenntnisse in knappen, erschopfenden 
Formeln zu fibermitteln und die BegrifTe von den Dingen bei 
weiterer Forschung eindeutig zu gebrauchen, bleibt unwiderlegt 
und unwiderlegbar. 

Mit der kritischen Besprechung jener allgemeinsten, alle 
Erkenntnis zu Falle bringenden Argumente, welche Sextus in der 
Entwicklung seiner rationalen Skepsis vorangestellt hatte, wahrend 
imsre Darstellung sie an das Ende verwies, mit der Bekampfung des 
Wahrheitskriteriums und des Wahrheitsbegriffs halten wir 
uns nicht lange auf. 

Dafi ein Erkennungszeichen der Wahrheit nie zu ermitteln 
ist, weil wir bei dieser Ermittelung entweder ins Unendliche ge- 
trieben wfirden oder uns im Kreise drehen mfifiten, ware nur dann 
richtig, wenn die BeschafTenheit des Wahrheitskriteriums, das alien 
Begrfindungen und Beweisen erst die Sanktion erteilt, selbst wieder 
einer Begrfindung und eines Beweises bedfirfte. Aber das psy- 
chologische Kriterium, das unmittelbare und unausrottbare Evidenz- 


266 


Erster Abschnitt Die griechuche Skepsis. 


gefuhl ist letztes , unmittelbares Erlebnis; and das logische 
Kriterium „was mit alien Erfahrungen und Denkgesetzen in Ein- 
klang sich befindet, ist wahr“, ist fur den Rationalisten a priori, 
daher unbeweisbedurftig und unerschfitterlich; fur den Empiristen 
eine induktive Verallgemeinerung auf Grand der Erfahrung, dafi 
bisher das psychologische Kriterium bei solchem logischem Befunde 
sich stets einstellte. Die skeptische Frage: wer soli Richter iiber 
die Wahrheit sein? ist durch das S. i27ff. Gesagte dahin entschieden, 
dafi der einzelne Mensch hier das urteilende Subjekt sein mufi; 
nur auf dem Wege des Analogieschlusses sein Richteramt auf an- 
dere (menschliche, untermenschliche oder ubermenschliche Wesen) 
ubertragen kann, sich aber immer bewufit zu sein hat, dafi es 
sich dabei nur urn menschliche Wahrheit handelt. Die von der 
Skepsis behaupteten Unterschiede zwischen dem Wahrheitsbewufit- 
sein der Toren und Weisen, der Menge und der Einzelnen be- 
stehen nicht, sondern scheinen nur deswegen zu bestehen, weil 
das ausrottbare Evidenzgefuhl sich bei verschiedenen Subjekten 
an verschiedene Satze heften kann und man sich oft nicht bewufit 
ist, ob eine Aussage mit alien Denkgesetzen und Erfahrungen 
harmoniert. Die Funktion, durch die fiber wahr und falsch ge- 
urteilt werden soil, ist psychologisch das Gefuhl und logisch die 
Vernunft; denn was mit alien Erfahrungen und Denkgesetzen im 
Einklang ist, vermag niemals die Sinnlichkeit, sondern nur unsre 
Denktatigkeit zu erkennen. Die Norm, nach welcher entschieden 
wird, aber ist wiederam psychologisch das unfiberwindbare Gewifi- 
heitsgefuhl, und logisch die geforderte Obereinstimmung mitDenken 
und Erfahrang. Bei der Bestreitung der stoischen Wahrheitsnorra, 
der (pavratiia xataXiptriXT) , hatte die Skepsis in der Sache recht, 
aber in der Begrundung ging sie fehl. Nicht deswegen kann die 
q>avra6ia xataXipcttxrf nicht Norm fur die Wahrheit sein, weil 
falsche und richtige Wahmehmungen gleichermafien evident, xata- 
Xrjnrtxai sein konnen, sondern weil es weder evidente noch nicht- 
evidente, weder richtige noch falsche Wahmehmungen geben kann. 
Rich tig am stoischen Kriterium war das schone Bei wort, falsch 
das Substantiv; nicht die (pavxacia xataXiprrtxij , sondern das 
na$o<s xaraXiprrtxov , das sich aber niemals an <pcnrta6lax , sondern 
stets nur an aUtcajutra kettet, ist Norm fur die Wahrheit Es ist 
nicht moglich, dafi die sinnlichen Wahmehmungen eines Menschen 
mit elementarer Gewalt jemals das Ei No. i fur das Ei No. 2 , die 
Sohne des Euristheus fur die eigenen Kinder „halten u sollen; viel- 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 267 

mehr tut dies erst die vemunftige Deutung der sinnlichen Wahr- 
nehmung. In dieser entpuppt sich aber allemal die elementare 
Gewalt der Cberzeugung bei falschen S&tzen, als — ausrottbares 
Evidenzgefuhl! 

In der Analyse des Wahrheitsbegriffs bricht noch einmal 
der derbe Realismus der Skepsis mit aller Macht hindurch. Die 
Wahrheit blieb dieser Sekte ein Reale, ein Damon oder eine Gottin, 
die sich nur nicht packen lassen wollte; weder die Sinne, noch 
die Vernunft, noch beide zusammen, so verlief die Disjunktion 
Aenesidems, bekamen sie zu fassen. Man vergafi: dafi die Wahr- 
heit abstrakt ein Beziehungsbegriff ist, der die Beziehung von 
Satzen auf das Gefuhl des Subjekts zum Ausdruck bringt; diese 
Abstraktion, selbst das Produkt eines Erkenntnisprozesses, kann 
so wenig noch einmal zum besonderen Erkenntnisobjekt erhoben 
werden, wie etwa der Beziehungsbegriff rechts abgesehen von 'den 
einzelnen unter bestimmten Bedingungen als rechts zu bezeichnenden 
Raumteilen noch besonders und fur sich als ein starres Reale dem 
Subjekt gegenuber steht und von diesem „erkannt“ werden kann. 
Konkret bedeutet die Wahrheit die Summe aller wahren S&tze. 
Diese Summe ist aber wiederum keine neue Realitat neben oder 
uber den einzelnen Wahrheiten. Woran diese zu erkennen sind, 
daruber besteht hoffentlich jetzt kein Zweifel mehr. 

Die beiden dialektischen Sophismata endlich, mit denen die 
Darlegung der rationalen Skepsis schlofi, noch ausdrftcklich zu 
„widerlegen“, ware eine pedantische Stillosigkeit, die kein archi- 
tektonischer Vollstandigkeitstrieb rechtfertigen wiirde. 

Oberblickt man den Kampf der Skepsis gegen die Formen 
des Erkennens, gegen Sinne und Vernunft im ganzen, so stellt 
sich als kritisches Gesamtergebnis heraus: dafi die Skeptiker mit 
den gegen die Mdglichkeit des Erkennens angefhhrten Tatsachen 
meistens im Rechte sind, dafi sie aber mit der Verwertung 
dieser Tatsachen zur Gewinnung eines „bodenlosen u Skeptizismus 
sich im Unrecht befinden. Das Geheimnis, das dieser Verwertung 
zugrunde liegt, besteht darin, dafi diese Richtung falsche oder 
zu hohe Anforderungen an die Erkenntnis der Wahrheit stellte — 
und darin verfuhr sie noch sehr unkritisch, naiv und dogmatisch — ; 
um dann, vermoge der von ihr zum Teil entdeckten, zum Teil 
von den Sophisten, ja selbst von dogmatischen Vorgangem hber- 
nommenen Tatsachen, auf die Unerfullbarkeit dieser Anforderungen 
zu schliefien. Die Skeptiker nehmen an, die Beschaffenheiten der 



268 


Enter Abadmitt Die griedusche Skepii*. 


Dinge durch die Sinne erkennen, heifie: in jedem Element der 
isolierten Wahmehmung reale Dingbeschaffenheiten widerspiegein; 
und da dies wegen der Relativit&t und Variabilitat der Empfin- 
dungen jedenfalls nicht geschieht, verwerfen sie die sinnliche 
Wahrnehmung als unbrauchbares Erkenntnisinstrument Sie nehmen 
an, allgemeine, inhaltliche Satze uber die objektive Wirklichkeit 
mit Hilfe der logischen Operationen gewinnen und so gesetzmafiige 
Zusammenhange der Dinge erkennen, heifie: vollig gewisse Satze 
fiber diesen Zusammenhang gewinnen, und da dies infolge der 
drei logischen Tropen (aufier auf Kantisch-rationalistischer Grand- 
lage) nicht moglich ist, verwerfen sie dieVernunft als unbrauch- 
bares Erkenntnisinstrument Sie nehmen an: Wahrheit erkennen 
heifie eine feste, selbstandige Realitat zu packen kriegen, nicht 
nur die Beziehung gewisser Satze zu Evidenzgefuhlen des mensch- 
lichen Bewufitseins feststellen; und da wir die Wahrheit nur durch 
das Medium unsrer erkennenden Funktionen zu erblicken ver- 
mogen, sind wir nie sicher, die Wahrheit, welche vielleicht ein 
Gott, ein Teufel, ein Engel, ein Tier anders und reiner erfafit, 
zu besitzen. 

Heute sind wir in unsern Ansprfichen an Erkennen und 
Wissen aus kritischen Grfinden bescheidener und eben darum in 
den Folgerungen weniger skeptisch geworden. Die Dosis Skepti- 
zismus, die von vomherein im Blute des modernen Menschen 
kreist, macht ihn gewissermafien immun gegen die radikalen 
Konsequenzen eines trotz aller Reflexion naiven Skeptizismus. 

IV. Die Skepsie gegen einzelne Wueeneinhalte — Natarznsammenhang — 

Oott — Werte. 

Die Kritik hat sich hier auf die in der Darstellung heraus- 
gehobenen Punkte zu beschranken. Diese hatten die skeptische 
Zersetzung des Kausalprinzips, der sittlichen Wertbegriffe, der 
Gottesvorstellung zum Inhalt In den Sturz des Kausalprinzips 
wurden alle Wissenschaften, die an dessen Hand ihre Ergebnisse 
erarbeiteten, verflochten; nach antiker Auffassung war das vor 
allem die Physik, die Grunddisziplin der Naturwissenschaften, ge- 
wesen. Aber die skeptischen Angriffe treffen ebensogut das Kausal- 
prinzip, wie es die Psychologie, als Basis der Geisteswissenschaften, 
in der neueren Zeit zur Anwendung gebracht hat Durch die 
beiden andem Zielpunkte sollten Moralphilosophie und Theologie 
zu Tode getroflen werden. 



Drittes Kapitcl. Die Kritik der griechischen Skepsis. 


269 


Aus der Polemik Aenesidems gegen das Kausalgesetz sind 
vor allem zwei Einwande von weittragender Bedeutung. Der eine 
ist gegen das Kausalprinzip im allgemeinen gerichtet und findet 
es unbegreiflich, dafi aus einem Ding als Ursache ein ganz andres 
Ding als Wirkung hervorgehen solle, da ersteres doch aus seiner 
Natur nicht herauszukommen, die Grenzen seiner Individualist 
nicht zu durchbrechen vermoge. Der zweite Einwand richtet sich 
gegen die Annahme, dafi Ungleichartiges, etwa Physisches und 
Psychisches, im Kausalverhaltnis zueinander stehen konne. Was 
den ersten Fall anlangt, so ist nicht zu verkennen, dafi wiederum 
die extrem - realistische Anschauungsweise dem ganzen Einwand als 
wiUkiirliche Voraussetzung zugrunde liegt. Man meinte, die Ur- 
sache sei, wie ihr Name besage, wirklich eine Sache, ein Ding, 
und von der Wirkung gelte das gleiche. Dann ist es allerdings 
unbegreiflich, wie eine Sache, ein Ding (etwa ein geheizter Ofen) 
Ursache eines ganz andern Dinges (der Stubenwarme) sein sollte; 
dann miifite allerdings die Stubenwarme schon irgendwie im ge- 
heizten Ofen stecken — wie k&me sie sonst wohl aus ihm her- 
aus — , der Ofen (als Wirkung) in der Klempnerarbeit (als Ursache), 
die Klempnerarbeit (als Wirkung) in der Emahrung des Mannes 
(als Ursache) usw. Quantitativ betrachtet wiirde dann diese end- 
lose Kausalreihe zuriickfuhren auf eine erste Ursache, die anzu- 
sehen ware als der mit der unendlichen Zahl aller Glieder der 
ganzen Kausalkette latent geladene Kern; es wurde in der Tat 
der skeptischen Entgegnung, sogar ihrer drastischen Ausdrucks- 
weise kaum auszuweichen sein: Aus der Eins ginge die Unendlich- 
keit hervor! Es waltete hier also, um ein anschauliches Bild zu 
gebrauchen, das umgekehrte Verhaltnis ob, wie zwischen den 
ineinandergeschachtelten chinesischen Lackkastchen, bei denen das 
grofite das zweitgrofite, dieses das nachstgrofie usf. in sich auf- 
nimmt und, geoffnet, aus sich entladt. Man denke sich zur Illu- 
stration der von der Skepsis in der extrem -realistischen Kausali- 
tatsauffassung aufgedeckten Absurditat: das kleinste Kastchen 
beherberge alle iibrigen in sich und sei imstande, sie der Reihe 
nach aus sich zu entladenl Nun ldsen sich alle diese Bedenken 
spielend, sowie man die Verdinglichung von Ursache und Wir- 
kung aufgibt, und das Kausalprinzip als das anspricht, als was es 
sich immer mehr bewahrt und erkannt wird: als einen Vorgang 
(nichts Dingliches), der die regelmafiige Beziehung (nichts Ding- 
liches) zwischen zwei zeitlich aufeinander folgenden Begebenheiten 



2 70 Enter Abschnitt. Die griechische Skepsis. 

(nichts Dinglichem) zum Ausdruck bringt. Weil auf die der Ofen- 
warme zugrunde liegenden Bewegungsvorgange die der Stuben- 
warme zugrunde liegenden Bewegungsvorgange unter bestimmten 
Bedingungen regelmafiig folgen , so spricht man diese Beziehung 
zwischen beiden Gliedem in der Form aus, dafi man jedem der- 
selben ein Epitheton beilegt, das auf die Beziehung zum andem 
hinweist, und die Ofenwarme Ursache, die Stubenwirme Wirkung 
nennt Durch das Ursache- und Wirkungsein kommt also in diese 
Wirklichkeitsbestandteile nicht etwa noch ein neues Wirklichkeits- 
element hineiri, sondern sie verharren durchaus in den Grenzen 
ihrer Individualist; wirklich an der Kausalitat ist allein dabei die 
zeitliche, gesetzmafiige Beziehung zwischen den als Ursache und 
Wirkung charakterisierten Elementen. Ereignis A als Ursache von 
Ereignis B wird nicht zu A/9, B zu Bor, sondern A bleibt A, 
und B bleibt B; nur die Linie AB ist das einzige durch dieses 
Kausalverhaltnis neu hinzutretende objektive Moment. Das Ver- 
haltnis von Ursache und Wirkung ist also, in Kantischer Termino- 
logie geredet, kein analytisches, sondern ein synthetisches. In den 
Dingen sind die Wirkungen nicht objektiv implicite, in den Ding- 
begriffen nicht logisch implicite enthalten; sondern durch das, was 
objektiv zu einem Ereignis in der Zeit hinzukommt, durch das, was 
der Mensch logisch als zu dem Begriff dieses Ereignisses hinzu- 
kommend erkennt, wird ein Ereignis zur Ursache gemacht, als 
Ursache erkannt. Dabei ist es vollig gleichgiiltig, ob diese kau- 
salen Beziehungen zwischen den Ereignissen gedeutet werden: 
als Relationen zwischen den Wahmehmungen (idealistisch), oder 
zwischen bewufitseintranszendenten Dingen (realistisch) ; als absolut 
konstante (rationalistisch), oder als bislang konstante (empiristisch). 
Die Annahme, dafi den Dingen als solchen auch noch Ursachlich- 
keit neben ihren sonstigen Eigenschaften zukame, findet ihre letzte 
Stutze, nachdem sie allmahlich aus alien ubrigen Stellungen sich 
verdrangt sah, an einem irrefuhrenden, von den Naturwissen- 
schaften entlehnten BegrifTe: es ist der Begriff der Kraft, wel- 
cher unter Mifiachtung der erkenntnistheoretischen Vieldeutigkeit 
aller in den Einzeldisziplinen verwandten Vorstellungen, unkritisch 
zu philosophischem Behufe verwandt wurde. Aber allmahlich 
beginnt auch der Kraftbegriff alle mythologischen Reste von 
sich abzustofien und damit auch den Kausalbegriff von solchen 
vollig frei zu machen. Und wo das noch nicht geschieht, da mag 
Aenesidems Ein wand zum Verlassen dieses verlorenen Postens den 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 


271 


letzten Stofi geben. Die wahrhaft problematische Seite am Kausal- 
prinzip aber, an deren Deutung die neueste Philosophie noch mit 
wechselnden Losungsversuchen arbeitet, bekam die antike Skepsis 
gar nicht zu Gesicht. Woriiber sie sich aufhielt, das ist fur Hume 
wie fur Kant im gleicben Sinne abgetan; und woriiber diese beiden 
Manner zu Antipoden wurden, davon ahnte Aenesidem noch nicbts. 
Kant und Hume sind in dem einig, was, zugespitzt aber kurz, so 
ausgedriickt werden kann: dafi bewirkt werden nicht aus andrem, 
sondern auf andres folgen bedeute; damit waren die Widerspriiche, 
die zwischen dem „ aus “ und dem „ andrem “ bestanden, ilberwunden. 
Das neue Problem, das diese Denker im entgegengesetzten Sinne 
Idsten, stellt die Frage nach der Erkennbarkeit und dem Grade 
von Notwendigkeit dieses zeitlichen Zusammenhangs. Erkenne ich 
ihn aus der Erfahrung, so ist die Synthese a posteriori, und kann 
den Wahrscheinlichkeitsgrad der bisher zwar vollstandigsten, aber 
nicht absolut vollstandigen Induktion logisch nie ilberschreiten. 
Kettet sich an die Vorstellung kausaler Zusammenhange dennoch 
ein unuberwindliches Gefiihl von absolut notwendiger Verkniipfung 
zwischen den Ereignissen, so ist das Gefilhl psychologisch, vielleicht 
aus assoziativem Gewohnheitszwang, in seinem Dasein zu erklaren, 
in seinen logischen Ansprilchen zuriickzuweisen (Humes empiristi- 
scher Standpunkt). Erkenne ich die kausale Gesetzmafiigkeit aber 
aus reiner Vemunft, so ist die Synthese a priori, und erreicht 
logisch den hochsten Grad von Gewifiheit. Das Gefilhl von der 
absolut notwendigen Verkniipfung zwischen den Ereignissen ist der 
psychologische Reflex aller logischen, unerschiltterlichen Wahrheiten 
(Kants rationalistischer Standpunkt). Fur Aenesidem fragt es sich: 
wie konnen zwei verschiedene Dinge notwendig verknilpft sein; 
fur die neuere Philosophie: wie konnen zwei Ereignisse als not- 
wendig verkniipft erkannt werden? — Weit mehr ist der zweite 
skeptische Einwand , dafi es unbegreiflich, ja eine Denkunmoglich- 
keit sei, dafi Korperliches auf Geistiges und Geistiges auf Korper- 
liches wirken konne, noch heute Gegenstand lebhafter wissenschaft- 
licher Kontroverse. Aber man begnilgt sich nicht mehr mit der 
Feststellung des blanken Widerspruchs, sondern sucht denselben 
entweder abzuleugnen oder zu umgehen. Seit dem Beginn der 
neueren Philosophie befinden sich diese Versuche im Flusse. Bereits 
bei Descartes, dessen System man an die Spitze der neueren 
Philosophie zu stellen pflegt, zeigen sich die beiden, noch heute 
miteinander kampfenden Richtungen, vorgebildet. Die Macht- 



Enter Abscbnitt. Die griechische Skepsis. 


spharen der korperlichen und der geistigen Substanz sind streng 
gegeneinander geschieden. Von der anorganischen Materie bis zu 
den hochstentwickelten Tieren hinauf greift niemals eine geistige 
Ursache in dieses Reich rein physischen Geschehens uber, dessen 
Glieder stets durch Korperliches bewirkt werden, stets Korperiiches 
bewirken. Von den rein geistigen Prozessen der menschlichen 
Psyche bis zur Gottheit hinauf greift niemals eine korperliche 
Ursache in dieses Reich rein psychischen Geschehens uber, dessen 
Glieder stets durch Geistiges bewirkt werden, stets Geisdges be- 
wirken. Aber dieses Umgehen des skeptischen Dilemmas ist auf 
einer kurzen Strecke der Wirldichkeit nicht durchzufuhren: die 
psychophysischen Prozesse im Menschen, das sinnliche Wahr- 
nehmen, die Affekte und die willkiirlichen Bewegungen zeigen 
fortwahrend und unmittelbar einen notwendigen Zusammenhang 
zwischen leiblichen und seelischen Vorgangen (zwischen den Licht- 
wellen und der Lichtempfindung, dem Schamgefuhl und dem Er- 
roten, dem Willensentschlufi und der Armbewegung), und zwingen 
dazu, als Ausnahme von der Regel hier eine psychophysische 
Wechselwirkung anzunehmen. Mit welch kunstlichen Hypothesen 
Descartes diese Schwierigkeit zu heben suchle, ist bekannt Und 
so haben seine Nachfolger bald im Sinne der „ Regel ”, bald im 
Sinne der „ Ausnahme “ die skeptischen Bedenken gelost. Die 
eine Seite leugnet, dafi es ein widerspruchvoller Gedanke sei, 
Vorstellungen, Gefuhle usw. als Wirkungen Oder als Ursachen 
materieller Vorgange zu fassen. Physisches und Psychiches seien 
gar nicht so heterogen, das eine starr und tot, das andre lebendig 
und luftig; sondem beides seien im Grunde Energieformen, und 
es sei durchaus denkbar, dafi physische Energie die Wirkung oder 
Ursache von psychischer Energie werden kdnne. Und je mehr die 
Verdinglichung von Ursache und Wirkung aufgegeben wird, je 
leichter wird diese Moglichkeit begriffen werden (Stumpf). Die 
andre Losung (wohl heute die wissenschaftlich verbreitetere) gibt 
den Skeptikem den Widerspruch im Begriff einer psychophysi- 
schen Wechselwirkung durchaus zu, l&fit aber diesen Begriff 
nicht als skeptisches Schaustuck stehen, sondem sucht ihn durch 
eine widerspruchlose Vorstellung zu ersetzen. Dabei kann die 
Unmoglichkeit psychophysischer Wechselwirkung aus einem Wider- 
spruch entweder gegen unsre Denkgesesetze oder gegen Erfahrungs- 
tatsachen erschlossen werden. Von denjenigen, denen dieser Be- 
griff als keine Denkunmoglichkeit erscheint, wird als sein grofiter 



Drittes Kapitel. Die Kritik der gtieduschen Skepsis. 


273 


Nachteil der Widerspruch gegen das erfahrungsmaflig am besten 
bestatigte Gesetz geltend gemacht, gegen die Erhaltung der physi- 
schen Energie. Wo n&mlich Geistiges Korperliches oder Korper- 
liches Geistiges bewirkt, mufite ein Zuwachs oder ein Verlust an 
physischer Energie angenommen werden. So ersetzte man aus 
diesen oder jenen Motiven die Vorstellung einer psychophysischen 
Wechselwirkung durch die eines psychophysischen Parallelis- 
mus. Korperliches wirkt immer nur auf Korperliches, Geistiges 
nur auf Geistiges, aber auf gewissen Strecken gehen kdrperliche 
Erscheinungen geistigen und vice versa parallel. Die Lichtempfin- 
dung ist nur das psychische Korrelat fur die durch das einfallende 
Licht auf rein korperlichem Wege bewirkte VerSLnderung im Gehirn, 
nicht die Wirkung dieser VerSnderung. Und die Armbewegung 
ist die Wirkung rein korperlicber Vorg&nge im Nervensystem, der 
physischen Parallelerscheinung zu dem geistigen Willensentschlufi. 
Der psychophysische Parallelismus erlaubt also, den gegebenen 
Erscheinungen gerecht zu werden, ohne sich in die von der Skepsis 
geltend gemachten Widerspruche zu verwickeln. Der Pfadfinder 
fur diesen Ausweg waren die Okkasionalisten, nach deren An- 
schauung Gott „bei Gelegenheit" eines materiellen Vorgangs den 
entsprechenden geistigen hervorrufen sollte; der erste aber, der, 
ohne theologische Hypothesen, ihn als wahrer Philosoph beschritt, 
war Spinoza. Seinen Nachfolgem blieb noch ubrig, die meta- 
physischen und empirischen Bestandteile aus der Verwirrung, in 
der sie sich bei diesem Denker befanden, zu Idsen und den Satz: 
„jedem geistigen Element entspricht ein korperliches Element u 
als metaphysisches Dogma abzugrenzen gegen die empirisch ge- 
wonnene Hypothese: gewissen kdrperlichen Vorgangen gehen see- 
lische, und alien seelischen gehen kfirperliche Vorgange zur Seite. 
— In den ubrigen Fragen, welche die Skepsis zum namlichen 
Problem noch aufwarf, ist im ganzen wohl eine einhelligere Be- 
antwortung erzielt worden. Die RStselhaftigkeit psychophysischer 
Beziehungen auch auf die Beziehungen zwischen Ruhendem und 
Bewegtem zu iibertragen, ist nicht mehr angangig, seitdem die 
HeterogenitSt dieser Begriffe immer mehr geschwunden ist, und 
Qberdies die Kausalitat in der physischen Welt, als Vorgang zwischen 
Ereignissen, stets nur Bewegungsbeziehungen zum Gegenstande 
hat, die psychische Kausalitat aber jenseits von Ruhe und Bewegung 
sich vollzieht — Das zeitliche Verhaltnis zwischen Ursache und 
Wirkung, dafi die Ursache vorangeht und die Wirkung folgt, wird 

Richter, Skeptisum. l8 


274 


Enter Abschnitt. Die griechische Skeptis. 


ebenfalls durch das skeptische Aper$u nicht erschuttert: Ursache 
und Wirkung bestunden nur durch einander, also nur mit einander. 
Die Richtigkeit auch dieser Behauptung steht und fallt mit der 
extrem - realistischen Kausalitatsauffassung. Die Beziehung, durch 
welche Ursache und Wirkung aneinander gebunden sind, ist aber 
keine dingliche, sondem gerade ihrem Wesen nach: die zeitliche 
Folge. Wo iibrigens Ursache und Wirkung zugleich dazusein 
scheinen, da handelt es sich, wie Kants dritte „ Analogic der Er- 
fahrung" wohl fur immer klar gemacht hat, um ein Verhaltnis der 
Wechselwirkung. — Der letzten Erwagung von einigem Werte 
endlich aus der skeptischen Kausalitatsanalyse: dafi niemals ein 
Objekt allein Ursache eines andern sei, sondem stets eine Mehr- 
zahl von Objekten, und dafi sich daher die eigentliche Ursache 
nicht ermitteln lasse, liegt eine richtige, aber imrichtig verwertete 
Einsicht zugrunde. In der Tat namlich ist eine Fulle von Be- 
dingungen zum Zustandekommen einer Wirkung erforderlich, die 
bei der Angabe der Ursache im stillen mitzudenken ist, unter 
deren Voraussetzung allein ein Ereignis zur Ursache werden kann. 
Das Reiben eines Ziindhdlzchens an der rauhen Flache der Schachtel 
wird nur zur Ursache von dem Brennen des entziindeten Holzchens, 
wenn die Phosphormasse nicht feucht, der umgebende Raum von 
bestimmten Gasen erfullt ist usw. Diese Fulle von Bedingungen 
(„den passiven Ursachen" der Skepsis) schafft aber nicht mehrere 
Ursachen zu einer Wirkung, sondem enthalt nur die naheren Be- 
stimmungen zu der einen Ursache oder zu der einen Wirkung. 
Mag die Aufnahme aller Bedingungen in die Beschreibung der 
Ursache technisch stets eine Unmdglichkeit bleiben, so kommt doch 
kein neues Wirklichkeitselement in der Form dieser Bedingungen 
zu der Ursache hinzu, sondem die wirkliche Ursache und die wirk- 
liche Wirkung umfassen auch die Totalitat all dieser Bedingungen 
in sich. 

Nach alledem mussen wir den griechischen Skeptikem in der 
Analyse des Kausalitatsprinzips das Verdienst lassen, hier zum 
erstenmal die Fragezeichen an die rechten Stellen gerfickt und 
damit der Zukunft erkenntnistheoredsche Aufgaben hinterlassen zu 
haben, die zwar nicht gmndsatzlich unlosbar und nur skeptisch 
abzulehnen, die aber doch so schwierig sind, dafi sie noch die 
heutige Wissenschaft in Atem halten. 



Drittea Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 2 75 

Von der skeptischen Kritik der Religionsphilosophie l&fit 
sich ahnliches behaupten. Gar nicht zu iiberschatzen ist zunachst 
das Verdienst dieser Manner, vor aller Religionsphilosophie eine 
allgemeine, vergleichende Religionsgeschichte und Religionspsycho- 
logie abzuhandeln; und wenn wir auch heute, dank der immer 
starkeren Durchleuchtung dieser dunklen Gebiete durch entsagungs- 
vollste Spezialforschung, uns hier durchaus nicht zu grundsatzlich 
skeptischen Losungen gedrangt fuhlen, so liegt doch der Entscheid 
auch nur der Hauptpunkte dieser jungen, eigentlich erst durch 
Hume geschafTenen Disziplinen in weiter Feme. Die Gottes- 
beweise aber, aus dem consensus gentium und der Zweckmafiig- 
keit der Natur, hat die Skepsis aus den gleichen Griinden f&r 
ungeniigend erklart, aus denen wir es auch heute noch tun mussen. 
Allgemeingultigkeit menschlicher Meinungen, selbst wenn sie vor- 
handen ware, kann fur deren Wahrheit nichts beweisen, wenn 
nicht noch die Notwendigkeit, d. h. das unausrottbare Evidenz- 
gefiihl zu dieser allgemeinen Anschauungsweise hinzutritt. Es ware 
nicht schwer, eine Flut allgemeinverbreiteter Irrtiimer oder min- 
destens in ihrer Wahrheit zweifelhafter Ansichten zum Belege 
heranzuziehen, etwa dafi die realen Dinge tonen und farbig sind, 
der menschliche Wille frei ist, usw. Weist man hier aber auf 
Ausnahmen von der Regel hin, indem man Philosophen und Ge- 
lehrte namhaft macht, die das Gegenteil behaupten, so ist die 
parallele Erscheinung fur den Gottesglauben unschwer zu erkennen 
und von der Skepsis selbst bereits herangezogen worden. Auch 
der physiko-theologische Beweis scheitert genau an den beiden 
Klippen, welche die Kameadische Kritik klar bezeichnet hatte. 
Von der Zersetzung des anthropomorphen Gottes be griffs endlich, 
der Aufdeckung der in ihm enthaltenen WidersprOcbe mit Logik 
und Tatsachen, vor allem von der geradezu genialen Durchleuch- 
tung des Dogmas einer gottlichen Vorsehung, wufite ich nichts 
hinwegzunehmen; wie noch anderthalb Jahrtausende spater David 
Hume diese Kleinode der wahrhaft philosophischen Partien im 
antiken Skeptizismus unverandert und nicht als die kleinsten Edel- 
steine dem Gewirke seiner eigenen Religionsphilosophie eingefugt 
hat Dagegen liegen drei religiose Grundanschauungen ganz 
aufierhalb des Gesichtsfelds dieser Zweifelschule und werden 
auch von deren Kritik nicht mitberiihrt i. Der Pantheismus, 
welcher Gott der Welt immanent sein lafit, ihm aber weder Wille, 
noch Verstand, noch Vorsehung, noch Tugenden zuspricht. Aller- 

x8* 


276 Enter Abadmitt Die griechische Skepsis. 

dings mufite diese Metaphysik so geformt werden, dafi auch die 
ihr gefahrlichsten Waffen, die skeptischen „Soriten M wirknngslos von 
ihr abprallen. Das geschieht, wenn entweder nur die Totalitat der 
Welt, aber nicht ihre Teile, als Gottheit gefafit werden (nav— Seos); 
oder wenn Gott die im Weltall gleichmifiig wirkende und in allem 
Einzelnen ungeteilt erscheinende Kraft bezeichnet = n dv). 

Im ersten Fall wurde nur ,,Zeus“, namlich die Welteinheit (als 
Weltgrund oder als Weltzweck oder als beides) ein Gott sein, und 
keine Kontinuitatsforderung, das logische Geheimnis der Soriten, 
auch die Gottlichkeit einzelner Weltteile durchzusetzen vermogen. 
Im zweiten Fall wurde der Kontinuitatsforderung nachzugeben sein; 
Sonne, Mond, Planeten, Wolken, Regen, Sturm, Nil und Nilquellen 
waren gleichermafien gottlich ; aber diese Gottlichkeit des Einzelnen 
ware kein Einwand mehr, vielmehr der adequate Ausdruck des 
vorausgesetzten Gottesbegriffs. 2. Der Offenbarungsglaube, 
nach dem das Qber die Gottheit Wissenswerte in geoffenbarten 
Urkunden niedergelegt sein soli. Hier richtet die Aufdeckung von 
Widerspruchen gegen Denkgesetze und bisherige Erfahrungen nichts 
aus. Denn die Tatsache der Offenbarung gilt selbst als eine neue 
aufiere Erfahrung, die entweder widerlegt oder als Wahrheit an- 
erkannt sein will. 3. Der Mystizismus, der auf rein gefuhls- 
mafiigem Wege der inneren Versenkung Gott, dessen Walten und 
Eigenschaften unmittelbar erfafit, und fur den logische Einwande 
ebenfalls keine Gegeninstanz bilden. Credo quia absurdum est 
Hier handelt es sich wiederum um angebliche innere „ Erfahrungen 1 *, 
die ihr Recht gegenuber Denkgesetzen und andera Erfahrungen 
geltend machen. Das sind roh sldzziert und roh begrundet die 
Auswege, die sich aus der religidsen Skepsis der Antike finden 
lassen. Ob diese Auswege gleichfalls Sackgassen oder welche von 
ihnen es nicht sind, bleibt spSterer Untersuchung vorbehalten. 
Aber jedenfalls entgehen sie alle, sowohl in ihrer Begrhndung wie 
in ihrer Ausgestaltung, den Netzen, deren Gewebe in den dar- 
stellenden Teilen beschrieben wurde. 


Gegen die Moralphilosophie hatte die Skepsis auf dop- 
peltem Wege die Unerkennbarkeit der sittlichen Werte gel- 
tend gemacht Einmal direkt, durch die Analyse der Vorginge 
bei der Werterkenntnis; dann indirekt, durch die Kritik der bisher 
mit dogmatischen Anspruchen aufgetretenen moralpbilosophischen 
Grundanschauungen. 



Drittes KapiteL Die Kritik der griechischen Skepris. 


277 


i. Ihr systematischer Beweis vermag heute auf die Ge- 
schichte einer zweitausendjahrigen Verfuhrungsmacht, der grofie 
wie kleine Geister erlagen, zuruckzublicken. Von den Denkem 
haben sich unter andem Montaigne, Pascal, Nietzsche in seiner 
zweiten Periode, von den philosophierenden Laien ungezahlte zu 
der Ansicht bekannt: die sittlichen Werte sind unerkennbar, denn 
die moralischen Anschauungen der einzelnen Individuen, Volker, 
Lander usw. sind ganz verschiedene. Und doch sind aus richtigen 
Tatsachen hier wieder voreilige Konsequenzen gezogen, die noch 
dazu auf dem Boden wiUkiirlicher, irriger und eigentlich iiber- 
wundener Annahmen gewachsen sind. Wiederum sind es die 
extrem-realistischen Voraussetzungen 59 ), unter denen der skep- 
tische Beweis allein schlussig ist. Jener robuste erkenntnistheo- 
retische Realismus des Altertums (und des Durchschnittsmenschen), 
als eine naiv gehegte, im Hintergrund des philosophischen Bewuflt- 
seins hausende Anschauungsweise, sieht auch die sittlichen Werte 
als starre, feste Objekte an, deren passive Spiegelbilder die Wert- 
vorstellungen seien. Ja, soweit treibt er gelegentlich die Verding- 
lichung und Materialisierung der Werte, dafi diese im 10 . Tropus 
Aenesidems als r&umliches Substrat, als into* vitoxeijieva an- 
gefuhrt werden, deren Beschaffenheiten in den Sitten und Fuh- 
rungsweisen der einzelnen Subjekte „erscheinen“ 60 ). Das Verhaltnis 
von Wertgegenstand und Werterkenntnis wird vollstandig unter 
der Optik des BegrifTsgegensatzes: Ding an sich — Erscheinung ge- 
sehen; und noch dazu in der Form, wie die skeptische Wahr- 
nehmungstheorie diesen Gegensatz entwickelt hatte. Wenn es 
sittliche Werte gibt, so sind dieselben zu denken nach Art von 
realen Objekten, die mit bestimmten Eigenschaften begabt, dem 
menschlichen Subjekt gegenuberstehen und ihre Eigenschaften dem 
subjektiven Bewufltsein gewissermafien aufpragen. Das sittliche 
Ding und das sinnliche Ding werden in dieser Beziehung vollig 
gleichwertig behandelt. Das <pv6ei aya$6v und xaxov wird als ein 
dingliches Reale uns gegeniiberstehend gedacht, als etwas von uns 
Abgesondertes ( xax&pttifilvov ), von dem wir so oder so „bewegt“ 61 ) 
werden, und von dem wir nur durch ein rezeptives Affiziertwerden 
(xaxovtiSai) Kenntnis erhalten. Die daraus sich ergebende „Wert- 
erscheinung“ ist ein (paivo/tevov , und, wie eine jede Erscheinung, 
durch ein willenloses Obersichergehenlassenmussen charakterisiert 6 *) 
Unter solchen Voraussetzungen wird den einzelnen Wertvorstellungen 
die Aufgabe zuteil, die einzelnen realen Werte wiederzugeben, 



278 


Enter Abachnitt Die griechiscbe Skepsis. 


wie es Aufgabe der einzelnen Sinneswahrnehmungen gewesen war, 
die einzelnen realen Dinge wiederzugeben. Da aber nun zwiscben 
den Wertvorstellungen verschiedener Subjekte uber den gleichen 
realen Wert die starksten Widerspruche obwalten, genau wie zwischen 
den einzelnen Sinneswahrnehmungen uber das gleiche reale Ding, 
und die n&mliche Relativitat und Variability herrscht, hier wie 
dort, so ist es genau so unentscheidbar, wessen Wertvorstellung 
den „Vorzug verdient", wie es unentscheidbar gewesen war, wessen 
Dingvorstellung den Vorzug verdiente. Ob Ohrringe tragen, sich 
zu tatowieren, dem Serapis ein Ferkel zu opfem an sich sittiich, 
gestattet, heilig ist 68 ), das l£fit sich, bei einer Divergenz derWert- 
erscheinungen davon, ebensowenig ausmachen, wie ob der Honig 
an sich siifl oder bitter ist. 

Es bedarf kaum der Erwahnung, dafi diese extremrealisdschen 
Voraussetzungen aus der modemen Ethik wohl ebenso einmutig 
ausgeschieden sind, wie aus der Erkenntnistheorie. Dann aber 
schwinden mit einem Schlag alle skeptischen Bedenken dahin. 

Man halte zunachst mit der Skepsis an der Existenz 64 ) selb- 
st&ndiger Werte von uberindividueller Geltung fest (was 
man aber nicht in Form einer unbewufiten Annahme, sondem 
einer wohlbegriindeten These zu tun hatte). Dann sind diese sitt- 
lichen Werte jedenfalls nicht an aufieren Handlungsweisen starr 
klebende Eigenschaften, sondem geistige Potenzen, Krafte, Normen, 
denen ein einzelnes Verhalten konform ist oder nicht Mag man 
nun diese Normen in Befehlen Gottes, oder in der Forderung des 
Weltzwecks, dem Nutzen der Gesellschaft, in einem in uns lagem- 
den formalen Sittengesetz, in allgemein menschlichen Willenszielen 
oder sonst worin erblicken, das bleibt fiir den Entscheid der 
skeptischen Prinzipienfrage relativ gleichgfiltig. Die einzelnen Wert- 
urteile sind nicht passive „Werterscheinungen“ , sondem Ansichten 
der Menschen uber Art und Beschaffenheit dieser moralischen Werte, 
nicht subjektive Abbilder objektiver Urbilder. Selbst wenn man 
den latenten Voraussetzungen der Skepsis soweit als moglich ent- 
gegenkommen und die Existenz eines besonderen , ursprunglichen 
und in alien Menschen vorhandenen moral sense annehmen wollte, 
so wQrde doch wohl niemand mehr der abenteuerlichen Vorstellung 
huldigen: dieser „Sinn (( reagiere auf alle beliebigen Inhalte sofort 
und eindeutig mit einer bestimmten Wertfarbe. Vielmehr wurde er 
allein eine bestimmte Eigenschaft an alien Inhalten (Handlungen, 
Personlichkeiten, Gesinnungen usw.) bewerten, etwa die Uneigen- 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsb. 279 

nutzigkeit (Hutcheson) oder die Harmonie der Triebe (Shaftesbury), 
oder die Form der Gesetzlichkeit (Kant). Die ausgebildeten sitt- 
lichen Anschauungen aber, die einzelnen Sitten und „Fuhrungs-' 
weisen", soweit diesen iiberhaupt sittliche Wertungen zugrunde 
liegen (ob Rache, Keuschheit usw. gut oder schlecht ist), sie sind 
jedenfalls keine ursprunglichen Reaktionen dieses moral sense mehr; 
sondern bereits ein Gemenge, in das die Bewertung aus logischen 
Motiven, durch die man die Gemafiheit der einzelnen Verhaltnisse 
zu den ursprunglichen sittlichen Forderungen priifte; in das reli- 
giose und mythologische, in das noch eine Fiille andrer Gesichts- 
punkte eingegangen sind. Dieser so entstandene und sich immer 
mehr befestigende Sitten- und Sittlichkeitskodex wirkt aber auf 
das ursprungliche, moralische (von uns augenblicklich postulierte) 
Fuhlen oder Wollen modifizierend zurQck , vermag es abzuwandeln, 
zu vertiefen, zu verkehren. Denn es handelt sich bei diesem Ge- 
bilde ja um keinen toten, materiellen Wertspiegel, sondern um 
ein lebendiges, geistiges Prinzip im emotionalen Bewufitsein. So 
haben wir in den entwickelten sittlichen Anschauungen, mdgen 
sie nun in Sitten, Gesetzen oder in Gewissensaussagen ihren 
Niederschlag finden, ein kompliziertes Spatprodukt, und jedenfalls 
kein letztes Element des moralisch wertenden Bewufitseins zu sehen. 
Sollte es ein solches uberhaupt geben, so wird es auf den niederen 
Stufen der Entwicklung wegen des Mangels philosophischer Re- 
flexion noch nicht in abstrakte Formulierung gebracht; und sp&ter, 
wenn die Reife der Reflexion erzielt ist, bedarf es tiefster Selbst- 
besinnung und der scharfsten psychologischen, soziologischen, ja 
metaphysischen Analysen, um aus alien konkreten Wertauflerungen 
die zugrunde liegenden Werte selbst zu bestimmen. Das wirklich 
Wertvolle zu erkennen ist also auch hier die Aufgabe der Ver- 
nunft; nicht etwa des Gewissens, als einer „Empfanglichkeit des 
Gemutes fur sittliche Pflichten" (Kant); sogut wie es Aufgabe der 
Vernunft war, die wirklichen Dinge zu erkennen, und nicht der 
Sinnlichkeit, als einer „Empfanglichkeit des Gemuts fur Sinnesein- 
drucke M . Waren allerdings isolierte sittliche „Organe“ die einzige 
Quelle, aus der Aussagen iiber die Werte abflossen, so ware in- 
folge der nicht abzuleugnenden Variability dieser Aussagen die 
Bestimmung allgemeingflltiger, moralischer Werte eine Unmoglich- 
keit Da aber die in alien Menschen gleiche Vernunft auf Grund 
zahlreicher, unmittelbar gegebener Erfahrungstatsachen, unter denen 
auch die Gewissensreaktionen einige sind, die Richtigkeit oder Irr- 



28 o 


Enter AbsdwitL Die griechiache Skepeis. 


tumlichkeit von Wertaussagen zu prfifen hat, so kann auch die 
bunteste Mannigfaltigkeit in den sittlichen Anschauungen keine 
grundsatzliche Gegeninstanz gegen die Erkennbarkeit der Werte 
mehr abgeben. Denn nun stehen sich nicht mehr widerstreitende 
Werturteile fiber das nimliche Verhalten gleichberechtigt gegenuber, 
sondem die Vemunft entscheidet, je nach dem Verhaltnis zu den 
von ihr ermittelten allgemeingfiltigen Werten, welches als das 
wahre Werturteil zu gelten hat Dafi diese Entscheidung im all- 
gemeinen wie im besonderen eine sehr schwierige ist; dafi die 
Meinungsverschiedenheiten der Zeiten, Linder, Nationen, Denker, 
Gelehrten, Kfinstler die unendliche Kompliziertheit der Probleme, 
vielleicht auch die vorlaufige Unmdglichkeit einer vdllig befrie- 
digenden Losung durch den einzelnen in beredter Sprache ent- 
hullen — wer wollte das in Abrede stellen? Die Welt der Werte 
ist nicht minder tiefgrfindig als die Welt der Wirklichkeiten. Aber 
sowenig die Moglichkeit, das Wirkliche zu erkennen, philoso- 
phisch, d. h. prinzipiell bezweifelt werden durfte, wegen der 
6ia<pcovia rtapa na6iv avSpdnotz fiber die Beschaffenheit dieser 
Wirklichkeit; auch dann nicht, wenn aus sachlichen Grfinden sich 
die Ursache dieses Widerspruches herausstellen sollte als unge- 
heure Verwicklung der Verhaltnisse; auch dann nicht, wenn die 
Aussichtslosigkeit ffir den einzelnen daraus folgen sollte, das 
Wirklichkeitsr&tsel zu ldsen — sowenig darf die philosophische 
Skepsis dem Wertratsel gegenuber Platz greifen, wenn einmal erst 
der Widerstreit der Wertvorstellungen von der falschlichen Aus- 
deutung heterogener Wertspiegelungen gleicher realer Werte auf 
einen Widerstreit blofier Meinungen, oder auch komplizierter, an 
Urteilen haftender und daher mit diesen Urteilen veranderlicher 
Gefuhle fiber diese Werte zurfickgefuhrt ist Die vemfinftige Deu- 
tung vermag vielleicht gerade an der unfibersehbaren Ffille solcher 
Urteile und Gefuhle die gemeinsame, ihnen alien zugrunde liegende 
Wurzel aufzudecken, und das durch diese bewertete X als den ab- 
soluten Wert zu erkennen. Cberdies konnte sie sogar imstande 
sein, die verschiedenen Aufierungsformen des einen, ihnen alien 
zugrunde liegenden wahren Werturteils als bedingt nachzuweisen: 
durch Ort, Zeit und UmstSLnde (ist z. B. der Nutzen der Gesell- 
schaft als absoluter Wert erkannt, so kann im einzelnen Rache, 
Luge, Kinderaussetzung usw. je nachdem ganz folgerichtig bald 
als gut bald als fibel bewertet werden); durch Einfliefien von Irr- 
tumsquellen (der Oberwert des Nutzens wird vergessen und ge- 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skeptis. 


281 


wisse Handlungen auch dann noch als gut bewertet, wenn der 
wahre Wertungsgrund verschwunden ist) usw. Jedenfalls ist nun 
dem Moralphilosophen, zu welchen Ergebnissen er im einzelnen 
auch gelangen mag, durch den Erkenntnistheoretiker keine Barriere 
mehr gezogen, die ihm den Eintritt in dieses Forschungsgebiet 
a limine unmdglich machte. Der Eingang ist hier im Grunde der 
gleiche, den sich der gemafiigte Realist im Kampfe mit den 
skeptischen Folgerungen der extrem-realistischen Wahmehmungs- 
theorie erzwungen hatte. Wie er dort vor allem der unberech- 
tigten Verdinglichung und der passiven Erkenntnisart entgegen- 
getreten war, so auch hier; und wie er gewisse Bestandteile der 
sinnlichen Wahmehmung aus akdven Vemunfterwagungen den 
Dingen zusprach, andre nicht, so lafit er auch bei den Wert- 
urteilen gewisse Bestandteile die Natur der absoluten Werte exakt 
wiedergeben, wahrend andre Elemente nur als Kennzeichen rela- 
tiver Werte oder gar als ganzlich irrtumliche Meinungen iiber die 
Werte bestimmt werden. 

Wie das Eis unter den Strahlen der Sonne dahinschmilzt, 
so vergeht aber nun alle moralphilosophische Skepsis in nichts, 
wenn man die erste Voraussetzung der Pyrrhoniker, das Dasein 
selbstandiger Werte von uberindividueller Geltung, nicht zu teilen 
entschlossen ist (wofur wiederum die Belege beizubringen waren). 
Halt man auch die sittlichen Werte fur nichts anderes als fur 
willkurliche Wertsetzungen des subjektiven, individuellen Beliebens, 
die sich gelegentlich bei einer Gemeinschaft von Subjekten auf 
das gleiche Objekt richten konnen, so wird zwar das Wesen der 
Sittlichkeit als etwas Eigenartiges, Selbstandiges aufgegeben, aber 
die Erkennbarkeit dieser Werte nicht im geringsten in Frage ge- 
stellt. Da alles, was ich fur wertvoll halte, nach dieser Anschauung 
auch wertvoll ist, namlich fur mich; und da es einen andem Wert 
als das individuelle Willensziel nicht gibt, so kann auch die Ver- 
schiedenheit in den Werturteilen der Volker, Lander und Zeiten 
niemals die Wahrheit auch nur eines einzigen derselben verdachtig 
machen. Vielmehr sind sie alle, wenn sie die eigene Wertempfin- 
dung des Urteilenden zum Ausdruck bringen, gleich wahr; und 
wenn sie das nicht tun, gleich falsch. Die Verwandtschaft mit dem 
extremen Phanomenalisten erhellt von selbst. Wie dieser in der 
Beurteilung der realen Dinge negativer Dogmatiker, aber nicht 
Skeptiker gewesen war, so ist auch der individuell - voluntaristische 
Ethiker, weil er die Existenz an sich bestehender Werte leugnet, 



282 


Erster Abschnitt. Die griechische Skepsis. 


negativer Dogmatiker, aber nicht Skeptiker. Und wie fur den 
Berkeleyaner die Gleichung: Wahmehmungswechsel =* Dingwechsel 
der Zauberstab gewesen war, vor dem jeder Skeptizismus, der sich 
auf die Variabilitat der Wahrnehmungen uber das gleiche Objekt 
griindete, in nichts versank; so gilt das namliche fur die Gleichung: 
Willenswechsel = Wertwechsel, die jeden ethischen Skepti- 
zismus, der sich auf die Divergenz der Werturteile (als Ausdruck 
der erstrebten Ziele) uber den gleichen Wert beruft, im Keime 
erstickt. Auch Moralphilosophie auf dieser Basis zu treiben ist 
nicht nur Moglichkeit, sondem Wirklichkeit. (Entsprechend der 
Moglichkeit und Wirklichkeit einer phanomenalistischen Natur- 
wissenschaft) Denn in dem Bereich der individuellen Werte hebt 
sich als ein ziemlich fester Bezirk der Kreis der sittlichen Wert- 
urteile ab. Sein Inhalt wandelt sich mit dem Willen der Wertenden. 
Aber seine Form bleibt die gleiche: die Bestimmung der Werte 
in bezug auf das letzte, oberste Willensziel. Da dieses 
oberste Willensziel (Oberwert) und die zu ihm fuhrenden Mittel 

i 

(Unterwerte) innerhalb der einzelnen Lander, Volker, Zeiten eine 
gewisse Konstanz zeigen (wodurch ihnen an selbstandigem Wert- 
gehalt ubrigens nicht das geringste zuwachst), so ist es schon der 
Muhe wert, den hier waltenden Gesetzen nachzuspiiren, und das 
Kapitel von der individuellen und sozialen Willenspsychologie unter 
diesem Gesichtspunkt als eine besondere Disziplin zu betreiben. 
Moglich, dafi, wie an den sinnlichen Wahrnehmungen, so auch an 
den Willenszielen sich gattungsmafiige Bestandteile auffinden 
lassen (entsprechend den „absoluten“ Werten des Wertrealisten); 
moglich, dafi die Gesetzmafiigkeit des wertenden Bewufit- 
seins: unter gleichen Umstanden gleiche Wertungen, eine indivi- 
duell und generell vollstandige ist , und damit der Ethik interessante 
Aufgaben erwachsen. Aber sowenig die Gattungsbestandteile an 
den Wahrnehmungen (Raum und Zeit), sowenig die gattungs- 
mafiige Gesetzlichkeit im wahrnehmenden Bewufitsein, sowenig die 
durch beides bedingten ahnlichen Wahrnehmungen (in den glei- 
chen oder in verschiedenen Subjekten) dadurch zu selbstandigen, 
vom erkennenden Bewufitsein unabhangigen Realitlten wurden; so 
vollkommen andrerseits jede Wahmehmung in ihrer konkreten 
Bestimmtheit ein wirkliches Ding zu nennen war, ohne Rucksicht 
auf ihr Verhaltnis zu andern Wahrnehmungen (desselben Subjekts 
zu verschiedenen Zeiten oder andrer Subjekte) — sowenig wurden 
die Gattungsbestandteile an den Willenszielen, sowenig wiirde die 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 


283 


gattungsmassige Gesetzlichkeit im wollenden Bewufitsein , sowenig 
die durch beide bedingte Ahnlichkeit der Willensziele (in den 
gleichen oder verschiedenen Subjekten) dadurch zu selbstandigen, 
vom wertenden Bewufitsein unabhangigen Realitaten werden; so 
vollkommen wiirde andrerseits jedes Willensziel in seiner konkreten 
Bestimmtheit ein wirklicher Wert zu nennen sein, ohne Rucksicht 
auf sein Verhaltnis zu andem Willenszielen (desselben Subjekts zu 
verschiedenen Zeiten oder andrer Subjekte). 

Es ist gewifi, dafi die Skepsis mit ihrem Hauptargument 
„Relativitat und Variabilitat der Werturteile beweist die vorlaufige 
Unmoglichkeit der Werterkenntnis 11 auf dem extrem-realistischen 
Boden steht: die einzelnen Wertaussagen in alien ihren Bestand- 
teilen — durch die TjSrixa, aycayal, l$rj 9 vojxoi reprasentiert — 
seien Abdrucke realer Werte (etwa die Sitte oder Unsitte der 
Knabenliebe ein Abdruck des realenWertes oder Unwertes dieser 
Handlungsweise); es ist gewifi, dafi diese Voraussetzung eine will- 
kurliche, noch dazu unbewufite , weder durch empirische noch 
logische Motive zu rechtfertigende, daher auch von der modernen 
Ethik wohl durch weg verlassene ist; dafi die Relativitat und 
Variabilitat der Werturteile, der modernen Anschauung von der 
aktuell - geistigen Natur und der mangelnden Substantiality der 
Werte gemafi, grundsatzliche Zweifel gegen die Erkennbarkeit der 
Werte nicht mehr abzuwerfen vermag. Aber es ist nicht minder 
gewifi, dafi diese Art ethischer Skepsis eben auch die uber- 
zeugendste Selbstaufhebung der gehegten Voraussetzungen be- 
deutet und damit ein holies moralphilosophisches Verdienst sich 
erwirbt. Dadurch, dafi man mit rucksichtsloser Konsequenz die 
Folgerungcn eines Standpunkts zieht, riickt man diesen selbst in 
hellere Beleuchtung und zwingt, iiber seine Berechtigung nachzu- 
denken. Im Verlauf dieses Nach weises, dafi der extreme Wert- 
realismus in positiver Form unhaltbar sei, hat die an tike Skepsis 
femer fur immer gezeigt: dafi der Mensch kein einziges, inhaltlich 
bestimmtes Moralaxiom von allgemeiner Geltung mit auf die Welt 
bringt; noch dafi er ein solches aus Sitte, Gesetz, oder aus den 
Sittlichkeitsbegriffen seines Volkes abzulesen vermoge, auf das 
er sich dann nur zu besinnen habe, um zu wissen, was gut und 
was bose ist; dafi vielmehr diese Werte nicht „ selbst verstandlich" 
so oder so beschaffen sind, sondem sie zu erkennen, eine unend- 
liche Aufgabe bedeutet. Sei es nun, dafi man diese Aufgabe 
darein setzt (mit dem gemafiigten Wertrealisten), aus den subjek- 



284 


Enter Abachnitt Die griechische Skepm. 


tiven Wertaufierungen die realen Werte herauszudeuten , oder (mit 
dem extremen Wertidealisten) sich uber sein eigenes, aber hochstes 
Willensziel klar zu werden und die einzelnen Unterwerte nach 
diesem Oberwert logisch zu besdmmen. Zu beiden Zwecken aber 
bedarf es des eingehenden Studiums der Wertaufierungen des 
gesamten menschlichen Bewufitseins, soweit solche Aufierangen 
der Erforscbung zuganglich slnd. Schon um den grundsatzlichen 
Standpunkt uber das Wesen der Werte zu finden, geschweige 
denn um ihn im einzelnen zu begrunden und auszubauen, genugt 
nicht die inspectio sui, die einfache Selbstbeobachtung. Vielmehr 
ist es ein immer deutlicher werdendes Erfordernis, zu diesem 
Zwecke eine vergleichende Moralphilosophie im weitesten 
Sinne zu betreiben, unter Berucksichtigung reichlichen ethno- 
logischen Materials. Die Antike, wie sie ilberall das Prinzipielle 
weitschauenden Blickes vorausgesehen, hat auch hier ihres Amtes 
gewaltet Denn der Betrieb einer vergleichenden Moralphilosophie 
auf ethnologischer Grundlage, durch Lockes Bestreitung ange- 
borener moralischer Grundsatze angeregt, von Nietzsche wieder 
neuerdings mit eindringlichen Worten als ein noch immer uner- 
fulltes Desiderat gefordert, sie ist von den zersetzenden Unter- 
suchungen der Skepsis nahegelegt, ja soweit das von diesem Schul- 
programm aus erlaubt war, geradezu empfohlen worden. 65 ) 

2. Wurde somit die antike Skepsis auch hier zu der grofien 
Fragestellerin, indem sie das Problem, welcher Art und welchen 
Grades die Realit&t sittlicher Werte sei, seit der Sophisten Zeiten 
zum erstenmal wieder anschnitt; stellte sie den Widerspnich 
zwischen den einzelnen Moralanschauungen bei den verschiedenen 
Vdlkem in seiner ganzen Nacktheit ohne Verschleierung fest, und 
zerstreute sie damit fur alle Zeiten den Wahn, als ob es einzelne, 
der allgemein menschlichen Natur angeborene sittliche Inhalte gabe; 
fuhrte sie die Ethnologie geradezu als Hilfsdisziplin ein und legte 
damit den Grand zu einer vergleichenden Moralwissenschaft — so 
vollstreckte sie andrerseits in ihrer Kritik der bedeutendsten 
moralphilosophischen Systeme das Todesurteil an der antiken 
Ethik. Sie zog mit erstaunlichem Scharfsinn das Fadt dieser 
ganzen Wissenschaft und wies es als ein grundliches Defidt nach. 
Indem sie sich nicht damit begnugte, die Divergenzen zwischen 
den zahllosen ethischen Philosophemen in behaglicher Breite auf- 
zudecken, vielmehr diese Divergenzen aus ihren Ursachen verstehen 
lehrte, drang sie in der Tat bis zu der tiefsten Wurzel vor, an 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 


285 


deren Beschaffenheit der ganze Baum der antiken Moralphilosophie 
zugrunde gegangen war. Denn es ist wohl nicht zu viel behauptet, 
dafi die Skepsis hier, in ihrer Sprache und noch befangen in der 
Begriffsphare ihrer Zeit, aber doch unverkennbar zwei Einsichten 
von weittragender Bedeutung zum Ausdruck gebracht hat Einmal, 
dafi Eudaimonismus , Utilitarismus und Naturalismus, die ethischen 
Grundrichtungen der alten Welt, samtlich rein abstrakte Prinzipien 
sind, die jeden beliebigen Inhalt als sittlichen in sich aufzunehmen 
vermogen, aus denen als solchen auf logischem Wege auch kein 
einziger bestimmter Inhalt zu gewinnen ist. Nun hatten sich aber 
die griechischen Moralphilosophen alle bemuht, aus den Zielen der 
Gluckseligkeit, des Nutzens oder der Naturlichkeit analytisch ein 
bestimmtes Verhalten als Mittel zu diesen Zwecken abzuleiten und 
sie hatten die entgegengesetzten Mittel zu den angeblich gleichen 
Zwecken hier angegeben. In Wahrbeit blieb aber nur das Wort 
fur den obersten Wert das gleiche, wahrend der abstrakte Begriff 
dieses Werts von verschiedenen Seiten mit verschiedenem Inhalte 
erfiillt wurde und von ganz anders wo „ihnen vorher die Natur 
desGuten bekannt war“ 66 ). Wenn etwa dieStoiker aus ihrer Meta- 
physik heraus unter dem Natiirlichen das Vemunftige verstanden, 
die Epikur§er das Luststreben, so wundern wir uns nicht, dafi in 
der Gleichung: Sittlichkeit = Naturgemafiheit in die eine Seite, 
den Begriff der Natur, durch den von sich aus nicht das mindeste 
uber die Sittlichkeit ausgemacht ware — durch den vielmehr nur 
als durch eine Unbekannte eine andre Unbekannte bestimmt werden 
sollte — , dafi in diesen Begriff beidemal ganz andre Eigenschaften 
hineingepackt, also auch fur die Sittlichkeit ganz andre Eigen- 
schaften gefolgert wurden. Das zweite von der Skepsis entdeckte 
oder doch wenigstens wie durch Nebel erblickte Motiv fur das 
Scheitem aller bislang aufgetretenen Moraltheorien ist dieses: Be- 
stimmt man die obersten Werte des individuellen Glucks oder 
Nutzens inhaltlich, so kann, da der analytische Weg der Be- 
griffszergliederung nicht zum Ziele fuhrt, diese Absicht nur durch 
psychologische Beobachtung erreicht werden. Nun lehrt uns 
aber die Psychologie und zwar in weitestem Mafie, dafi, was dem 
einen niitzt, dem andem schadet, was den einen begluckt, den 
andem schmerzt usw. Kurz, es schiebt sich in jede Glucks- und 
Nutzlichkeitsberechnung als variabler psychologischer Faktor das 
Temperament des einzelnen ein. Der Temperamente aber gibt es 
nicht nur vier (das ist nur eine Abstraktion ihrer hauptsachlichen 


286 


Enter Abichnitt. Die griechische Skeptis. 


Grundformen) , sondem ungezahlte, genau soviet, als es Menschen 
gibt Wir konnen also allenfalls sagen, dafi jeder Mensch sein 
Gluck suche, allenfalls sogar, dafi er es suchen musse, aber wir 
kdnnen dem Menschen als Gattung nicht vorschreiben, worm er 
es zu finden habe. Daraus erhellt, dafi sich vom individuell- 
eudaimonistischen Standpunkt schlechterdings keine allgemeingul- 
tigen Verhaltungsweisen ableiten lassen. Cynismus wie Hedonis- 
mus sind eben deshalb fur den Moralphilosophen so lehrreich, weil 
ihm hier die entgegengesetzten sittlichen Inhalte in klassischer 
Nacktheit mit dem Anspruch entgegentreten , das formate Gefafi 
der Gluckseligkeit zu erfullen. Recht haben aber weder der eine 
noch der andre, oder — beide. Ein Charakter wie Aristipp, 
Alkibiades oder Don Juan widerlegt das Cynikerdogma, dafi nur 
Enthaltsamkeit zum Glficke fiihre; und ein Charakter wie Anti- 
sthenes, Cato oder der heilige Franz leistet das gleiche dem 
Hedonismus gegenuber. So haben die antiken Moralprinzipien die 
vollige Relativitat fur die Materie des sittlichen Handelns zur 
Folge, und Sinnengenufi wie Askese, Tapferkeit und Feigheit, 
Treue und Verrat kdnnen, je nach den Glucksresonatoren der ver- 
schiedenen Personlichkeiten, gut oder schlecht sein. Dieser Ein- 
sicht aber hatten sich alle griechischen und rdmischen Philosophen 
verschlossen, mit der einzigen Ausnahme des Sokrates, der unter 
Beibehaltung des allgemeinen Prinzips der individuellen Eudaimonie 
ausdriicklich die Relativitat der sittlichen Werte im einzelnen ver- 
kundet hatte. Sie alle versuchten bestimmte Handlungsweisen 
aus diesem Prinzip herauszuquetschen, die fur alle Menschen die 
gleichen und daher als Unterwerte zur Erreichung des Oberwerts 
verbindlich sein sollten. Erst die Skepsis offenbarte die vollige 
Unhaltbarkeit dieses Standpunkts und nahm damit in unbeholfener 
Weise vorweg, was Kant spater sonnenhell erleuchtete. Sie deckte 
die notwendige Relativitat der Unterwerte in jedem System des 
individuellen Eudaimonismus und Utilitarismus auf. Hierin und in 
dem Nachweis des reinen Formalismus dieser Prinzipien liegt die 
kritische Glanzleistung dieser Manner auf dem Gebiet der Ethik. 
Nur darin irren sie, dafi sie die Bedeutung eines formalen Ober- 
werts in ihrer Tragweite nicht anerkannten, und mit der Relativist 
der Unterwerte jede Moralphilosophie fur erschiittert hielten; und 
ferner darin, dafi sie die individuell-eudaimonistische Ethik mit 
ihren relativen Unterwerten fur die einzig mogliche Form fiberhaupt 
hielten, wShrend sie nur die im Altertum ubliche Form gewesen war. 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griecbischen Skepsis. 


287 


T. Negative and positive Nonseqaenzen dee Skeptizumuz. 

Die skeptische Antwort auf die beiden letzten Timonischen 
Grundfragen: wie haben wir uns zu den Dingen zu stellen? und 
was erwachst uns aus dieser Stellungnahme? zieht nur die Fol- 
gerungen aus dem Entscheid des ersten und wichtigsten Problems 
von der BeschafTenheit der Dinge. Die Kritik, nachdem sie diesen 
Entscheid „die Dinge sind unerkennbar" der Priifung unterzogen 
und als unberechtigt zuriickgewiesen, hat nicht mehr die negativen 
und positiven Konsequenzen des skeptischen Grundstandpunkts, 
die nur unter dessen Voraussetzung gelten wollen, in ihrer Iso- 
lation zu untersuchen. Sie hat nur zu fragen: sind diese Fol- 
gerungen derSkeptikerwirklich mitihren Voraussetzungen 
gegeben, sind sie schlussig oder nicht? 

Den negierendenPartien in unserm Verhalten denDingen 
gegeniiber wird wohl niemand Folgerichtigkeit absprechen konnen. 
Dafi man dieses Verhalten durch die Beiworte ephektisch, zetetisch, 
aporetisch, skeptisch charakterisierte, sich als keine Schule sondem 
nur als Richtung bezeichnete, uber das Ansich der Dinge sich des 
Urteils enthielt, auch im antiken Sinne keine Wissenschaft trieb, 
dafi man Redensarten wie navta aopitita pragte und mit vor- 
sichtiger Kommentienmg und Begrenzung der darin enthaltenen 
Begriffe versah, dafi man das Generalprinzip der Isosthenie durch 
die sensuale wie rationale Skepsis fur geniigend gestiitzt hielt, um 
es bei der Zerstorung der Einzeldisziplinen anzuwenden, ohne in 
den Verdacht sophistisch-dialektischer Spielerei zu geraten — all 
das geschieht in strenger Konsequenz der Auffassung vom Wesen 
der sinnlichen und vemunftigen Erkenntnis und schliefilich von 
Wahrheit, Erkenntnis und Wissenschaft uberhaupt. Nicht minder 
gliickte die Abwehr des billigen, aber stets verbluffenden Einwands 
von der Selbstaufhebung des skeptischen Standpunkts. Der 
Gegner wurde hier gebeten, gefalligst die einschrankenden Be- 
stimmungen, unter denen die Formeln der Skepsis allein Geltung 
beanspruchten, d. h. die kritischen Berichtigungen der in ihnen ver- 
wandten Begriffe nicht zu ubersehen und nicht offene Tiiren ein- 
zurennen. Die Pyrrhoniker nahmen sogar die von ihnen nicht 
geteilte Ansicht einiger Akademiker, namlich die dogmatisch- 
negativistische allgemeine These hier mit ins Schlepptau, 
und verteidigten sie geschickt gegen die feindlichen Geschosse. 
Zieht man die Summe in der dogmatisch-negativistischen und All- 
gemeingultigkeit beanspruchenden Form „alles ist unauffafibar“, so 



288 


Enter Abschnitt. Die griechiicke Skepm. 


zerstdrt sich diese These allerdings selbst, wird aber nicht etwa 
von den andem unverletzten positiv-dogmatischen Anschauungen 
zerstort, so dafi diese unversehrt fibrig bleiben; vielmehr geht 
deren Mord diesem Selbstmord voran. In dieser Allgemeinheit 
vermochte der Pyrrhonismus sich nicht zum navxa dxorrdXrpcra 
zu bekennen. Denn das setzt die Annahmen einer gleichen 
Dauerorganisation des Erkenntnisvermogens in alien Menschen, 
einer gleichen DauerbeschafTenheit der Dinge an sich voraus, 
wovon allem der Pyrrhoniker nichts zu wissen erklart. (Nur um 
die Erkennbarkeit der Dinge an sich handelt es sich bei den 
dogmatischen Negativisten dieser Richtung; wfirden auch die Er- 
scheinungen bezweifelt, so ware der Satz Ttdtvxa dxaraXtprra wirk- 
lich eine grobe Inkonsequenz und die antike Skepsis litte an einer 
unheilbaren logischen Wunde.) Einzig die Behauptung also: ich halte 
augenblicklich alles auf die Dinge an sich Bezfigliche fur uner- 
kennbar, ist die korrekt wiedergegebene Devise des Pyrrhonismus. 
Dieser Satz aber ist unbezweifelbar. So endet doch diese 
Sekte schliefilich beim individuell-dogmatischen Negativis- 
mus; allerdings, da diese Negation unmittelbares Erlebnis sein 
will, iiber unmittelbare Erlebnisse man aber Soy fiat a haben darf, 
ohne jede Inkonsequenz. Erst wenn die dogmatische Negation die 
momentane Erlebnissphare des individuellen Subjekts fiberschreitet, 
und die Unerkennbarkeit der Dinge an sich fiir alle Menschen zu 
alien Zeiten behauptet, bezweifelt der Pyrrhoniker auch die Wahr- 
heit dieses Satzes, welche generell -dogmatische Negativisten, 
wie manche Akademiker anerkennen. Hier genau liegt der Punkt, 
von wo den Dingen an sich gegenfiber der reine Zweifel beginnt; 
er reicht von dem Zweifel an der generell verstandenen Unerkenn- 
barkeit bis zum Zweifel an jeder fiber die Beschaffenheiten der 
Dinge an sich gefallten Aussage. Aber er findet seine letzte Wurzel 
in einem unbezweifelbaren Satz, in der angegebenen, individuell- 
dogmatisch-negativistischen These; und diese ist ihrerseits, obwohl 
sie die Sumdie aller skeptischen Negation darstellt, in dem posi- 
tiven Teile dieser Lehre verfestigt: in der Anerkenntnis der Er- 
scheinungen. 

Wie steht es mit den Folgerungen ffir ein positives Ver- 
halten zu den Dingen? In ihrem Zentrum steht der BegrifT der 
Erscheinung, des nc&oz und des (patvojuvov, wie der Begriff des 
Dinges an sich, das vnoxeiftevov und <pv6ei or im Zentrum der 
negativen Teile gestanden hatte. Diese Folgerungen sind aber nur 



Drittes KapiteL Die Kritik der griechischen Skepsis. 


289 


zumTeil schlussig entwickelt Was sagten sie aus? Der Skeptiker 
erkennt die unmittelbaren Erlebnisse an; sie darf er also ha ben, 
darf hungem und diirsten, denken und wahrnehmen. Gut. Cber 
sie darf er auch Aussage machen. Lafit sich noch horen; obwohl 
zu jeder Aussage uber ein unmittelbares Erlebnis schon die Giiltig- 
keit der logischen Axiome erfordert wird. Da diese aber von der 
Skepsis nur Streifschusse erhielt, und vor allem die Fahigkeit der 
Vernunft, allgemeine , wahre Satze aber die objektive Wirklichkeit 
zu erarbeiten, bestritten wurde, mag dieser Schritt noch so hin- 
gehn. Die Erlebnisse durfen Motive des handelnden Willens 
werden; der Skeptiker ifit und trinkt, wenn er Hunger und Durst 
hat Schon dnfechtbarer; denn das geht nur an, wenn er instinktiv 
zur Kuche oder an den Brunnen getrieben wird. Zur bewufit ge- 
leiteten Befriedigung der gemeinsten animalischen Bedurfnisse be- 
darf es bereits der Anerkennung allgemeiner Satze iiber die 
Erscheinungszusammenhange. Man kann den verlegten Trink- 
becher nicht finden, die Zubereitung der Speisen nicht betreiben, 
ohne die Oberzeugung von der Wahrheit oder Wahrscheinlichkeit 
gewisser allgemeiner Satze, gewisser Satze, die nicht uber unmittel- 
bar gegenwartige Erlebnisse, sondern uber vergangene oder zu- 
kunftige etwas aussagen; und zwar nicht nur iiber passiv in der 
Erinnerung aufsteigende Erlebnisse der Vergangenheit, nicht nur 
uber passiv durch Assoziation aufsteigende Erlebnisse der Zu- 
kunft. Man denke sich einen Pyrrhoniker in einer wasserarmen, 
einsamen Wiistenlandschaft dem Verdursten nahe; beschrankte sich 
ein solcher nur auf die „erlaubten“ Gruppen von Erwagungen, er 
wurde elendiglich verschmachten, und begreifen, wie wenig weit 
er mit dem „sich der Ndtigung durch die Zustande fugen“ ge- 
langt Erinnert er sich etwa, dafi in der Nahe seines Standorts 
ein See gelegen ist, und sucht er denselben zu erreichen, so 
nimmt er bereits an, dafi der See sich auch jetzt noch da be- 
finde, d. h. im Naturlauf allgemeine Regelmafiigkeit walte, obwohl 
ihn kein passives Erlebnis, sondern nur spontane Denkt&tigkeit 
zu dieser Annahme berechtigt; sieht er die Spuren wilder Tiere, 
so wird er sich von ihnen zur Oase leiten lassen; und doch 
verrat keine itaSfddv avdyxTj, auch nicht die durch das 6r\fi£oY 
v7rojtY7}6Tvt6v, n&mlich durch den Zwang der Assoziation sich 
kundgebende, sondern wiederum nur eine aktive logische Ope- 
ration die Existenz der dort befindlichen Oase. (Wenn namlich 
der betreffende niemals in seinemLeben die Vorstellungsverbindung: 

Richter t Skepddsmos. 19 



Erster Abschnitt. Die griechische Skepsis. 


290 

zur Tranke eilende Tiere — Oast im BewuGtsein gehabt hat.) 
So ist schon die Erfullung der gewohnlichsten Lebensbedingungen, 
sobald die geringsten Hindemisse auftreten, von dieser remen 
Passivitatstheorie aus nicht zu leisten; von der Motivation durch 
die unmittelbar gegenwartigen Erlebnisse aus allein schon gewifi 
nicht, aber auch nicht einmal unter Zuhilfenahme der zur Er- 
reichung viel hoherer Ziele (namlich der Berufsubernahme) aus- 
gebildeten assoziativen Kausalitatstheorie. 67 ) 

Aber der Skeptiker lebt nicht nur vegetativ und animalisch. 
Er lebt den Sitten und Gebrauchen seines Landes gemafi, 
in seinem Verhalten von den ubrigen MitbQrgern nicht unterschieden. 
Denn diese Sitten und Gebrauche gelten ihm gleichfalls (zwar nicht 
als Werte an sich, aber) als Werterscheinungen, von denen sich 
leiten zu lassen, durchaus empfohlen wurde. Hierin nun laufen 
zwei Gedankenreihen durcheinander: die eine oberflachlich und 
durchaus irrtumlich, die andre tief und zum Teil wahr. Indem 
der BegrifT der Erscheinung namlich in engerer Bedeutung als 
Abspiegelung eines realen Werts gefafit wird, sollen die jeweiligen 
Sitten und Gebrauche die unentrinnbaren Vorstellungen von diesem 
realen Werte sein. „Deshalb ist daruber, ob das Unterliegende 
(to vnoxHfxsvov) so oder so erscheint, vielleicht niemand im Zweifel; 
daruber aber, ob es so ist, wie es erscheint, zweifelt man. Indem 
wir nun also an das Erscheinende uns halten, leben wir gemaft 
der Beobachtung des gew&hnlichen Lebens ansichtslos." 68 ) Aber 
ersichtlich ist diese Parallele zwischen der Welt der Wirklichkeit 
und der Werte eine sehr gezwungene, der Zusammenhang dieses 
praktischen Teils der skeptischen Lehre mit dem theoretischen 
ein sehr lockerer. Denn wahrend es ganz sinnvoll (obwohl nicht 
richtig) ist, im Gebiete der sinnlichen Wahmehmung zu sagen: 
ich kann zwar, aus den bekannten Grunden, das Ansich dieser 
Rose nicht erkennen, aber diese Rose erscheint mir rot, duftig, 
klein und feucht, und ich kann mich dieser Erscheinung als einem 
vom Objekt stammenden, sich mir aufdr&ngenden Bewufitseins- 
zustand nicht entziehen, so ist das gleiche bei den Sitten, Ge- 
wohnheiten, politischen und religiosen Gebrauchen durchaus nicht 
der Fall. Hier erscheint keineswegs das Frommsein, Demokrat- 
sein, Gastfreundschaftuben als gut, in dem Augenblick und uberall, 
wo diese Handlungen und Gesinnungen Sitte sind, obgleich der 
absolute Wert dieser Zustande sich auch vielleicht inadaquat in 
dieser Erscheinung spiegelt. Ich kann mich vielmehr dieser 



291 


Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 

Art von Erscheinungen sehr wohl entziehen. Und gar 
Mannern von der scharfen, kritischen Begabung eines Timon, 
Aenesidem, Sextus vermogen wir erst recht nicht zu glauben: dafi 
ihnen, nicht etwa in allgemeinen moralischen Gefuhlen und Willens- 
regungen, die sich als Reflexe absoluter Moralgesetze allenfalls 
hatten ansprechen lassen, sondem in den einzelnen Opferzeremonien, 
den politischen Bestimmungen des eigenen Landstrichs das Heilige, 
das Rechte selbst in unausloschlichen Lettem niedergelegt „erschien“ ; 
so dafi ihnen nur iibrig geblieben ware zu bekennen: der Artemis 
zu opfern, ist vielleicht an sich nicht gut; aber ich mufi es fur 
gut halten; entsprechend dem Bekenntnis: die Rose ist vielleicht 
an sich nicht rot, aber ich mufi sie rot sehen. — Ganz anders 
die zweite Gedankenreihe, die sich in der Ausfuhrung dieser 
Manner mit der oben entwickelten zu verwirrendem Knoten ver- 
bindet, aber nur losgelost aus dem storenden Durcheinander der 
Gesichtspunkte ihren ganzen Wert behaupten kann. Sie kniipft 
an den BegrifT der Erscheinung in der weiteren Bedeutung an, 
nach der jeder sich unwiderstehlich aufdrangende Bewufitseins- 
zustand ohne Rucksicht auf ein zugrunde liegendes Ansich, das 
sich adaquat oder inadaquat in ihm spiegelt, (paivonevov genannt 
wird. In dieser Hinsicht wird der Skeptiker in den Bannkreis der 
Sitte gezogen, nicht weil ihm in den Sitten das Gute erscheint, 
sondem weil es ihm gut, d. h. lustvoll erscheint, sich den Sitten 
seines Landes und Volkes zu fugen. Tate er es nicht, so ware 
ihm das Leben eine unertragliche Last. Damit ist ausgesprochen, 
dafi von dieser Seite nicht der Inhalt der einzelnen Sitten, los- 
gelost von der Wirkung ihrer Befolgung fur das Individuum, all- 
gemein als gut, sondem nur eben die Wirkung ihrer Befolgung 
als lustvoll und daher empfehlenswert „ erscheint u . Dieser Lust 
nachzugehn, heifit ihnen, ein unwiderstehliches moralisches Bedfirfnis 
befriedigen , wie den Hunger zu stillen ein unwiderstehliches physi- 
sches Bedurfnis war und daher ohne Durchbrechung des theore- 
tischen Programms fur erlaubt gait. Einem solchen Konservativis- 
mus aus Radikalismus ist eine gewisse Grofiartigkeit, und seiner 
Motiviemng die psychologische Tiefe nicht abzusprechen. Auch 
heute, und gerade heute wieder, befolgt eine grofie Zahl der Ge- 
bildeten die Landessitten, bleibt Mitglied dcr Kirche, lafit sich 
trauen, die Kinder taufen usw., ohne von dem absoluten Wert der 
Religion und ihrer Gebrauche durchdrungen zu sein; ohne auch 

nur diese Lehren und Gebr&uche als Erscheinungswerte gut finden 

19* 



292 Enter Abschnitt Die griechiache Skepsis. 

zu mfissen; sondem einzig, weil die Skepsis fiber die Erkennbar- 
keit der Werte ein eigenes Wertsystem nicht aufkommen lafit, 
oder die Mattigkeit nach den ersten Versuchen, ein solches in die 
einzelnen Lebensrealitaten entgegen Sitten und Gesetzen hinein- 
zubilden, sie der provisorischen Lebensfuhrung unter dem Patronat 
der gerade herrschenden Normen alsbald in die Arme treibt. Schlecbt 
„erscheint“ auch hier nur die Unlust, die ein Gegen-den-Strom- 
schwimmen fur das betrefTende Subjekt mit sich fuhrt, gut das 
Enthobensein aller eigenen Wertsetzungen durch die bestehenden. 

Es ist aber eine unberechtigte Gewaltsamkeit, aus rein skep- 
tischen Voraussetzungen uber die Unerkennbarkeit der Werte, mit 
Hilfe des Erscheinungsbegriffs in jeder seiner Fassungen, wendet 
man dieselben auf die Landessitten an, eine allgemeine Norm 
ffir unser praktisches Verhalten gewinnen zu wollen. Denn da 
die herrschenden Wertansichten fur die Landes- und Zeitgenossen 
sicher keine notwendigen Erscheinungen des Guten an sich zu be- 
deuten brauchen, so liegt von dieser Seite kein Zwang vor, ein 
bestimmtes Verhalten einzunehmen. Versteht man aber unter der 
Sitte als Erscheinungswert nur den Umstand, dafi die praktische 
Befolgung derselben Lust, ihre Verwerfung Unlust erregt, so tritt 
hier der schonfrfihernamhaftgemachte, variable psychologische 
Faktor wieder in die Berechnung ein; und es bleibt ebenso mog- 
lich, dafi ein theoretischer Skeptiker praktisch bei der Befolgung 
der Landessitten sein Lustmaximum findet (das wird fur alle passiven, 
muden, verbrauchten, gebrochenen Willen gelten, wie sie der Mehr- 
zahl der antiken Pyrrhoniker wohl zu eigen waren), wie es mog- 
lich bleibt, dafi ein so Gesonnener seine hochste Lust findet gerade 
im Bruch der Sitte, im Ausleben der eigenen Individualitat, deren 
dr&ngende Begierden ihm weit zwingendere Erscheinungen und 
unmittelbarere Erlebnisse sind als die sich an die Vorschriften der 
Sitten kettenden Wertgefuhle (und auch f hr solche Typen fehlt es 
in der Geschichte nicht an Beispielen). 

So sicher sich aber fiber der Gleichung: herrschende Wert- 
ansichten = Werterscheinungen keine ethische Phanomenologie mit 
allgemeinen Verhaltungsmafiregeln fur den moralischen, religiosen, 
politischen Skeptiker logisch aufbauen lafit, so bewundernswert 
ist doch die Einhelligkeit, mit der samtliche antike Skeptiker tat- 
sachlich dem Sittenkodex ihrer Zeit genfigt zu haben scheinen. 
Einzig aus dem gebrochenen Willensleben, dem Mangel an eigener 
Leidenschaft lafit sich das gewifi nicht erkl&ren; vielmehr mfissen 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 293 

wir noch die antike Philosophentugend zum Verstandnis heranziehen: 
nach den als wahr erkannten Thesen auch wirklich sein Leben 
einzurichten ; eine Tugend, in der die Bezweifler aller Wahrheit 
hinter den Dogmatikern nicht zuruckstanden. Bewundernswert ist 
auch die Grandezza und der Hochsinn , mit denen die Skepsis nach 
aufien und nach innen diesen Pflichterscheinungen nachgab. Der 
Stifter der Schule war Oberpriester, und zwar bezweifelte er die 
Wahrheit in alien Religionen ebenso offen und vor aller Welt, wie 
er eine bestimmte Erscheinungsform der Religion hiitete und ver- 
waltete! Wen dabei nicht von selbst ein ehrfurchtiger Schauer 
uberfallt vor dem groflen Lebensstil, dessen Menschen einst 
fahig waren, der vergleiche damit die Art, wie sich die Skepsis 
im Talar und vor dem Altar heute auszunehmen und heram- 
zudrucken pflegt! Und wie man in antiker Vomehmheit durch 
Taten und Reden das auGerlich bekannte, zu dem man sich inner- 
lich bekannte, so erfullte man die herrschendenWertforderungenauch 
in deren tiefsten Schichten, auch dort, wo man auf keinen aufieren 
Beifall rechnen konnte. Was von dem Charakter der einzelnen 
Skeptiker seinerzeit berichtet wurde, der genialen Bescheidenheit 
Pyrrhos, der zarten Wohltatigkeit des Arkesilaus, usw., das zeigt 
unwiderleglich die Vereinbarkeit totalskeptischer Moralanschauungen 
mit derErfuUung, ja der kdniglichen Cberbietung der dogmatischsten 
Sittenforderungen aller Zeiten. Solange die „Werke 4< bewertet 
werden und nicht der „Glaube (( , gibt es kein Werk, das nicht 
auch der extremste Skeptiker im Einklang mit seiner Lehre, ja als 
Folge derselben geleistet hatte, wenn es die bestehende Sittlich- 
keitsauffassung empfahl. Das ist notig zu betonen, solange das 
enge Netz sittlicher Vorurteile noch so manchen umfangt, und es 
auch noch „Gebildete“ gibt, die sich unter einem ethischen Skep- 
tiker nur einen frivolen Spotter oder einen leichtsinnigen Welt- 
mann vorzustellen vermogen. Der Einwand aber, daft die Eigen- 
schaften und Werke der Skeptiker ganz unabhangig von den 
theoretischen Oberzeugungen sich gebildet hatten, ist vielleicht 
stichhaltig fur manche modeme Seelen, die, im Grande harmlose 
Gemuter , nur in der Theorie die Maske Epikurs oder Pyrrhos an- 
nehmen; fur den antiken Moralphilosophen, der sich an der Person 
eines Sokrates orientiert hat, ist er es nicht Vielmehr steht auch 
bei der Skepsis Leben und Lehre in allerengstem Zusammenhang; 
und wenn auch der logische Faden hier leicht zu durchreifien war, 
der psychologische, durch den man sich in seiner Lebensfuhrung 



294 


Enter Abschnitt Die griechische Skepsis. 


an die theoredscben Ansichten gebunden fiihlte, ist unzerreifibar. 
Davon nehmen wir um so entschiedener Notiz, als damit dem 
Standpunkt der Halbbildung wirksam entgegengetreten wird, der 
ja mit Vorliebe Leu ten, die theoretische Atheisten, Materialisten, 
Skeptiker sind, am sittlichen Charakter etwas am Zeuge flickt oder 
allenfalls das Verhaltnis von Leben und Lehre als den Sieg des 
guten Herzens fiber den bosen Kopf zu fassen pflegt 69 ) 

Im fibrigen ist auch bier nicht zu vergessen, dafi, ganz ab- 
gesehen davon, ob die Sitten eines Landes als rein passive Wert- 
erlebnisse zur Motivation des Willens eines Skeptikers genfigen 
oder nicht, jedenfalls zur Ausffihrung der von den Sitten vor- 
geschriebenen Handlungen wiederum ein starker Einschlag von 
aktiven Erwagungen notwendig ist, der auf rein skeptischer Basis 
nicht mdglich sein durfte. Jede Kulthandlung, die Pyrrho etwa 
vornahm, setzte die Oberzeugung von kausalen Zusammenhangen 
voraus, die auch durch die rein empiristische, rudimentare Kausali- 
tatstheorie der skeptischen Arzte gewifi oftmals nicht hatte zustande 
kommen konnen. 

Aber der Skeptiker halt es nicht nur ffir erlaubt, ja von 
seinem Standpunkt aus far geboten, die physischen Bedurfnisse 
durch Stillung von Hunger, Durst, Entferaung von Schmerz 
zu erfullen, die moralischen, religiosen, politischen Instinkte durch 
eine konventionelle Lebensfuhrung zu befriedigen, sondern er halt 
es auch ffir durchaus vereinbar mit seiner Lehre, einen Beruf, 
wie den der Medizin, zu fibernehmen; und zwar nicht nur die 
praktische Obemahme ist ihm im Einklang mit dem praktischen, 
positiven Kriterium (dem Begriff der Werterscheinung, die dazu 
drangt, das auch zu tun, was uns wertvoll erscheint), sondern auch 
die theoretischen Voraussetzungen des Berufs befmden sich im 
Einklang mit dem theoretischen, positiven Kriterium (dem Begriff 
der Wirklichkeitserscheinung). Damit aber waren die positiven 
Konsequenzen so weit getrieben, dafi eine neue Art von Erkenntnis 
durch sie mdglich gemacht wird, und der Skeptizismus in den 
extrem - idealistischen Empirismus (Positivismus) umschlagt. Ist diese 
Entwicklung des Positivismus aus dem Skeptizismus, einer syste- 
matischen Erscbeinungserkenntnis, die sich uber der systematischen 
Unkenntnis derDinge an sich erhebt, den Py rrhonikem gegluckt oder 
nicht? Ich glaube, die Antwort wird verneinend zu lauten haben. 

Der Skeptiker geht auch hier aus von den Erscheinungen. 
Ober deren Umfang braucht allerdings auch die Wissenschaft nicht 



Drittes Kipitei. Die Kritik der griechischen Skepsis. 


295 


hinauszugehen, wie die Analyse des extremen Idealismus ergab. 
Aber neben der W ahmehmung von Krankheitserscheinungen be- 
darf der Mediziner noch der Kenntnis ihres Zusammenhangs. 
Das gab die Skepsis zu, aber die Kenntnis dieses Zusammenhangs 
war selbst wieder Erscheinung, rein passives Erlebnis. 
Die Verbindung der Erscheinungen namlich machte sich in uns 
bemerkbar durch den passiven Zwang der Assoziation , kraft dessen 
eine Erscheinung (— sinnliche Wahmehmung), wie Rauch, Narbe, 
Herzverletzung, Salbe, die reproduzierte Vorstellung der oft mit 
ihr verbunden beobachteten, Feuer, Wunde, Tod, Heilung im 
BewuGtsein nach sich zieht Und diese Assoziation wirkt nicht 
nur, wahrend die Erscheinungen beide gegenwartig sind, sondern 
auch wenn die eine nicht mehr oder noch nicht da ist Die un- 
mi ttelbare, sinnliche Wahrnehmung einer Erscheinung genfigt, 
um durch Assoziation die andre vorauszusehn oder auf deren ver- 
gangene Wirklichkeit, deren gegenwartige, wenn auch nicht wahr- 
genommene Existenz zu schlieGen. Die eine Wahrnehmung hiefi 
das „erinnernde Zeichen". Mit dieser embryonalen Kausaltheorie, 
deren Verwandtschaft mit Hume und Mill in der Darstellung ge- 
nttgend betont wurde, scheint es in der Tat mdglich, von den 
skeptischen Pramissen aus Wissenschaft zu treiben. Denn mehr 
als die Erkenntnis der Erscheinungen und Erscheinungszusammen- 
hange braucht man dazu nicht. Und doch ist diese Mdglich- 
keit vollkommen ausgeschlossen. Denn in Wahrheit vermag 
der Pyrrhoniker den Zusammenhang der Erscheinungen nicht zu 
erkennen. Wenn er sich nur auf diejenige Kenntnis von Erschei- 
nungszusammenhangen beschrankt, die durch passive Assozia- 
tion zustande kommt, so wurde er 1. eine Menge fiir seine tixvr/ 
notigen Zusammenhange nicht erkennen und 2. eine Menge tat- 
sachlich und objektiv nicht bestehender zu erkennen glaubpn, und 
also immerfort irren und dem Kranken schaden. Dafi mafiiger 
Alkoholgenufi die Geistesfahigkeiten hebt und starkt, ist eine Er- 
fahrung, die man oft fiber sich ergehen lassen mufi und deren 
Glieder sich also sehr wohl assoziativ verketten konnen. Dafi 
diese Starkung aber nur eine momentane Uberreizung ist, die 
dem Gesamtorganismus schadet, zeigt nur die aktiv-methodische 
Durchforschung der Erfahrung. Das auGerste an reinem Em- 
pirismus, der wirklich die Erkenntnis der Erfahrungszusammen- 
hange und damit ihre Verwendung zur Voraussicht der zukfinftigen 
Erscheinungen erlaubt, ist die Anschauung: die fiberwaltigende 



296 


Enter Abschnitt Die griechische Skepsis. 


Masse von Fallen regelm&fiigen Naturgeschehens drange uns asso- 
ziativ die Oberzeugung auf, untereinander ahnliche Erscheinungen 
seien stets mit untereinander &hnlichen Erscheinungen verkettet 
Welchen Erscheinungen aber solche andre eindeutig zugeordnet 
sind, das zeigt uns niemals die „reine“ Erfahrung, das beant- 
wortet nur die Erfahrung, die daruber in bestimmter Weise be- 
fragt wird. 

Die logische Aktivitat, die planmafiige und methodische Be- 
obachtung dessen, was wirklich immer miteinander in der Er- 
scheinung verbunden ist, die systematische Berucksichtigung nicht 
nur der Wahmehmungswirklichkeiten , sondem auch -Moglich- 
keiten, sie sind unerl&filiches Erfordernis , auch um einen rein 
phanomenologisch aufgefafiten Beruf zu erf&llen, eine rein phano- 
menologische Wissenschaft zu treiben, ja auch um die vorher be- 
sprochenen animalischen und moralischen Instinkte zu befriedigen. 
Wenn die pyrrhonische Skepsis diese Instinkte befriedigte, ihren 
Beruf erfullte, ja eine ausgefuhrte medizinisch-empirische Methode 
besafi, so geschah das ohne philosophische Rechtfertigung und in 
grober Inkonsequenz der eigenen Prinzipien. 

Es finden sich zwei merkwurdige Stellen bei Sextus, von 
denen die eine den eigentlichen Zweck dieses skeptischen Posi- 
tivismus, die andre das Scheitem dieses Zweckes bekennt Die 
erste verrSt, dafi die skeptisch-positivistische Theorie alle Er- 
kenntnisprozesse anerkennen will, die zum Leben notwendig sind, 
aber nur soweit sie zum Leben notwendig sind. Daraus erhellt, 
dafi nicht nur die Grundtendenz eines Humeschen und Millschen 
Positivismus, sondem auch die innersten Motive der allermodemsten 
Form dieser Richtung, der biologischen, hier im Keime bereits 
enthalten sind. Was „aufierhalb der Lebensbedurfnisse “ (f£e> tfe 
fttwTviTje *s) behauptet wird 70 ), das geht den Skeptiker nichts 
an. Was aber „innerhalb“ dieser behauptet wird und behauptet 
werden mufi, interessiert ihn durchaus: „Daher wir mit dem Leben 
nicht nur nicht streiten, sondem sogar auf seiner Seite kampfen 
(6wayoovi26fie$a) , indem wir dem von ihm Beglaubigten uns an- 
sichtslos (d. h. ohne uns daruber, ob das biologisch Beglaubigte 
auch noch „an sich <( , in andrer Beziehung beglaubigt ist) fugen, 
andrerseits dem, was von den Dogmatikem besonders erfunden 
wurde, uns widersetzen." 71 ) Hatten die Pyrrhoniker aus diesenAus- 
kl£ngen ihrer Philosophic ein selbstlndiges Ganzes geschaffen, so 
konnte das diesem zugrunde liegende Problem nur lauten: welche 



Drittes KapiteL Die Kritik der griechischen Skepsis. 


297 


erkenntnistheoretischen Annahmen liegen den zum Leben erforder- 
lichen intellektuellen Operationen zugrunde? Was mfissen wir, 
nicht an sich, sondem im Interesse des Lebens fur wahr halten? 
In diesem Sinne spricht Mach gelegentlich „die tiefe Oberzeugung 11 
aus, dafi die Gesamtwissenschaft die nachsten grofien Aufklarungen 
fiber ihre Grundlagen von der Biologie zu erwarten hat; dafi die 
Anpassung der Gedanken an die Tatsachen das Ziel aller wissen- 
schaftlichen Arbeit sei, dafi aber die Wissenschaft hier nur ab- 
sichtlich und bewufit fortsetze, was sich im taglichen Leben un- 
vermerkt von selbst vollzieht. 7 *) Aber wie die Skepsis bereits die 
ersten krafdgen Ansatze zu einer biologischen Erkenntnistheorie 
besitzt, wie sie ihre Kausalit&tslehre vom „erinnemden Zeichen" mit 
Recht als den vornehmsten Beitrag zu einer solchen ansieht und 
sich auch die oben angezogene Stelle unmittelbar im Anschlufi an 
die Entwickelung der phanomenalistischen Kausalauffassung findet, 
so uberkommt sie doch, infolge einiger besonders gut gezielter An- 
griffe der Gegner, bisweilen das unsichere Gefiihl, dieser biologi- 
schen Aufgabe nicht vdllig geniigt zu haben. Dann reifit sie 
den angesponnenen Faden zwischen Theorie und Praxis gewaltsam 
entzwei, trennt ihre „ Philosophic “ vom „ Leben 14 ab, behauptet: 
„seinem philosophischen Bekenntnis gemafi lebt der Skeptiker 
nicht; denn nach diesem vermochte er nicht zu handeln" Mit 
einer gewissen Schadenfreude hat man sich auf solche Zugestand- 
nisse gestiitzt: ingenua confessio et probe notanda! triumphiert 
Fabricius, der Herausgeber, und Staudlin bemerkt dazu: ,,So 
gleichsam geteilt kann die menschliche Seele nicht werden, dafi 
sie in der Praxis auf einmal ganz vergessen konnte, wozu sie sich 
theoretisch besdmmt hat, oder dafi sie Grundsatze ungehindert 
praktisch anwenden konnte, die sie theoretisch ganz und gar in 
Zweifel gezogen hat. 1178 ) Sieht man aber naher hin, so zeigt die 
Stelle ein merkwurdiges Doppelantlitz; denn ein Leben und Han- 
deln des Skeptikers wird unmittelbar darauf durch die Motivations- 
kraft der „Erscheinungen“ (Landessitten usw.) ( 74 ) fiir moglich er- 
kl^rt, deren Anerkennung durchaus ein Stuck der skeptischen 
Philosophic ausmacht, und doch fahrt Sextus fort: „ Gemafi der 
unphilosophischen Beobachtung (Kata trjv a<pt\o6oq>oY trfprfitv) 
kann er dieses erwahlen und jenes vermeiden.“ Warum wiederum 
unphilosophische Beobachtung? Einmal, weil nur Erforschung 
der Dinge und Werte an sich der Antike Philosophic bedeutet, 
und keine Ansieht fiber die Dinge an sich den Skeptiker zum 



298 


Enter Abschnitt Die griechische Skepcis. 


handelnden Leben bestimmt; dann aber vielleicht auch, weil 
logische Operationen zu dieser Beobachtung notig waren, deren 
Wert die skeptische Theorie nicht anerkannte. Offiziell ist aus 
dieser Stelle kein belastendes Moment, keine Inkonsequenz 
zwischen Leben und Lehre herzuleiten. Sextus wurde ver- 
mutlich, zur Rede gestellt, die Ausdrucke <piko6o<poq Xoyog und 
d<ptXo6o<po<s rrfprjtivz nur durch die obige, antike Definition der 
Philosophic rechtfertigen und sich keiner bewufiten Luge dabei 
schuldig machen. Dafl noch ein zweites Motiv im skeptischen 
Unterbewufitsein existiert, ist unsre Vermutung; diese stutzt sich 
aber weniger auf die Kenntnis der Geistesart des betreffenden Autors 
als auf die Einsicht, dafi jede logische Bearbeitung und Er- 
forschung, selbst im Gebiet der Erscheinungs welt , von der Skepsis 
ausgeschlossen wurde und doch ohne eine solche jedes Handeln 
unmdglich, und nur ein „pflanzenahnliches“ Leben (dies der Vor- 
wurf der Gegner, auf den Sextus hier antwortet!) moglich ist 

Aber einzig die ausdruckliche Anerkenntnis der aktiven logi- 
gischen Operationen als ein Erfordernis zur Erkenntnis der Er- 
scheinungszusammenhange fehlte diesen Leuten (in theoria), um 
einen vollig durchgebildeten Abrifi des phanomenalistischen 
Empirismus (Positivismus) zu besitzen. Hier, in den interessan- 
testen Partien der Skepsis, brechen noch einmal die beiden Grund- 
motive dieser Schule mit elementarer Wucht hindurch und hin- 
dem die offene Schwenkung ins empiristische Lager. Das ethische 
Motiv: nur in der Passivitat liegt das Gluck, vertreibt auch aus 
der Theorie jede logische Aktivitat; der extrem - realistische Stand- 
punkt: nur in der Passivitat liegt Evidenz, wirkt im gleichen Sinne. 

Doch was den Pyrrhonikem fehlte, besafien die Akademiker. 
Ihr Skeptizismus hatte andre Motive, weder eudaimonistische, 
noch extrem -realistische. Und so betonten sie fur die Durch- 
forschung der Erscheinungszusammenhange in der Tat die Wich- 
tigkeit der aktiven logischen Operationen. Man mtisse die 
Erscheinungen „ringsumher prufen und durchspahen (< auf ihren 
Zusammenhang mit andern Erscheinungen hin. Daraus erst ent- 
sprange die Kenntnis davon, ob eine Erscheinung als Wirklich- 
keitserscheinung charakterisiert sei oder als blofies Phantasma, und 
welcher Art die empirischen Gesetze waren, nach denen sich die 
Wirklichkeitswahmehmungen verketteten. Ein weiteres Verdienst 
der Schule bestand darin, Stufen der Gewifiheit Oder Wahrschein- 
lichkeitsgrade in unsrer Erkenntnis aufgestellt zu haben. Damit 



Drittes KapiteL Die Kritik der griechischen Skepsis. 299 

nahm sie die erkenntnistheoretische Einsicht ahnend vorweg: dafi 
sich zwar nur an S&tze (Kameades glaubte , an Vorstellungen), die 
mit alien Erfahrungstatsachen und Denkgesetzen im Einklang 
stehen, das Wahrheitsgefuhl unausrottbar kettet; dafi aber auch 
Satze, die mit alien Denkgesetzen und nur einem Teil der Er- 
fahrungen im Einklang und mit keiner im Widerstreit stehen, ein 
ahnliches Gefuhl, das man als Wahrscheinlichkeitsgefuhl bezeichnen 
kann, unausrottbar begleitet Aber die Akademiker beschrankten 
diese ihre Lehre nicht ausdriicklich auf die Erkenntnis von Er- 
scheinungen, so dafi auch diese Schule zu keinem vollendeten 
Positivismus gelangte. 

Vereinigt man dagegen den pyrrhonischen mit dem 
akademischen Skeptizismus, so erhalt man in der Tat eine 
Theorie des Positivismus oder phanomenalistischen Em- 
pirismus, wie sie knapper und zugleich erschdpfender 
wohl nicht gedacht werden kann. Einziges Objekt der Er- 
kenntnis sind dann: die unmittelbaren Erlebnisse {itaSrj ) , dh. die 
Erfahrungen ( ipneiplai ), d. h. die Bewufitseinsdata ( cpavtaGiai ), 
d. h. die Erscheinungen (tpatyo/ieva) und der Zusammenhang dieser 
Erscheinungen oder deren Gesetzmafiigkeit Die ndSrj werden 
unmittelbar und passiv erkannt und die iiber sie berichtenden Aus- 
sagen sind absolut gewifi — so die Pyrrhoniker. Die gesetz- 
mafiigen Beziehungen der naSft\ werden mittelbar und aktiv durch 
methodische Beobachtung dieser Beziehungen erkannt; konnen aber 
nur mit annahemder Sicherheit, die mit der Exaktheit der Beob- 
achtung und der Zahl der beobachteten Falle steigt, in Satzen 
von wahrscheinlicher Geltung niedergelegt werden — so die Aka- 
demiker. 

Mit solchen Anschauungen lafit sich nicht nur praktisch leben, 
sondern auch theoretische Wissenschaft treiben. Demgegenuber 
besagen die skeptischen Erklarungen: es gibt keine Wahrheit, es 
gibt keine Wissenschaft, es gibt keine Erkenntnis nicht mehr viel. 
Sie beziehen sich ja alle auf Wahrheit, Wissenschaft, Erkenntnis 
von den Dingen an sich. Bedeutungsvoll und antipositivistisch 
sind sie nur, solange die Moglichkeit eines Erscheinungswissens, 
einer Erscheinungserkenntnis, einer Erscheinungswissenschaft nicht 
entdeckt ist. Aber die jvingere Skepsis entdeckte sie nicht nur, 
sondern begann sie auszubauen; und sie baute nur aus, was Pyrrho 
schon im Grunde gelehrt hatte: toig tpaivojxivoig axoXovSsiv. Ob 
man dabei die Worte: Wahrheit, Erkenntnis, Wissenschaft in 



3<>o 


Enter Abschnitt Die griechische Skepsis. 


positivistischer Bedeutung wieder einfiihrte, ist relativ gleichgultig. 
Fast scheint es so, als habe Aenesidem auch dazu mit der Formu- 
lierung eines zweiten Wahrheitsbegriffs den Ansatz gemacht Aber 
nicht gleichgiiltig ist, dafi die Skepsis den Realismus insofern nie 
uberwunden hat, als sie an der Existenz von Dingen an sich 
in alien ihren Vertretern festhielt; dafi sie daher das Ideal der 
Wissenschaft, der Erkenntnis, der Wahrheit, dessen Inhalt Aus- 
sagen uber die Dinge an sich waren, als ein unerreichbares und 
nie zu verwirklichendes betrachtete. 

So kommt diese Richtung mit ihren letzten Auslaufem in eine 
sonderbare Schwebe zwischen Kantianismus und modernem 
Positivismus. Mit Kant glaubt sie fest an die Existenz realer Dinge 
an sich und halt die Erkenntnis dieser Dinge fur ausgeschlossen 
(wahrend der Positivismus diese Existenz dahin gestellt sein lafit, 
oder leugnet). Mit den Positivisten glaubt sie an die empirische 
Erkenntnis von Erscheinungen und Erscheinungszusammenhangen, 
die in ihrem ersten Teil absolute Gewifiheit, in ihrem zweiten nur 
Wahrscheinlichkeitsgrade zu erreichen vermag. (Wahrend fur den 
rationalistischen Kant es gerade auf die absolute Gewifiheit der 
Erscheinungszusammenhange ankam.) 76 ) Des n&heren stellt sich dies 
Verhaltnis zu Kant, aus dem auch manches fur das Verstandnis 
der Skepsis selbst zu lernen ist, folgendermafien dar: Wenn Kant 
die Erkenntnis der Dinge an sich fur die menschliche Vernunft 
„uberhaupt“ eine absolute Unmoglichkeit sein lafit, bewahrt er 
sich als generell-dogmatischer Negativist fur das Gebiet derTrans- 
zendenz, beruhrt sich also mit einigen Akademikem, nicht mit 
den Pyrrhonikera. Wahrend bei Kant femer dieses absolute Nicht- 
wissen um die Transzendenz Folge des absoluten Wissens um 
bestimmte Bestandteile der Immanenz ist, als Folge seines Aprio- 
rismus von Raum, Zeit, Kategorien (weil a priori und immanent 
absolut gill tig, darum nicht transzendent gultig) , so stehen bei der 
Skepsis beide Partien im umgekehrten ursachlichen Zusammenhang : 
nicht weil wir die Erscheinungen vollkommen sicher erkennen, 
konnen wir ihr „an sich u nicht erkennen; sondern weil wir die 
Dinge an sich nicht erkennen, bleibt uns nur ubrig, uns auf die 
Erscheinungen zu beschranken. Der tiefste Grund fur diesen 
Unterschied liegt darin: dafi die Skepsis die prinzipielle Trans- 
zendenz der Dinge an sich nicht konzipiert hatte. Sowie die 
Dinge an sich als aufierzeitliche, aufierriumliche, aufierkausale, 
metaphysische Wesenheiten einmal gefafit und so schon durch 



Drittes Kapitei. Die Kritik der griechischen Skepsis. 301 

diesen Begriff alle Briicken mit dem erkennenden Bewufitsein und 
dessen Formen abgebrochen sind, begreift sich, dafi man sich ganz 
auf die Verfestigung des Erscheinungswissens werfen konnte; so- 
lange dieser Schritt aber noch nicht geschehen war, die Dinge an 
sich in Raum, Zeit, Kausalitat einbezogen gedacht wurden und 
nur aus empirischen Motiven nicht erkannt werden konnten, 
hatte man auch theoretisch mehr Grund: die Unmoglichkeit ihrer 
Erkenntnis aus diesen empirischen Ursachen zu beweisen , als die 
Moglichkeit der Phanomenerkenntnis im einzelnen auszubauen. 
Denn die Dinge an sich waren ja nicht durch jenen Kantischen 
Gewaltstreich als Erkenntnisobjekte von vornherein ausgeschieden. So 
war der Acker der Dinge an sich dem Skeptiker als Erkenntnisterrain 
nicht „das Unbetretene, nicht zu betretende" wie fiir Faust 76 ), 
sondem nur ein Gebiet, auf dem man bei jedem Schritte stolperte. 
Wahrend nun Kant nachweisen will, dafi noch keines Menschen 
theoretisches Bewufitsein je den Schritt auf dieses Land gesetzt 
hatte, noch setzen konne, und dafi es daher galte, die Strafien 
und Wege auf dem zuganglichen Lande der Erscheinungswelt 
genau zu studieren und deren Karte zu entwerfen, zeigt die Skepsis 
mit eindringlicher Sch&rfe und ausfuhrlicher Breite: dafi man bei 
jedem Schritt auf dem Acker der Dinge an sich stolpern miisse, 
und gibt nur rhapsodisch und eigentlich nur halb interessiert ein 
paar Orientierungspunkte an, nach denen man sich im Erscheinungs- 
lande zurechtzufinden vermdge, gerade so viel, als ein „anstan- 
diger 11 Mensch zum taglichen Leben bedarf. Wenn die Medaille 
der Kantischen Erkenntnistheorie auf der Vorderseite die Devise 
truge: Erkennbarkeit der Erscheinungswelt und auf dem Revers: 
Unerkennbarkeit der Dinge an sich, so mufite bei einer auf die 
antik-skeptische Philosophic gepragten Miinze zu lesen stehen 
auf der Vorderseite: Unerkennbarkeit der Dinge an sich, und auf 
der Ruckseite in verschwommenen Ziigen: Erkennbarkeit der Er- 
scheinungenl 


Aber der geheimste Grund dafur, dafl Pyrrhoniker wie Aka- 
demiker die Skepsis und nicht den Phanomenalismus, die negative 
und nicht die positive Seite ihrer Theorien accentuierten, lag 
nicht in ihrer Auffassung vom Ding an sich, lag uberhaupt nicht 
in intellektuellen Motiven, sondem er ist zu suchen in der Grund- 
richtung des Wollens und Fuhlens, das den Stiftem dieser 
Schule eigen war. Ihren theoretischen Ausdruck erfuhr diese Grund- 



302 


Enter Abschnitt. Die griechische Skepsis. 


richtung in der Beantwortung der letzten Frage: dafi vom Baume 
der Skepsis allein uns die Frucht der Gluckseligkeit reif in den Schofi 
falle. Was nun die Beurteilung dieser kronenden Schlufieinsicht be- 
trifft: aus dem skeptischen Verhalten, der volligen Epochs den Dingen 
und Werten an sich gegenuber , folge die Ataraxie und Apathie, oder 
doch wenigstens die Metriopathie, kurz der grofitmogliche Grad 
von Eudaimonie, so darf man dabei nicht vergessen, dafi das Ideal 
der Gluckseligkeit hier nicht etwa als ein erwiesener allgemein- 
giiltiger sittlicher Wert auftritt , den man durch die theoretische 
Skepsis zu verwirklichen habe, sondem a parte ante als das indi- 
viduelle Willensziel der einzelnen Skeptiker und a parte post als 
die tatsachliche Folge des skeptischen Standpunktes. Wer das 
namliche Ziel erstrebt, kann es auf dem Wege der Skepsis allein 
erreichen und wer diesenWeg geht, gelangt zu jenem Ziele. Eine 
Sanktion fur dieses Ziel und damit eine letzte Sanktion fur ihre 
ganze Philosophic zu geben , fiel denSkeptikem nicht ein. Daher 
der vorsichtige „hypothetische“ Imperativ Timons: deir tor jiiX- 
Xorta evdaifiiorr/tieiY elg rpia tavta fiXineiv. 11 ) Die Richtigkeit der 
skeptischen Lehre aber von den Mitteln, die zum Glucke fuhren, 
lafit sich nicht logisch , sondem nur psychologisch prufen. Hat 
wirklich der totale Zweifel das Gluck, die dogmatische Oberzeugt- 
heit das Ungliick im Gefolge? Nun glauben wir gem, dafi Pyrrho 
und noch manch andrer griechischer Skeptiker die gleiche Tiefe 
inneren Friedens genossen haben mogen, wie die grofien Weisen der 
Stoiker und Epikuraer oder wie ein christlicher Heiliger. 78 ) Aber zu 
behaupten und zu beweisen versuchen, aus der Skepsis folge not- 
wendig und ganz allgemein Gemutsruhe und Friede, Leidlosigkeit 
und Gelassenheit, ist ein unhaltbares Vorgehen. Hier sprechen die 
psychologischenTatsachen eine beredtere Sprache als alle logischen 
Grunde. Wir brauchen blofi dem griechischen Pyrrho einen deutschen 
Gegentypus vorzuhalten: den Faust. Auf Faust wirkt die Skepsis 
nicht beruhigend, nicht beglQckend und erldsend; sie istihmviel- 
mehr die Ursache tiefster Unruhe, heftigster ErschQtterung, qua- 
lendsten Unglucks ; sie versengt ihn: 

„Und sehe, dafi wir nichts wissen kOnnen 

Das will mir schier das Herz verbrennen. “ 

Wem aber Dichtwerke zum Entscheid philosophischer Fragen 
nicht mafigebend sind, derlesedas Kapitel uber das „metaphysische 
Bedurfnis 1 * bei Schopenhauer, und er wird sich hberzeugen, 
welchen Grad von Kakodaimonie die Zweifel an der Erkenntnis 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 3°3 

der Dinge an sich zu erzeugen vermogen. Damit fallt naturlich 
auch die Erganzungsthese: feste Oberzeugungen ziehen notwendig 
Unruhe und Unseligkeit nach sich, dahin. Ein Blick in die Schlufi- 
partien des Hauptwerks eines der dogmatischsten alter Denker, 
der Ethik Spinozas, aus denen dem Leser die tranquilla beati- 
tudo des Autors entgegenleuchtet, ist die leicht anzustellende 
Probe. So lernen wir noch einmal von der Skepsis, aber diesmal 
ohne ihrenWillen, dafl sich aus der Eudaimonie als oberstem Ziel 
kein allgemeingiiltiges Verhalten ableiten lasse. 79 ) Aber wir lernen 
zugleich einen neuen, fur einzelne Menschen gangbarenWeg zur 
Gemutsruhe und zum Glucke kennen: den Weg der reinen in- 
tellektuellen Resignation, des volligen Verzichts auf die Erkenntnis. 
Damit tritt am Schlufi der antiken Moralphilosophie noch ein neuer, 
aber nicht minder berechtigter eudaimonistischer Antipode zu dem 
Begrunder der griechischen Ethik auf. Sokrates hatte das Wissen 
als den geraden Weg zur Gluckseligkeit gepriesen; erschdpft und 
mude, am Ausgang einer hohen Kulturepoche stehend, weisen die 
Skeptiker auf das Nichtwissen, als den Pfad zum gleichen Ziele. 
Viele Wege — das enthiillen diese Kontraste — fiihren zur Gluck- 
seligkeit. Aber nicht alle sind fur jedermann beschreitbar. Ein 
jeder gelangt nur auf einem einzigen Wege zum Ziele. Aber darum 
ist dieser Weg nicht der einzige fur alle. Die Grunde fur diese 
Erscheinung hatte die Skepsis in ihrer Kritik der dogmatischen 
Moralphilosopheme bereits gestreift Aber selbst noch allzusehr 
in den Anschauungskreisen der alten Welt befangen, verfallt sie 
ihrerseits, der eigenen Kritik zum Trotz, in den gleichen Fehler: 
ein eudaimonistisches Allheilmittel zu empfehlen. 

Der Hinweis auf das vorher dariiber Gesagte genugt, um 
auch hier an keine allheilende Wirkung zu glauben. Es brauchen 
die Beispiele nicht vermehrt zu werden, die als schlagende Gegen- 
instanzen die These zum Sturze bringen: Zweifel und Gluck seien 
unzertrennliche Geschwister. Es gibt ihrer genug, und gerade in 
unsera Tagen mehr als genug. 80 ) 


Anmerkungen zum ersten KapiteL 

1) vgl. Wundt, Einleitung in die Philosophie, Leipzig 1901: 
„schon in der antiken Philosophie ist sie (die skeptische Richtung) zu 
einem Standpunkte fortgeschritten, der, weil er der des absoluten Zweifels 
an alien Erkenntnisquellen und an jeder Betatigung des Erkenntnis- 
vermCgens ist, seitdem nicht mehr flberschritten werden konnte" (S. 335); 
und ein andermal: „Die pyrrhonische Skepsis bezeichnet einen HOhepunkt 
in der Entwicklung dieser Denkweise, der spaterhin selten mehr erreicht 
worden ist“ (S. 338). 

2) Zur Geschichte dieser Terminologie vgl. S. IX/X. 

3) Diog. IX, 71 — 73 werden als Vorlaufer des Skeptizismus in 
folgender Ordnung genannt: Homer, die sieben Weisen, Archilochus, 
Euripides, Xenophanes, der Eleate Zeno, Demokrit, Plato, Empedokles, 
Heraklit, Hippokrates. 

4) Cicero, Acad. pr. 72ff., wo Cicero selbst diese Meinung aus- 
drOcklich gegen die des Lucullus vertritt, der auf dem fraglichen Punkt 
anderer und richtigerer Meinung war (ebda. 1 4 flf.). Aufier den im Text 
erwahnten zahlt Cicero noch zu den skeptischen Denkem: Anaxagoras, 
Metrodor von Chios, Xenophanes, Parmenides, die Stoiker und Cyrenaiker. 

5) Vgl. die Zitate bei St&udlin, Geschichte und Geist des Skepti- 
zismus. Vorztiglich in Rficksicht auf Moral und Religion, Leipzig 1794, L 
(S. 163 — 168). Dagegen hielten Manner wie Aenesidem und Menodotus 
Plato durchaus fttr keinen Skeptiker, Sextus, P. I, 222 / 22 3. Sextus 
Empiricus aber ist besonders bemttht, die skeptische Philosophie auch gegen 
wirklich verwandte Oder doch wenigstens den Umkreis der skeptischen 
Denkweise irgendwo schneidende philosophische Richtungen abzugrenzen 
(P. I, 210 — 241). 

6) Bayle, Dictionaire historique et critique. Art Pyrrhon, Not F. 
Der ganz ahnliche Vers von Archilochus bei Diog. IX, 71 zu gleichem 
Zwecke verwendet; ebenso vage „ skeptische “ Homerverse ebda. 73. 

7) Diog. IX, 71. 

8) Cicero, Acad. pr. 72. 

9) Montaigne, Essays (Didot, Paris) Vol. I, Essai XII, S. 545. 



Anmerktmgen sum enten KapiteL 


305 


10) Selbstveistandlich nicht mit BewuBtsein. Der Gegensatz von 
qualitativer und quandtativer Weltbetrachtung ist nur eine zur Erleichterung 
der Obersicht nachtrflglich vom Historiker herangebrachte Kategorie. 
Gewifi hat Zeller mit der Bemerkung recht: „eben das geh&rt zu den 
wesentlichen EigenlOmlichkeiten des pythagoreischen Standpunkts, dafi 
die Unterscheidung von Stoff und Form noch nicht vorgenommen, dafi 
in den Zahlen , worm wir freilich nur einen Ausdruck fQr das Ver- 
haltnis der Dinge zu sehen wissen, unmittelbar das Wesen und die 
Substanz des Wirklichen gesucht wird“. (Geschichte der Philosophie der 
Griechen la. 5. Aufl. Leipzig 1892, S. 349.) Vgl. auch Wundt, Ein- 
leitung a. a. O. S. 92. 

11) Plato, Leg. IV, 715c; vgl. Oberweg-Heinze, Grundrifi der 
Geschichte der Philosophie, I, neunte Auflage, Berlin 1903, S.39. 

12) Zitat nach Staudlin a.a.O. 1, 64. 

13) Diels, Die Fragmente der Vorsokratiker, Berlin 1903, 
S. 75, Fr. 60. 

14) Eusebius, praep. evang. XIII, 13, 36. Sextus Empiricus, adv. 
Math. IX, 193. 

15) Eusebius, ebda und Diels a.a. 0 . S. 72, Fr. 32. 

16) Daher nennt Brochard, Les sceptiques grecs, Paris 1887, 
S. 6 die Eleaten „les vrais ancetres du sceptidsme.“ 

17) Wahrend bei Parmenides, Zeno und Melissus zwar skeptische 
Elemente anerkannt werden mflssen, der dogmatische Gesamtchazakter 
ihrer Lehre aber unbestreitbar ist, hat man Xenophanes in weit hflhe- 
rem Grade dem Skeptizismus huldigen lassen. Die Aufierungen, auf 
die man sich dafQr vor allem beruft, sind die Verse (bei Sextus, adv. 
Math. VII, 49 und no, VIII, 326): 

Kal zb fikv ohv oacpeg oCztg &vtjq yfrez 9 ovdi zig Hazai 

Etda>g dpupl ftewv re xal Saaa tzeqI n&vzanr 

El yag xal rd fidlioxa zvyoi zezeXeofiivov ebzcfry, 

Avzog Sficog ovx olds, 66 xog d y tnl naoi zizvxzai, 

Ebda (49) lafit Sextus den Xenophanes „nach einigen" behaupten, es 
sei ailes ixazdlyma. Den Sinn obiger Verse legt er an verschie- 
denen Stellen verschieden aus (wie schon Staudlin a. a. O. I, S. 182 
Anmerk. 79 bemerkt); adv. Math. VII, 51, 52 so, als habe Xenophanes 
nicht das Dasein der Wahrheit, sondem nur des Wahrheitskriteriums 
leugnen wollen (in gleichem Sinne auch P. II, 18); VIII, no aber, als 
sei durch die Verse nur der Begriff einer apodiktischen Wahrheit, aber 
nicht der Wahrscheinlichkeit aufgehoben; VIII, 327 endlich: als handle 
es sich in den Versen nur um die Unerkennbarkeit der &dt]Xa. Von 
diesen drei Auffassungen waren die erste und letzte mit der pyrrhoni- 
schen, die mittlere mit der akademischen Skepsis vertzaglich Dennoch 
rechnet Sextus den Xenophanes keineswegs zu den Skeptikem (P. I, 225). 

Richter, Skeptazimuis. 20 



306 


AnmerkuDgen rum ersten KapiteL 


•’•.•I • 


Auch Timon, trotz aller Vorliebe fittr diesen Elea ten, nennt ihn 
„halbumdunstet“ iytdxwpog (Sextus, P. 1 , 224), legt ihm allerdings (ebda.) 
Verse in den Mund, die auf ein fr&heres skeptisches Stadium schlie&en 
lassen kOnnten: 


'Qg xal iycov Ikpelov n vxtrov vdov dvxifhlrjoat 
9 AfJupoxegdfilintog • doUrji d' idcp lEanaxfyhjv 
IlQeofhyeviis ft* idrv xal dpevfHjQioxog djidorjg 
2 x&tzoovvrig' djtTtjj ydq k/xdv vdov dgvocufu, 

Elg hr xavrd re ndv dvzXveto' nav d’ lAv aid 
IldvTfl dvelxdpevov play elg qwoiv fora#’ ipohyv. 

In diesem Sinne sind die Verse von einigen (Kem, Heinze) veratanden 
worden. Anders Zeller a. a. O. I a , S. 550 *, der ganz mit Sttudlin Uber- 
einstimmt. Wachsmuth (De Timone Phliasio, Leipzig 1859, S. 59 ff.) 
schreibt dem Xenophanes ahnliche Sillen wie die Timonischen zu; da- 
gegen Brochard (a.a. 0 . S. 4. Anmerk. 3). 

18) Diels a.a. 0 . S. 81. Fr. 107. 

19) ebda S. 79, Fr.gr. 

20) Aris to teles, Metaph. IV, 5. 

21) Sextus, adv. Math. VII, 139: yvd>fjtqg dk dvo elobr ld£m, fj 
fihr yvrjolrj, 1} dk oxoxlty xal oxoxtrjg fikr xdde ovftnavxa, Syng, dxorj, 
dd/rf, yevotg , ipavoig* ij dk yvrjohj, dnoxexQtftivrj dk xavxrjg. 

22) ebda. VII, 135, (vgLVin, 184): vdfjup ylvxv xal rd/tq? tuxqov , 
vd/jup &£Q/idv, vd/tq> tpvxQdv, vd/up ZQ°rf' Arajjf dk Sxopa xal xevdv* 
Auch andere skeptisch klingende AussprQche beziehen sich immer nur 
auf die sinnliche Erkenntnis. (Vgl. Zeller a. o. O. I b , 92 r — 924.) 

23) Sextus, P. I, 213/14. An dem verschiedenen Gebrauch dieser 
Redensart bei Demokrit und den Pyrrhonikem eri&utert Sextus schlagend 
den Unterschied beider Lehren: diarpdQarg filvxoi xq&yzoi xjj „ov pallor" 
<pcovfj al xe oxenxatol xal ol dnd xov AtjfwxQlxov' btuvoi fihr yog 
ini xov ptjdheQOV elvcu xdxxovoi x^v qxovrjv, ijfte tg dk bd xov dyvour 
ndtegov dfMpdzega ij oddhegdv xi Ion xdtv <patvopiv<ov. Bleibt man 
nicht bei diesem vielleicht subtil erscheinenden Unterschied stehen, 
sondem forscht nach dem Grunde desselben, so zeigt sich die Gegen- 
s&tzlichkeit beider Standpunkte aufe deutlichste; Demokrit glaubte mit 
dogmatischer Zuversicht die atomistische Beschaffenheit der Dinge an 
sich zu erkennen und mufite dabei den sinnlichen Qualit&ten notvendig 
alle objektive Realitat absprechen; die Skeptiker sahen gerade die Be- 
schaffenheit der Dinge an sich als das unl&sbare Urproblem an und mufiten 
daher die Frage nach der Kongruenz oder Inkongruenz der subjektiv- sinn- 
lichen mit den objektiv-realen Qualitaten offen lassen. Pappenheim 
(Die Tropen des Aenesidem, Programm des Kdln. Gymn. S. 8) halt die 
Berichte, die schon Demokrit den Gebrauch des ovdkv fidlXov beOcgen, 


Amnerkungen znm cnten Kapitel. 


307 


ft 

filr willkflrliche Konstruktion f durch die frtihen Denkem spatere eigene 
Fonnein untergeschoben werden sollten. Seine Griinde sind aber nicht 
aberzeugend. 

24) Stobaus. Eel. II, 76. m 

25) Den Skeptizismus Metrodors veranschaulieht dessen Ausspruch 

(Cicero, Acad. pr. 23, 73 ; Eusebius, praep. evang. XIV, 19, 9; Diog. IX, 58; 
Sextus adv. Math. VII, 88): oiddg oidhv older, aid 9 aired tovto, 

nazegov otda/iev fj ovx otdajuev. DaB er trotzdem den Skeptizismus 
im strengen Sinne nicht vertreten haben kann, zeigen seine ausfdhrlichen 
naturphilosophischen Spekulationen. 

26) Anaxarch, ein Schttler Metrodors, bewies seine Standhaftigkeit in 
Schmerzen damit, dafl er, dem Cypera - Fflrsten Nikokreon ausgeliefert, und 
auf dessen Befehl in einem MOrser zerstampffc, in den Todesqualen dem 
Tyrannen zurief: nxfooe t dv *Ava£dgxov frviaxov, *Ay6£oq%ov di oi 
Jizlooeig. (Zahlreiche Quellen der ErzShlung bei Zeller a. a. O. I b , S. 963®) 
Dadurch bewahrte er die skeptische Ataraxie, und von dieser Seite her 
wird er wohl auch auf Pyrrho eingewirkt haben. Nicht aber durch eine 
skeptische Erkenntnistheorie, die er nicht besafi. Im ttbrigen ist gewifi 
Zellers Bemerkung a.a.O. (S. 966) beizupflichten: „die Atomistik scheint 
demnach ttberhaupt bei Demokrits Nachfolgem die skeptische Wendung 
genommen zu haben, welche sich aus ihren physikalischen Voraus- 
setzungen eigeben konnte, ohne daB doch diese Voraussetzungen 
selbst verlassen wurden. u 

27) Hirzel (Untersuchungen zu Ciceros philosophischen Schriften, III, 
Leipzig, 1883, S. iff.) ist der Hauptvertreter dieser Anschauung. Seine 
Beweise stQtzen sich hauptsSchlich auf folgende Punkte: 1. auf das 
Fehlen aller dialektischen Argumente in den Tropen Aenesidems, 2. auf 
die Beschrankung dieser Tropen auf die Bestreitung der sinnlichen Wahr- 
nehmungserkenntnis, 3. auf die ethische Skepsis bei Demokrit, 4. auf die 
Aufstellung der dr aga(la als Lebensideal bei Demokrit und Pyrrho, 5. auf 
die Verwandtschaft zwischen dem Titel der Timonischen Schrift Ivdalfiol 
und dem mutmaBlichen Gebrauch dieses seltenen Wortes bei Demokrit, 
6. auf die naturwissenschaftliche Richtung auch der spateren pyrrhonischen 
Skepsis. — Aber die Tropen Aenesidems enthalten nicht die ganze 
Lehre der P)rrrhoniker (zu 1. und 2.), die ethische Skepsis Demokrits 
ist eine hftchst problematische Konstruktion (zu 3.), 4., 5. und 6., sprechen 
nur f&r die Mitwirkung, aber fttr nichts mehr, demokriteischer Ge- 
danken. Natorp, Geschichte des Erkenntnisproblems im Altertum, 
Berlin 1884, S. 286 — 290 schrankt Hirzels Thesen auf all den genannten 
Punkten mit Recht ein; ebenso Brochard a. a. O. S. 47 — 49. Schon 
Sextus (P. I, 2 13/2 14) hatte den wesentlichen Unterschied zwischen dem 
Demokritismus und Pyrrhonismus richtig bezeichnet Im ganzen offenbart 
die Hirzelsche Hypothese eine auch sonst verbreitete Eigenttlmlichkeit 

20* 



308 


Anmerkuogen zum er&ten Kapitel. 


der Philologen in der Art, ihre Unteisuchungen der Geschichte der 
Philosophic nutzbar zu machen: die MQhe, welche eine philologische 
Entdeckung gemacht hat, wird ihrem historischen oder philosophischen 
Wert durch einen begreiflichen psychologischen Prozefi an GrOfie gleich- 
geseSt Gewifi ist die philologische Mitarbeit for das VexsUIndnis der 
f;^ank*nzii«*mm<»nhangf» t besonders in der antiken Philosophic unent- 
behrlich, und wer sich for diese Gebiete interessiert, mufi diese Hilfe aufs 
dankbarste willkommen heifien. Aber an sich haben die Ergebnisse ent- 
sagungsvoller Detail- und Quellenforschung vor den offen zutage liegenden 
Verhaltnissen nichts voraus. DaB skeptische Keime in der voipyrrhonischen 
Philosophic flberall reichlich ausgestreut sind, sieht jedermann; dafi das 
Wort IvbaXfiol aufier im Titel einer Schrift Timons nur noch in einem 
Briefe bei Demokrit vorkommt, erkennt allein der Philologe. Diese seine 
Geheimkunst lflfit ihn auch dort leicht Geheimnisse wittem, die nur 
durch seine Kunst zu l 5 sen sind, wo gar keine vorliegen. Dafi in oner 
original en Denkerpersdnlichkeit wie Pyrrho dberhaupt die Gedanken nicht 
so buchstabenmafiig ihren Ursprung nehmen, und dafi andererseits die 
geistige Atmosphare seiner Zeit skeptische Elemente aus den verschiedensten 
Quellen barg, die for einen produktiven Geist zu neuer Synthese bereit 
lagen, wird ate zu einfache und unwissenschaftliche Einsicht Idcht 
ttbersehen. 

28) Gomperz, GriechischeDenker, Leipzig 1893—1902, 1 , 334. 343. 

29) ebda. S. 334. 

30) Die gegenteilige Ansicht, wie sie Grote, Laas, Gomperz, 
Halbfafi u. a. vertreten, wird durch die klassischen Zeugnisse Platos, 
Aristoteles, Demokrits, Sextus widerlegt und ist neuerdings durch 
Zeller (a.a. 0 .: I b , 10956!) und Natorp (a.a. 0 .: S. ifE), ebenso durch 
Meyer (Geschichte des Altertums, IV, 2626.), wie mir scheint, vftliig 
dberzeugend abgewiesen worden. 

31) Protagoras wird wohl 1. mit dem /ihgar nicht den Mafistab 
fflr die Wirklichkeit selbst, sondem den Mafistab for die Erkenntnis der 
Wirklichkeit verstanden und also nicht etwa an eine wirklichkeitsetzende 
Kategorie der Existenz im Sinne Fichtes gedacht haben; 2. befafit der 
Ausdruck: das Dasein der seienden Dinge nicht nur die Existenz der 
Dinge schlechthin, auch nicht nur die Art der Beschaffenheiten 
(wie Farbe, Geruch usw. mit gewaltsamer Deutung des c bg ate jwie*) 
sondem vor allem die Existenz der Beschaffenheiten, aus denen 
sich doch schliefilich for den Sensualisten die Dinge zusammensetzen. 
Dafi Protagoras in einem einzigen Satze(!) diese verschiedenen Gesichts- 
punkte nicht sauberer trennte, nimmt deshalb nicht mehr wunder, weil 
dieser Satz zufollig zu den wenigen exhaltenen Aufierungen des Mannes 
gehOrt, aus denen dann die Nachwelt dessen ganze Lehre herauspressen 
mufite. Dies gegen Gomperz, I, 362 fif. 



Anmerkixogen zum ersten Kapitel. 


309 


32) Plato, Theaetet 152 D, 157 Aff. Sextus, P. I, 217— 219. 

33) Plato, Theaetet 156 C. 

34) Plato a. a. O. I57£ff. zeigt im Sinne des Protagoras an den 
Kranken, Schlafenden, Wahnsinnigen, dafi diese wegen der besonderen 
Disposition ihrer Organe auch andere Wahmehmungen haben wie die 
Gesunden, Wachenden, Geistignonnalen, und dafi sie in Ermangelung 
eines Kriteriums mit diesen Wahmehmungen im Rechte sind. Genau 
den nam lichen Beispielen werden wir in den Tropen des Aenesidem (P. 
I, iooff.) begegnen. (Vgl. adv. Math. VII, 61 — 64). 

35) Diog. IX, 51: firjdtv elvcu y>v%r]v naga xdg alo&rjoeig. 
Natorp (a. a. O. S. 16 — 19) glaubt, Protagoras habe nur noch keinen 
Unterschied zwischen ato&rjoig und 36£a gemacht. 

36) ebda.: nganog icprj dvo Xdyovg elvai negl navrbg ngdy/jurtog 
dvrix€ifi€vovg dlArjkoig. Pappenheim , die Tropen des Aenesidem S. 4 1 5 
halt diese noch durch andere wie Clemens Str. VI, 65 und Seneca 
ep. 88, 43 bezeugte Oberlieferung far unrichtig, wie mir scheint, ohne 
zwingende Grande. 

37) Dafi Protagoras dieselbe noch mit besonderen Argumenten 
zu statzen suchte, beweist nichts — trotz Gomperz a. o. O. — gegen 
seine skeptische Grundansicht Man denke nur an den entsprechenden 
Vorgang in den Werken des Sextus! 

38) Diog. IX, 51. Obersetzung nach Gomperz. 

39) Xenophon, Memor. IV, 4. 

40) Zum ersten Mai wird die Unterscheidung <pvaei — dioei auf 
moralischem Gebiet wohl von dem Sophisten Hippias angewandt (Xeno- 
phon, Plato, Protag. 33 7 C). Vgl. fiber die Entwicklung des cpvaei und 
dioei in der griechischen Philosophic: Gomperz a. o. O. I, 323 — 351. 
Die spateren Skeptiker eigneten sich diese Unterscheidung gleichfalls an, 
aber folgerten — eben als Skeptiker und nicht als negative Dogmatiker — 
die Unerkennbarkeit der cpvoei dyadd. Auch die von den Sophisten 
angefahrten Verschiedenheiten ethischer Bewertungsweise nach Volkem 
und Landern spielt in der Skepsis eine grofie Rolle — wird aber nicht 
zur Festlegung des Gegensatzes zwischen natQrlichem und positivem 
Recht , sondem wiederum far die Unerkennbarkeit der Werte verwendet. 
(Vgl. S. 90). 

41) Kreibig, Geschichte und Kritik des ethischen Skeptizismus, 
Wien 1896, zahlt alles, was einen „moralfeindlichen Zug“ enthalt', zur 
ethischen Skepsis (S. 32). Aber selbst die Negation aller moralischen 
Werte, gewifi der Gipfel der Moralfeindlichkeit, ist so wenig wie der 
erkenntnistheoretische Idealism us, der alle materielle Wirklichkeit leugnet, 
— Skeptizismus, sondem negativer Dogmatismus, vgl. S. VIII. 

42) Sextus, adv. Math. VII, 60 (vgl. 389): hid <prjoi ndaag 
tdg gpavzaolag xal xdg 36£ag &X Yj&eig v7tdQ%eiv. Und zwar meinte 



3io 


Anmeikangen xnm enten Kipitel 


dies Protagoras, wenn wir Sextos, P. I, 218/219, giauben dflrfen, nicht 
nur wegen seiner erkenntnistheoretischen Skepsis, sondem auch wegen 
seines metaphysischen Dogmatismus, mit dem er an der Herakliteischen 
These von der Identitat aller Gegensatze in der Urwirklichkeit festhielt 

43) Es wflrde sich also des Gorgias Meinung mit deijenigen decken. 
die Sextus P. I, 3; 226 der akademischen Skepsis unterschiebt 

44) Sextus, P. I, 3. 

45) In welchem Umfange, ob so dogma tisch, wie es der termino- 
logisch verdachtige Bericht des Sextus (P. I, 218/19) glaubhaft madien 
will, lafit sich allerdings nicht sicher entscheiden. Vgl. Natorp 
a. o. O: S. 22/23, 57/58 , 86. Dieser macht mit Recht auf die Dif- 
ferenzen zwischen den Berichten P. I, 218/19 und adv. Math. VII, 60 H 
aufmerksam; er schenkt letzterem als reinem Referat der protagoreisdien 
Ansicht unbedingten Giauben, wahrend er die Partien der Hypotyposen, 
die von der Absicht getragen sind, die Differenzen zwischen Protagoras 
und den Skeptikem zu beleuchten f fllr die Wiedergabe einer peripa- 
tetischen Konstruktion der protagoreischen Lehre anspricht Mir scheint 
aber vom protagoreischen Standpunkt M. VII, 60 ff. zu skeptisch und 
P. I, 218/19 zu dogmatisch gehalten. Liefie sich nachweisen, dafi M.VIL 
6off. ein wirklich unparteiischer Bericht protagoreischer Satze sei, so 
ware allerdings Protagoras in noch weit hdherem Grad ein Voriaufer 
der Skepsis als man gewfthnlich annimmt Denn die Beweise von der 
UnmGglichkeit eines Kriteriums kehren fast mit den gleichen Worten in 
den zehn skeptischen Tropen wieder. Dies 1 st eben auch die Meinung 
Natorps. 

46) Das Verhaltnis der Sophistik zur Skepsis ist sehr verschieden 
beurteilt worden und beddrfte noch genauerer Untersuchung. Dabei 
mQfite streng auf die Gesichtspunkte, unter denen man das Problem 
behandelt, und die in den vorhandenen Darstellungen teils unklar durch- 
einanderfliefien, teils zu einseitig gehandhabt worden sind, aufmerksam ge- 
macht werden. Man hatte in dieser Beziehung zu unterscheiden zwischen: 

1. der skeptischen Richtung der Sophistik als Gesamtbewegung. Hier 
wird man Gomperz zugeben mfissen, dafi von einem einheitlichen 
philosophischen Credo der gesamten Bewegung nicht die Rede sein kann. 
Dafi die Sophisten aber als Popularphilosophen der Majoritat nach 
den Stimmungskeptizismus beforderten, sollte man nicht in Ab- 
rede stellen. 

2. der skeptischen Richtung der einzelnen Sophisten. 

Bei diesen sind wiederum getrennt zu behandeln: 
a) die theoretischen Ergebnisse. Hier henscht in der Erkenntnis- 
theorie zumal eine gewaltige Ahnlichkeit zwischen den Lehren 
Aenesidems und denen des Protagoras und zwar sowohl was das Zu- 
standekommen als auch was die Giltigkeit der Erkenntnis anlangt (vgl 



Anmerkungen zum ersten Kapitel. 


311 


Natorp a. a. 0 . und Windelband, Geschichte der alten Philosophic, 
2 . Aufl. Mflnchen 1894, S. 306/7). — In der Ethik ist der 
moralische Anarchismus eines Kallikles u. a. nicht mit der ethi- 
schen Skepsis eines Pyrrho zu verwechseln. — Dagegen kann 
ich zwischen dem dogmatischen Negativismus, der die MOglichkeit 
jeder Erkenntnis leugnet und die Wahrheit aller Qbrigen Behaup- 
tungen bezweifelt, und der skeptischen Unentschiedenheit , welche 
auch die MOglichkeit jeder Erkenntnis nur bezweifelt, keinen 
fundamentalen Unterschied erblicken. Dies tut z. B. Saisset (Le 
scepticisme, Paris 1865, S. 58 ff.), der daher auch die akademische 
Skepsis der Sophistik n&her rttckt und sie gar nicht als eigentliche 
Skepsis gelten lassen will. 

b) die methodische Begrttndung dieser Eigebnisse. Sie fallt bei 
den Sophisten sehr mager, bei den Skeptikem sehr ergiebig aus. 

c) die geistigen Motive dieser Eigebnisse. Sie sind bei der Sophistik 
und dem Pyrrhonismus ganz verschieden; hier ethische, dort 
dialektische. (Feinsinnig weist Brochard [a. a. O. S. 46] auf die 
Aktivit&t und das Jugendliche in der Sophistik, das Made und 
Greisenhafte im Pyrrhonismus hin, und Maccoll, The Greek 
Sceptics, London 1869, S. 17 bemerkt in ahnlichem Sinne, dafi 
die Sophisten Skeptiker waren nicht wie die Pyrrhoniker „from 
love of hapiness but from love of truth"). Dagegen steht die 
akademische Skepsis in den Motiven der Sophistik ziemlich 
nahe. Wunderbar ist, dafi Zeller, obwohl er die Skepsis der 
Sophisten verschiedentlich behandelt (a. a. O. I b , 1087/88, 1104, 
1 126 if.), unter den EnstehungsgrOnden und Ankntlpfungspunkten 
der Skepsis die Sophistik nicht einmal dem Namen nach erwahnt 
(a. a. O. Ill*, 3. Aufl. 1880, S. 478 flf.). 

47) Aristoteles, Met. XIII, 4. 

48) Cicero, Acad. pr. 23, 74. post 4, 16. 

49) Xenophon, Memor. I, 1, 11; Aristoteles, Metaph. I, 6. 

50) Plato, Apologie 2 1 B ff. 

51) Auch die vorwiegend ethischen Schulen der Cyniker und Cyre- 
naiker vereinigen einen moralischen Dogmatismus mit skeptischen Ele- 
menten in der Erkenntnistheorie (diese sind zusammengestellt bei Brochard, 
a. a. O. S. 26 ff.). Den Unterschied von Pyrrhonismus und cyrenaischem 
Ph&nomenalismus gibt treffend an Sextus, P. I, 215. 

52) Diog. II, 108. 

53) Einige Bemerkungen terminologischer Natur mOgen hier ihre 
Stelle fmden: der Ausdruck Spiritualismus wird in dieser Schrift die 
metaphysische Ansicht: das Wesen der Welt sei geistiger Natur, be- 
zeichnen; der Terminus Idealismus die erkenntnistheoretische An- 



312 


Amnerkungen ran enten Kapitel. 


schauung: die folschlich sogenannten „auBeren“ Objekte gingen in Ideen, 
in Vorstellungen eines BewuBtseins restlos auf. Man tut gut, beide 
Auffassungen, die in der Geschichte der Philosophic getrennt wie ver- 
eint auftreten, zur Venneidung von Miflverstandnissen auch tenninologisch 
einzeln kenntlich zu machen. Das metaphysische Gegenstdck zum 
Spiritualismus ist der Materialismus, fhr den der Stoff das Wesen aQes 
Seienden ausmacht Der erkenntnistheoretische Gegenpol zum Idealis- 
mus ist der Realismus, fdr den die vorgestellten Dinge auch unabhangig 
vom BewuBtsein Wirklichkeit besitzen. Materialismus und Spiritualismus 
gleich entgegengesetzt und verwandt ist der Spiritual- Materialismus, 
nach dem geistige und stoffliche Prinzipien gemeinsam das Weltwesen 
konstituieren. (Letztere Anschauung wird gewGhnlich als Realismus be- 
zeichnet Da dieser Terminus aber schon in erkenntnistheoretischer Be- 
ziehung veigeben ist und dberdies eine terminologische petitio principii 
bedeutet — denn er setzt voraus, daB allein wahrhaft wirklich nur das 
Geistig- Kdrperliche sei und es daher xaz* l£o%ipr ,reaT heiBen ddrfe — 
sehen wir in dieser Arbeit von ihr ab.) Dem erkenntnistheoretischen 
Idealismus wie Realismus gleich entgegengesetzt und verwandt ist der 
Ideal -Realismus, der gewisse Eigenschaften der vorgestellten Gegenstande 
fdr rein ideal, andere fdr ideal und real erkl&rt Feinere Unteischiede 
in der Art der Verteilung der Elemente mOgen durch ihre Stellung in der 
Zusammensetzung (Spiritual -Materialismus, Material -Spiritualismus, Ideal - 
Realismus, Real -Idealismus) kenntlich gemacht werden. 


54) Und fdr rein historische oder philologische Zwecke auch ge- 
boten ist. In dieser Weise behandelt nicht nur selbstverst&ndlich jede 
Geschichte der Philosophic, sondem auch Brochard in dem angefdhrten 
Werke den griechischen Skeptizismus. Staudlin versucht einen Mittelweg, 
indem er bei der Besprechung der Anschauungen des Sextus unter- 
nimmt, eine Gesamtdarstellung des „Geists des Pyrrhonismus “ zu geben 
(a. a. O. I, S. 387 ff.); diese Darstellung aber besteht nur in einer fdr die 
damalige Zeit dbrigens durchaus verdienstvollen Obersetzung ausgewahlter 
Abschnitte aus den Hypotyposen und den Bdchem gegen die Mathe- 
matiker. 

55) Nicht einmal fdr die Hauptlehren der skeptischen Philosophic, 
wie die zehn mid die fdnf Tropen, kann mit absoluter Gewifiheit ein 
bestimmter Autor angefdhrt werden, geschweige denn fdr die FQlle ein- 
zelner Lehren, die nicht so bekannte Schau- und Paradestdcke waren. 
Alles, was davon sich in des Sextus Schriften findet und nicht mit iigend 
einer Wahrscheinlichkeit auf einzelne Denker zurdckzufdhren ist — und 
dieser Rest ist grofi — , sehen sich die chronologischen Darstellungen 



Anmerkungen ram ersten Kapitel. 


313 


genStigt, dem Sextus zuzuschieben oder doch bei der Besprechung von 
dessen Arbeiten anzubringen. 

56) Abgesehen da von, dafi Berufenere dies Qbemommen haben 
und Obemehmen mOgen, birgt diese philologische Detailbearbeitung eine 
wirkliche Gefahr fdr den philosophischen Ertrag. Man vergr&bt sich in 
das Wurzelwerk eines Waldes und verliert den Blick fiQx die Art und 
den Wuchs der Baume selbst, die nur in einer gewissen Distanz sich 
uns klar und deutlich zeigen kOnnen. 

57) Diog. IX, 61. Nach Pausanias (VI, 2 4, 5) war er der Sohn 
des Pistokrates. Unsre Hauptquellen ffcr Pyrrhons Leben bleiben die 
Angaben des Antigonos von Kaiystos, der, ein Zeitgenosse Pyrrhos 
(Eusebius, praep. evang. XIV, 18, 26), eine Biographie Pyrrhos verfafit 
hatte (Diog. IX, 62), bei Diogenes. Von Wilamowitz - MOllendorf (Philol. 
Untersuchungen, Berlin 1881, IV, 34) halt gegen Hirzel (a. a. O. S. i8f.) 
und mit Brochard an dem hohen geschichtlichen Wert dieser Zeug- 
nisse fest 

58) Seine Blflte kann nicht vor 321, dem Todesjahr des Aristoteles 
fallen; denn Aristoteles, der sich bis kurz vor seinem Tode tlber alle 
philosophischen Erscheinungen auf dem Laufenden hielt, weifi von Pyrrho 
und dem Skeptizismus noch nichts. Diesen Umstand hebt auch Wad- 
dington (Pyrrhon et le Pyrrhonisme, Paris 1877) hervor und verlegt 
die Blflte Pyrrhos daher auf 315(310) — 300(290) v. Chr. Im flbrigen 
variieren die Angaben der Historiker und Philologen auf diesem Punkte 
nicht nennenswert. 

59) Diog. IX, 62. 

60) Diog. IX, 62. 

61) Suidas (Hcoxgdtrjg) nach Waddington a. a. O. vgl. dagegen 
Brochard a. a. O. S. 52 2 . 

62) Diog. IX, 61. 

63) Zeller a. a. O. Ill*, S. 481 1 und II*, 3. Aufl. 1875, S. 2 13 8 
weist auf die chronologischen Schwierigkeiten in den obigen Angaben hin, 
lost sie aber anders wie Brochard a. a. O. S. 52 lunda . Da Bryso nach 
Diog. der Sohn Stilpos, Stilpo aber sicher jflnger als Pyrrho war, ist ent- 
weder Pyrrho nicht Schfller Brysos (wie Zeller meint), odei Bryso nicht 
der Sohn Stilpos gewesen (was Brochard annimmt). 

64) Diog. IX, 67; Euseb. praep. evang. XIV, 18, 27. 

65) Euseb. praep. evang. XIV, 17, 10; Diog. IX, 61, 63, 67. 

66) oben Anmkg. 26. Dafi das Beispiel Anaxarchs auf Pyrrho 
stark gewirkt haben mflsse, betont besonders Waddington a. a. O. S. 425. 

67) Diog. IX, 61. 

68) Waddington mifit aufier dem Tode Anaxarchs und des Calamus 
dem Anblick der indischen Asketen grofien Einflufi auf die Bildung 
des pyrrhonischen Ideals der draga£<a zu (a. a. O. S. 423 ff.). Ihm tritt 



314 


Anmerkungen zum enten KapiteL 


Brochard (a. a. 0 . S. 45, 74, 75) bei; Zeller (a« a. O. Ill*, S. 481) be* 
streitet diesen EinfluB; ebenso Staudlin (a. a. 0 . 1 , S. 175). Solche Fiagen 
sind natOrlich nur ganz vermutungsweise entscheidbar, da man weder 
fiber den Grad, in welchem Pyrrho seine Lehre (oder seine Stumming) 
schon ausgebildet hatte, noch tlber die ResonanzeigentQmlichkeiten seiner 
Individualitat unterrichtet ist — Auch die Reisen Pyrrhos hat man 
(Brochard a. a. O. S. 42 : les voyages sont une ecole de scepticisme) in 
Anspruch genommen und infolgedessen Pyrrho mit Descartes in Paialleie 
gesetzt (Saisset a. a. O. S. 50, Brochard a. a. O. S. 42), auch die Gfiltig- 
keit dieser Parallele bestritten (Maccoll a. a. O. S. 20). Beides mit Recht, 
insofem neben den Berilhrungspunkten in den Situationen und einzelnen 
erkenntnistheoretischen Ansichten die grOBte Verschiedenheit zwischen 
den PersGnlichkeiten und in der Verwendung dieser Ansichten besteht. 

69) Diog. IX, 64. 

70) Diog. IX, 65. 

71) Pausanias VI, 24, 4. 

72) Diog. IX, 64. 

73) Euseb. praep. evang. XIV, 18, 2; Diog. IX, 102; Sextus, adv. 
Math. I, 282 erwahnt ein Lobgedicht auf Alexander, das Pyrrho zum 
Verfasser gehabt habe. 

74) Im folgenden leitet mich die Absicht, wie die Quellennach- 
weise zeigen, wirklich nur Pyrrho selbst zugeschriebene Satze als seine 
Lehre vorzutragen. Das gleiche Prinzip ist for die Lehre der anderen 
Skeptiker befolgt worden. 

75) Euseb. praep. evang. XIV, 18,2: 6 Si fiaihjTTjg atrtov Ti/juov 
(prjal Seiv xdv /xiXXovxa Evdai/uovrjoeiv elg xgia xavxa pXhuar ngdnov 
pkv, india nicpvxe xa ngdy/xara • Ssvxsgov Si, xlva XQV ^Qdnov f}/*ag 
ngdg atrtd Siaxda&ar xelevtatov Si xl nsgiiotai x dig ovxcog £;govcMr. 
Wenn auch die Formulierung dieser Fragen eventuell auf Timon zuriick- 
geht, so doch der Inhalt ihrer Beantwortung sicher auf Pyrrho. 

76) Diog. IX, 61: oidhv yag iqpaoxsv o&xe xaXor oih’ aloyjgbv 
o&xe Slxaior ofx’ tidixov xal djuoicog bti ndvxcov /jtqdir drat dXq&ria 
vdfjup Si xal i&ei ndvxa xavg dv&gwnovg ngdxxav ov ydg /idlior 
x 6 Se 1 } x 6 de elrai Sxaoxov. 

77) Aristokles bei Eusebius, praep. evang. XIV, 18, 3 heiftt es, 
allerdings im Sinne Timons: f*rjxe xdg alo&rjoeig fjp&v /itjxe xdg S 6 £ag 
dXq&evsiv f) tpevdeo&ai. Derselbe Gedanke als Ilvggdrveiog XSyog Diog. 
IX, 78. 

78) So fasse ich (mit Zeller) die Stelle Diog. IX, 106: xal Airs- 
oidq/iog .... oidb (prjoiv dgiteiv x dr Ilvggcora Soy/xaxtx&g did r/;v 
dvxiXoylar. Vgl. IX, 78: iaxir ovv 6 Ilvggibveiog Xdyog /jdjwoig xig xajr 
qpairofiivcor fj x&r Sncooovv roov/xivcDV, xa ft* f)r ndvxa ndoi ov/*- 



Anmerkungen zum ersten Kapitel. 3*5 

pdXlezai xal ovyxgtvdpeva noHLrjv dvcofjiaUav xal tagaxfjv fyovza t&- 
gtoxezat, xa&d (prjotv AtveoUhtfiog. 

79) Diog. IX, 61 heifit es von Pyrrho: tb xfjg dxazaArjrplag xal 
bioxfjg eTdog eloayaycbv, 

80) Diog. XI, 106: xal Alveoibrjpog .... obdb (prjoiv 6qI£eiv 
xbv UvQQtova doyfjumx&g did t ijv dvxiXoySav' xotg dl tpatvoftivoig 
dxoAovdetv. 

81) Diog. IX, 68 soil Pyrrho (nach Posidonius) w&hrend eines 
Sturmes auf dem Meere in der allgemeinen Angst auf ein ruhig seine 
Nahrung fressendes Schwein gezeigt haben mit dem Zusatz: c bg XQV T ° v 
ooxpbv iv xotavxfj xa&eoxdvat dxaQa£lq. Diog. IX, 66 (nach Eratosthenes): 
Xiyezai dl xal d£A<paxa lovetv avxbg in' ddtatpoglag. xal x°^y° a S 
xi vtzIq x fjg ddekqnjg, <Pdloxa d 9 Ixakeho, ngbg xbv btdafldfievov ebtetv 
d>g ovx Iv yvvaicp 1} bitdeiiig xfjg ddtacpogiag. Cicero, Acad. pr. 
130: huic (Aristoni) summum bonum est in his rebus neutram in partem 
moveri, quae ddiatpogia ab ipso didtur; Pyrrho autem ea ne sentire 
quidem sapientem, quae dnd&eta nominatur. Hirzel (a. a. O. S. 15 *) 
legt Wert darauf, dafi die dxaga(la das ursprOngliche Ideal des Skep- 
tikers gewesen sei, die dnd&eta und dduupogla aber erst von Bench t- 
erstattem gewSLhlte Ausdrilcke fflr dieses Ideal seien. Dagegen Brochard 
a. a. O. S. 58/59 undPohlenz: das Lebensziel derSkeptiker, Hermes XXXIX. 

82) Vgl. die Verse Timons auf Pyrrho am Ende des ersten Buchs 
der Sillen. 

83) Auch dafi sich das Handeln, nicht nur das Urteilen, nach 

den Erscheinungen zu richten habe, ist von Pyrrho selbst bereits gelehrt 
worden; beides liegt in dem dxolov&etv xotg tpaivoftivotg. Das 
beweist auch der von Diogenes IX, 105 angezogene Vers Timons: dlla 
to qxuvdptevov navxl odSvei, ovntg &v Ihn fahrt Diogenes zur 

Illustration dafflr an, dafi Pyrrho (den ich mit Zeller als Subjekt des 
Satzes eig&nze) jufj IxfiefSrjxbai xrjv ovvfj&etav, wobei nach dem Zu- 
sammenhang unter ovvfj&eta nur: das Gegenteil von paradoxem Urteilen 
verstanden werden kann. Sextus, adv. Math. VII, 30 erklart den gleichen 
Vers aber ausdrOcklich dahin, dafi die Erscheinung das Kriterium fdr das 
Handeln sei. Beide treffen gewifi das Richtige; vgl. auch Diog. IX, 62. 
Atveoldrjfiog di <pr\ot (piXooocpeiv juiv avxbv (nflmlich Pyrrho) xaxd xbv 
xfjg bioxfjg X 6 yov , pi) fjtivxot y 9 dngoogdxcog Ixaoxa ngdxxetv. 

84) Nach Numenius soil Pyrrho dogmatische Ansichten geflufiert 
haben. Vgl dazu: Hirzel a. a. O. S. 40 — 45. Sehr geistvoll erOrtert 
Brochard (a. a. O. S. 59 ff.) die dogmatischen Ztlge in Pyrrhos Weltbild, 
die aus Ciceros Berichten und den Timonischen Versen (bei Sextus, 
adv. Math. XI, 20) sich ergeben. So Qberzeugend er daraus die An- 
sicht entwickelt, dafi wesentlich positiv-praktische Motive Pyrrhos 


Amnerkungen cum ersten KapiteL 


316 

Lehre hervorgetrieben haben, so glaube ich doch mit Hirzel (a. a. O. 
S. 46 ff.) gegen Natorp (a. a. O. S. 292), dem Brochard beitritt, dafi sich 
die scheinbar theoretischen Widersprflche in dieser Lehre durch die Unter- 
scheidung von Phanomenen und Dingen (Werten) an sich l5sen lassen. 
Denn fiber das ganze Gebiet der ersteren gab auch Pyrrho positive Ur- 
teile ab, die er als , wahre * bezeichnen konnte. Die betreffenden Verse 
(aus Timons Ivdakfxoi) lauten: 

f] yog lyaw Igia), fJLOi xaxa<pabrezai dvai, 

[xv&ov dXtj&eltjs dg&dv xavdva, 

<hg fj t ov ftelov re <pvo ig xal rdya&ov alet, 

If &v ladrarog ylvezat dvdgl (Hog. 

Den schwierigen dritten Vers macht Natorp durch ein zu ergfinzendes 
fyu verstandlich (a. a. O. S. 292), das Borchard (der Natorp wiederzu- 
geben glaubt, ihm aber dabei ffir eine Ergfinzung eine Konjektur unter- 
schiebt) direkt ffir aid einsetzt. Die Verse lauten also in der Ober- 
setzung: ich werde dir sagen, wie es sich mir zu verhalten scheint, indem 
ich als gewisse Richtschnur eine Rede der Wahrheit besitze, wie die Natur 
des GOttlichen und Guten ewig beschaffen ist, woraus dem Menschen 
das hfichste GleichmaB des Lebens erwfichst. 

85) Diog. IX, 64. 

86) Diog. IX, 66. 

87) Diog. IX, 63. 

88) Diog. IX, 68. 

89) Diog. IX, 63. 

90) Diog. IX, 67. 

91) Weitere Zfige Diog. IX, 62. 63. 66. Die Ffille, in denen 
Pyrrho den Gleichmut nicht bewahrte, sind bei Eusebius, praep. evang. 
XIV, 1 8, 26 gesammelt — als Widerlegung der skeptischen Theorie! 

92) Diog. IX, 67. Ebenda noch andre Lieblings verse. 

93) Mit grofier Eindringlichkeit und Oberzeugungskraft vertritt diese 
Auffassung Brochard, der sie in die Worte zusammenfafit: c’est plus tard, 
que la formule du scepticisme fut: que sais-je? le dernier mot du pyrrho* 
nisme primitif c’etait: Tout m’est 6gal (a. a. O. S. 68). Vgl. daselbst die 
glfinzende Schilderung der Persfinlichkeit Pyrrhos S. 72/73; auch die prfich- 
tige Charakteristik Pyrrhos bei Nietzsche, Werke, Bd. XIV, S. 242. 

94) Diog. IX, 69 wird Pyrrho nolefurbiarog rots ooqxaraTg genannt; 
IX, 65 besingt Timon Pyrrho in den Versen: 

<b yigov, & Ilvggwv, n&s fj nd&ev Ixdvoiv evges 
largely g do(&v [is] xeveo<pgoovvr]s re ootpunwv; 

95) Diog. IX, 68, 69. 

96) Diog. IX, 64, sein Ausspruch: man mfisse die Geisteshaltung 
Pyrrhos, aber seine eigenen Lehren befolgen. 



Anmerkungen zum ersten K&pitel. 


317 


97) Auch fiber sein Leben verdanken wir die naheren Angaben 
seinem Biographen Antigonus Carystius. Dieser hatte sowohl eine Bio- 
graphic Pyrrhos wie Timons verfafit (Diog. IX, hi). 

98) Diog. IX, 109. 

99) Diog. IX, 109. Dies bestreitet Wachsmuth (a. a. O. S. 5) und 
Ritter- Prdler (Hist phiL Graec. et Rom., 6. Aufl., S. 357); Zeller (a. a. O. 
III a , S. 482) und Brochard (a. a. O. S. 79/80) halten es wohl for mfiglich. 

100) Diog. IX, 1 12. Andre Anhaltspunkte zur Berechnung seiner 
Lebenszeit: Brochard a. a. O. S. 79. 

101) Diog. IX, 109. Eusebius, praep. evang. XIV, 18, 15. 

102) Wachsmuth a. a. O. S. 4. 

103) Eusebius, praep. evang. XIV, 18, 15. 

104) Diog. IX, no. 

105) Diog. IX, no. 

106) Diog. IX, 109: lajQixtjv ldida£e. Wachsmuth (a. a. O. S. 5) 
spricht diese Vermutung aus; Zeller (a. a. O. III s , S. 484 1 ) bezweifelt 
ihre Richtigkeit Auch Brochard (a. a. O. S. 80 l ) glaubt, daB ldlda£e 
in diesem Falle nicht: er lehrte ihm die Medizin, sondem: er liefi ihn 
Medizin lernen bedeute. Dagegen tritt Hirzel, dessen eigene Ansicht 
vom naturwissenschaftlichen Ursprung des Pyrrhonismus durch Wachs- 
muths AufFassung bestatigt wird, derselben bei (a. a. O. S. 22 1 ). 

107) Diog. IX, 112. 

108) Diog. IX, 114; vgl. 113. 

109) Diog. IX, 112. 

no) Diog. IX, 112. 

in) Diog. IX, no; dagegen Wachsmuth a. a. O. S. 8. 

112) Diog. IX, no. 

113) Diog. IX, 65; Sextus, adv. Math. XI, 20. Nach Wachsmuth 
(a. a. O. S. 1 1), dem Brochard (a. a. O. S. 85/86) folgt, bedeutet IvdaXfAol 
(Voxstellungen): in dem Titel der Timonischen Schrift: die Wahngebilde. 
Hirzel glaubt, dafi Timon das Wort dem Sprachschatz Demokrits ent- 
lehnt habe, da es uns sonst nur noch bei Demokrit erhalten sei (a. a. O. 
S. 22), und er deutet nun umgekehrt (a. a. O. S. 51/52 \ 59) die IvdaXfxol 
als diejenigen Vorstellungen, die unser Handeln leiten sollen (also nicht 
als Wahn-, sondern gerade als Wahrgebilde). Daraus schliefit er (S. 62 
bis 64) weiter, dafi Timon Wahrscheinlichkeitsgrade in der ethischen 
Erkenntnis anerkannt und sich daher der mittleren Akademie genfihert 
habe — ein auf der scharfsten Schneide der Gedanken erarbeitetes und 
in Anbetracht der dfirfdgen Dokumente daher aufierst ungewisses Er- 
gebnis. Natorp (a. a. O. S. 289) halt das Wort tvdalpol bei Demokrit 
ffir gleichbedeutend mit etdcoka, bei Timon einfach mit (pavxaaiai. 

1 14) Diog. IX, 115; ebenda und 114: Anekdoten fiber die Begeg- 
nungen zwischen Timon und Arkesilaus. 



Anmerkungen zum ersteo Kapitel. 



1 1 5) Diog. IX, 105. 

1 16) Sextus, adv. Math. Ill, 2. 

1 1 7) Diog. IX, 76; 105. 

1 18) a. a. O. 

1 19) Sextus, adv. Math. I, 53 wird Timon: 6 ftgognjvq? zwr 
IIvqqcdvog I 6ywv genannt Eusebius, praep. evang. XIV, 18, 6 heifk es 
von Timon: IIvQQCova d’ vpvei pdrov. VgL auch die Lobrede Timons 
auf Pyrrho, Diog. IX, 65; Sextus, adv. Math. I, 305. 

120) Von Wilamowitz (a. a. O.) giaubt, daB die Pointe der Verse 
auf eine Ansicht des Numenius gehe. Dagegen Hirzel a. a. O. S. 41. 

1 21) Diog. IX, 76. 

122) Diog. IX, 105: zb pill (so wird mit Zeller a. a. O. HI*, 
S. 485 zu lesen sein) 5u tail ylvxv ob xNhjpi, zb i 9 8zi <pa(rezai 
6poXoy & . 

123) Diog. IX, 105; Sextus adv. Math. VII, 30: djtfd zb <pan>6- 
fievov ndvzvji a&ivei, ovjzsq &v EL&fl. 

124) Diog. IX, 107: ziXog 61 cl oxazxixot qxun zijv btojftv, rj 
oxide zq 6 tiov biaxoloxr&u J} dzaga((a, c 5 c <paotv cl tuqI zbr TXpcova 
xal Alveoldrjpov. Sextus, adv. Math. XI, 164 ist das ethische Ideal 
nach Timon dfpvytjc xal ivalgeiog zu sein; XI, 141 heifit es: ebdatpm 
loxlv b dzagd^QK dtefdyo/v xal, < 5 e fl eyer 6 Hpaiv, Ip Ijavzty 
yaXtjvdnpu xa&eozcog. 

125) Auf dialektische Spuren bei Timon nach Sextus, adv. Math. 
Ill, 2; VI, 66/67; X, 197 macht Natorp (a. a. O. S. 287) aufmerksam; 
Timon bekampft an den betrefienden Stellen die Gftldgkeit der Hypo- 
these und die Teilbarkeit der Zeit Mit Recht hebt Brochard (a. a. 0 . 
S. 88) hervor, dafi, wenn Timon wirklich jede Hypothese abgelehnt hat, 
er der Urheber des zgdnog bnadsuxdg gewesen ist. 

126) Dafi das Motiv der Lehre Timons wesentlich ein praktisches 
Ideal war, zeigt sich auch in der Bemerkung bei Diog. IX, 109, er babe 
seinen Sohn Xanthus als diddo%w zob (ttov zurttckgdassen. 

127) Menodotus lafit sie mit Timon erlGschen und erst mit Ptole- 
maus wieder erbltlhen; Hippobotus und Sotion filhren sie fortlaufend 
weiter (Diog. IX, 115). 

128) Genannt werden als Timons Schiller: Dioskurides, Nikolochus, 
Euphranor, Praylus (der sich angeblich, ohne ein Wort zu verlieren, un- 
schuldig kreuzigen liefi), Timons Sohn Xanthus; in der nachsten Gene- 
ration Euphranors Schiller Eubulus (Diog. IX, 115/116). 

129) Ob dieser Heraklides identisch ist mit dem von Galen er- 
wahnten empirischen Arzt, wie Haas will, ware fQr die F&rbung des 
philosophischen Skeptizismus der damaligen Zeit nicht bedeutungslos. 
Aber nach Zeller (a. a. O. III b , S. 3 1 ) und Brochard (a. a. O. S. 232 ft) 
scheint diese Identification unannehmbar. 


Aomerkuogen zum ersten Kapitel. 


3*9 

130) Bis auf Haas: De philosophorum scepticonun successionibus, 
WArzburg 1875. Diogenes Liste der skeptischen SchulhAupter (nach 
Hippobotus und Sotion bis Eubulus, danach, ohne GewAhrsmAnner zu 
nennen, weitergefilhrt) lAuft zwar von Timon bis Sextus ununterbrochen 
fort, enthAlt aber nicht genug Namen, um die ganze Spanne Zeit zu f Alien. 
Es frAgt sich nun: wo ist die LAcke anzusetzen? Zeller, Brochard u. a. 
meinen: vor Aenesidem resp. Ptolemaeus. Haas (a. a. O.) behauptet: 
nach Aenesidem. Ein nAheres Eingehen auf diese rein philologisch- 
historische Frage wArde die Grenzen unserer Untersuchung Gberschreiteru 
GrAnde und GegengrAnde findet man bei Brochard a. a. O. S. 228ft; 
Zeller a. a. O. III b (4. Auflage. 1903) S. 1 ff.; Haas a. a. O. Kap. VI — XVIL 

13 1) Hirzel (a. a. O. S. 1 1 ) legt Wert darauf, dafi Eubulus ein 
Alexandriner war, PtolemAus aus dem benachbarten Cyrene stammte* 
und schliefit daraus, daB sich nach Timons Tode die Lehre in Alexandria 
im stillen weiter gebildet habe bis auf den gleichfalls daselbst wirkenden 
Aenesidem herab, der es verstand, wieder die allgemeine Aufmerksam- 
keit auf sie zu lenken. Haas, der auch kein ErlOschen des Pyrrhonis- 
mus annimmt, erklArt sich das Fehlen namhafter Vertreter desselben 
zwischen Timon und Aenesidem durch die Verschmelzung der pyrrho- 
nischen mit der akademischen Skepsis (a. a. O. Kap. VI). Schon StAudlin 
(a. a. O. I, S. 289) nahm kein ErlOschen, sondem nur ein Sinken der Sekte 
zwischen Timon und Aenesidem an. 

132) Der entgegengesetzten Ansicht ist Haas a. a. O. Kap. XVII. 

133) Die hauptsAchlichsten Zeugnisse, die fAr seine Lebenszeit in 
Betracht kommen, sind miteinander in Widerspruch. Wer auf ein be- 
stimmtes derselben die Datierung aufbaut, ist gezwungen, sich mit den 
andem mehr oder minder glAcklich abzuhnden. Das ist denn auch der 
Anblick, den uns die modeme Forschung in diesem Problem gewAhrt 
Es mag hier die Anzahl der wichtigsten miteinander streitenden Quellen 
folgen und bei jeder derselben deijenige unter den neueren Forschem 
genannt werden, der von ihr aus seinen Standpunkt wAhlt. 

a) Aristokles bei Eusebius, praep. evang. XIV, 18, 29: fitjbevdg b* 
ImoTQCKpivzos avrebv, d>g el jmrjbh fyivovro t6 naqdnav, Ix&ls 
xal TiQc&rjv Iv *AXe£avbQelq, xfj xai* Afyvmor Alvrjalbrjfidg tic 
&va£o) 7 zvQeiv ffg^aro xbv v&Xov roircov. 

Auf das Ix&hs xal Tcgdnjv und die Lebenszeit des Aristokles 
(2. Jahrhdt n. Chr.) stAtzt Maccoll (a. a. O. S. 69) seine Vermutung, 
Aenesidem habe erst um 130 n. Chr. gelebt Es ist dies die spA- 
teste Datierung seiner Lebenszeit in der Literatur. 

b) Photius, der uns die Inhaltsangabe des Aenesidemschen Haupt- 

werks aufbewahrt hat, berichtet, dafi Aenesidem dies Werk dem 
Akademiker L. Tubero gewidmet habe: yivog /mb Pcofialcp, b 6 £ft 
bi la/mgcp lx JiQoybvcov xal nohuxAg ov rdg w%ovoag 


3 20 


AnmerkuDgen sum ersten KapiieL 


/leudvxi (Pho tius, Bibl. 212). Eine weitere Angabe des Photius 
(ebenda) lautet, dafi zu Aenesidems Zeiten in der Akademie der 
Stoizismus verbreitet gewesen sei: xai ei %Qri r&Afj&ig ebiar Zxoh xoi 
(palvovrcu fiaxdfievot Sx oxxok. Dies Stadium der Akademie be- 
schreibt aber Sextus (P. I, 235) in ahnlichen Wendungen als zur 
Zeit des Antiochus und Philo bestehend. 

Indem man nun unter dem Tubero den gleichnumigen Freund 
Ciceros verstehen zu dQrfen meint und die Datierung dutch die 
flbereinstimm enden Angaben bei Sextus und Photius liber die stoische 
StrOmung in der Akademie gestlltzt sieht, macht man Aenesidem 
zum Zeitgenossen des Antiochus, Philo und Cicero, und setzt seine 
BlQte in die erste Halfte des 1. Jahrhdts. v. Chr. So Haas (a. a. 0 . 
Kap. VI), Natorp (a. a. O. S. 66 ff), Heinze (a. a. O. S. 326), 
Brochard (bei dem ein klares Expose der verschiedenen Meinungen, 
a. a. 0 . S. 242 ff.), v. Arnim (Quellenstudien zu Philo, 1888). Dies 
ware die frUhstmCgliche Lebenszeit Aenesidems. 

c) Im Gegensatz zu den unter b) angeftlhrten Zeugnissen steht die 
Tatsache, daB Cicero den Aenesidem nicht nur nicht erwahnt, 
sondem an zahlreichen Stellen (zusammengestellt bei Zeller a. a. 0 . 
III b , S. 1 6 s ) den Pyrrhonismus filr eine erloschene Sekte erklart 
(Pyrrho, Aristo, Erillus iam diu abiecti, de fin. II, 11, 35). 

Auf den positiven Angaben des Diadochenverzeichnisses bei 
Diogenes (das aber mehrdeutig ist, vgl. oben Anmkg. 130) und den 
negativen unter c) fufiend, halt Zeller auch in der jllngst erschienenen 
Auflage des III. Bds., 2. Heft unter Berllcksichtigung aller inzwischen 
aufgetretenen Einwande daran fest (a. a. O. III b , S. ioff), die Lebens- 
zeit Aenesidems in den Anfang der christlichen Zeitrechnung zu 
setzen. Ebenso Saisset (a. a. O. S. 26 ff.). 

d) Vage und vieldeutig ist der Ausspruch des Sextus (P. I, 36), den 
man gleichfalls zur Bestimmung der Aenesidemschen Lebenszeit in 
Anspruch genommen hat (Haas), dafi die zehn Tropen von den 
&QXai6TeQOi oxettuxoi Qberliefert worden sind. Vgl. P. I, 164: 01 
5 k vec&T £QOi oxemixol nagadidoaot TQdnovg rffg bioxfjg nkni 
Tovode. 

134) Diog. IX, 1 1 6. 

135) Aristokles bei Eusebius, praep. evang. XIV, 18, 29. 

136) Diog. IX, 106. 

137) Diog. IX, 106. 

138) Diog. IX, 78; Eusebius, praep. evang. XIV, 18, n. Ober 
die Identitat oder Nichtidendtat dieses Werks mit einem der vorigen 
sind die Ansichten strittig (vgl Brochard a. a. O. S. 247). 

139) a. a. O. 


Anmerkungen znm enten Keitel. 


321 


140) Wenn wir Pappenheims Konjektur (Die Tropen der griechi- 
schen Skeptiker, S. 24) Aq%wv statt AltjAwr zu lesen, folgen dQrfen. 

1 41) Mit Pappenheim, der (ebenda) vorjoecog statt xivrjoecog liest 

142) Brochard hat (a. a. O. S. 249 ff.) diejenigen skeptischen Lehren 
zusammengestellt , die Aenesidem mit vfilliger Sicherheit zugeschrieben 
werden dfirfen: 

fiber die Kausalitfit: adv. Math. IX, 218 — 227, 
fiber den Wahrheitsbegriff: adv. Math. VII, 40 — 48, 
fiber das Zeichen: adv. Math. VIII, 215 — 235, 
der Kern der zehn Tropen: P. I, 36 ff. 

Aufierdem finden sich daselbst die Ansichten Zellers, Saissets, Natorps, 
Haas’ zusammengestellt, die zum Teil Aenesidems Autorschaft nooh be- 
trfichtlich mehr Lehren aus den Werken des Sextus zuschreiben wollen. 
Besonders weit ist darin Natorp gegangen (a. a. O. Kap. II u. VI). 

143) Aufier Waddington (a. a. O. S. 656) und Saisset (a. a. O. S. 78) 
sind wohl alle neueren Forscher, wie Zeller (a. a. O. III b , S. 29/30), 
Maccoll (a. a. O. S. 70), Brochard (a. a. O. S. 254) darin einig, den Zeug- 
nissen des Diogenes (IX, 78, 87), Sextus (adv. Math. VII, 345), Aristokles 
(Eusebius, praep. evang. XIV, 18, 11) folgend, die zehn resp. neun Tropen 
unter der im Text gegebenen Einschr&nkung Aenesidem zuzuschreiben. 
Die Tropen haben vermutlich in der i 7 iorv 7 icoaig gestanden. 

144) Auch er erkannte nur das qxuvdfievov als Kriterium an (Diog. 
IX, 106), auch er lehrte die bio%rj und das Ideal der Ax aga^la (Diog. 
IX, 107), welches er nach Aristokles (Eusebius, praep. evang. XIV, 18,4) 
ijdovrj genannt haben soil. (Ober den Cyrenaischen Ursprung des Aus- 
drucks vgl. Hirzel a. a. O. S. 107 f., dagegen Natorp (a. a. O. S. 300.) 
Natorp (a. a. O. S. 127 ff.) weist Aenesidem schon im ganzen die empi- 
ristisch - positi vistische Theorie der sp&teren Skeptiker zu. Brochard (a. a. O. 
S. 269) zeigt, dafi, wenn Aenesidem eine solche schon besessen haben 
sollte, was an sich nicht unmfiglich ist, die Quellen uns nicht berechtigen, 
sie ihm zuzuschreiben. Auch fiber den Rationalismus und Sensualismus 
Aenesidems entwickelt Natorp (a. a. O. S. 256 ff.) hfichst geistvolle An- 
sichten, die sich aber auf einen Text stfitzen, als dessen Urheber wenig- 
stens in seinem ganzen Umfange Aenesidem nicht mit Sicherheit zu 
erweisen ist 

145) Ich gebe zun&chst a) die antiken Zeugnisse ffir den Herakli- 
teismus und Dogmatismus des Aenesidem, b) die Stellung der modemen 
Forscher zu dieser Frage. Ein Entscheid ist wohl nach dem vorhandenen 
Material unmfiglich, und wer nicht Fachphilologe ist, soil von L&sungs- 
versuchen abstehen, zu denen selbst den Philologen oft mehr die Lockung, 
seinen Scharfsirm und den Machtbereich seiner Methoden zu erproben, 
als der Trieb nach objektiver Wahrheit verffihrt hat Denn dem letzteren 

Richter, Skeptiiisnuis. 21 


I 


I 

I 

I 

3 22 Anmetfcongen nun crsten Kmpitd. 

1st mit einem offen eingestandenen non liquet mehr gedient als mit fiber- 
1 subtilen Konstruktionen. Welche von den letzteren am ertrQglichsten er- 

scheint, ist oben im Text angegeben. Zur StQtze derselben kOnnte man 
auf eine Parallelerscheinung unsrer Zeit verweisen: Nietzsche, der in 
seiner letzten Periode einem radikalen, erkenntnistheoretischen Skeptizis- 
mus auf biologischer Basis huldigte, und dessen Eigebnisse hiezin den 
Lehren Aenesidems nicht fern stehen, vertrat zu gleicher Zeit eine Meta- 
physik, die durchaus der herakliteischen Weltbetrachtung ihren Inhalt 
entnimmt 

a) a. Sextus, P. I, 210: bid Si <4 negi xbv Alveaidrjfwv ELeyov SSov 

elvai xijv oxenxixijv Aywyijv Ini xijv 'Hgaxlelxeiov <pilo- 
ootplav, StSu TZQorjyurai xov x&vavzia tuqL xb avid widgyav to 
x&vavxla negi xd avxb qxilvecr&cu, xal ol ptr <Zxenxixol qxxbtaSai 
liyovoi xa bavxla negi xd avx6, ol Si 'Hgaxieheioi And xovxov 
xal hd xd indg%uv avxa fA€xig%ovxaL 
fi. Ganz dogmatische Spekulationen, die Aenesidem xard xbv *Hga- 
xletxov angestellt habe, berichtet Sextus: 

adv. Math. X, 216/17: Qber das kGrperliche Wesen und die Tefl- 
barkeit der Zeit, 

adv. Math. X, 233: Qber die Luft als Urwesen, 

„ „ VII, 349/50: Qber die Natur der Seele, 

„ „ IX, 337: Qber die Identitflt und Verschiedenheit des 

Teils im Verhaltnis zum Ganzen. 

y . Andre dogmatisch klingende Aufierungen, die ihm aber nicht direkt 
als Herakliteer zugeschrieben werden: 

adv. Math. X, 38 — 41: Qber die veischiedenen Bewegungsaiten, 
„ „ VIII, 8: Qber die Wahrheit als rd xoxvqk naai 

<patv 6 fieva (holt Natorp a. a. O. S. 79 noch fQr heraklitdsch), 
Tertullian de anima: 25 (vgl. 9, 14. 15): Qber die Entstehung 
der vis animalis im Kinde (nach stoischer Lehre; vgl. Soranus, 
bei Diels, Doxographi graec. 206 f.). 

b) a. Diels (Doxographi graec. 2ioff.) und Zeller (der a.a.O. III b , S.36Q. 

auch in der jQngst erschienenen und auf diesem Punkt Qberarbeiteten 
Auflage bei seiner Ansicht verharrt) meinen: die Anschauungen, in 
denen Aenesidem herakliteisch - stoische Physik vortrage, seien nur 
historische Bench te Aenesidems Qber Heraklit (daher das xard 
xbv ‘HgdxXttxov), nicht Ausdruck der eigenen Meinung Aenesidems, 
und Sextus habe den Aenesidem P. I, 210 in der Bemerkung, dafi 
der Skeptizismus zum Herakliteismus ffthre, mifiverstanden. Gegen 
diese Ansicht spricht haupts&chlich, daB 1. Soran wie Tertullian 
dann dem nflmlichen Irrtum in der Exegese verfallen sein mufiten, 
und dafi 2. Sextus ohne innere GrQnde grober IrrtQmer und MiB- 
verstQndnisse beschuldigt wird. 



Anmerkungen zum ersten Kapitel. 


3*3 

fi, Natorp, der die grdndlichste Untersuchung fiber den Herakliteismus 
Aenesidems angestellt, bietet, nachdem er die Zeller- Dielssche 
Hypothese zurfickgewiesen, folgende Erkl&rung an: 

1. Die dem Aenesidem von Sextus zugeschriebenen herakliteischen 
Lehren stehen in engster logischer Verkettung miteinander (S. 103 
bis ill) und mit dem richtig gedeuteten empirischen Wahrheits- 
begriff Aenesidems (S. 96 — 103), der wieder als positive Kehr- 
seite unmittelbar aus seiner skepdschen GrundQberzeugung er- 
wachst (S. 94). Also wird es sich in der Tat um eine von 
Aenesidem behauptete innere Verwandtschaft zwischen Herakli- 
teismus und Skeptizismus handeln und nicht etwa um eine dog- 
matische und eine skeptische Phase im philosophischen Ent- 
wicklungsgange Aenesidems (S. 112). 

2 . Da andrerseits zuzugeben ist, dafi die herakliteisch-dogmatischen 
AuBerungen Aenesidems unvertrfiglich mit seinem totalen Skep- 
tizismus sind (S. 1 1 2), so bleibt nur der Ausweg, Aenesidem 
habe die ersteren nicht als feste Oberzeugungen , sondem als 
diejenige „Phantasie“ (Hypothese?) vorgetragen, die mit sich 
und den Erscheinungen am meisten im Einklang stehe (S. 87/88, 
1 13); die Befugnis zu solchen Hypothesen lasse sich ungezwungen 
mit den skeptischen Grundsfitzen vereinigen (S. 117 — 119). 

Diese Deutung des Verh&ltnisses, die fibrigens ihr Autor 
selbst nur bescheiden als eine „ Phantasie " (S. 122) bezeichnet, 
hat ihre wunden Stellen in der Entwicklung des Aenesidemschen 
Wahrheitsbegrifis , dem Angelpunkt von 1., und dessen Ver- 
kennung durch Sextus (vgl. Brochard a. a. O. S. 281 ff., der 
aber die Pointe der Natoipschen Ansicht: der Herakliteismus 
Aenesidems sei metaphysische Hypothese, vollkommen fiber- 
sieht), sowie in der 2. zugrunde liegenden Annahme, die zwar 
als eine reizvolle und verffthrerische Ausflucht aus dem Labyrinth 
der Schwierigkeiten , aber fast zu kfihn und willkfirlich erscheint, 
um ganz glaubhaft zu wirken. Doch will man bei dem vor- 
liegenden Problem fiberhaupt zu einer L&sung gelangen, so mufi 
man entweder die Zeugnisse oder die Gedanken pressen. 

Im ganzen mit Natorp einveistanden ist auch Hirzel; 
besonders in der Widerlegung von Zeller- Diels (a. a. O. S. 65 ff.), 
in der Auffassung, dafi Aenesidem seine S&tze nur als <pcu- 
vdfXBvav gefafit habe, und der eng damit zusammenh&ngenden 
von dem empirischen Wahrheitsbegriff Aenesidems (S. 93 — 107); 
die Meinungsverschiedenheiten zwischen Hirzel und Natorp be- 
treffen rein textkritische Einzelfragen (Natorp a. a. O. S. 293 — 299). 
Ahnlich auch v. Amim (a. a. O. S. 45). 

ai* 


A 



324 


Anmerkungen zum ersten Kapitel. 


Wahrend nun Diels und Zeller die Schwierigkeiten durcb 
die Verwerfung der Zeugnisse des Sextus; Natorp und Hirzel 
durch eine komplizierte Ausdeutung und VersOhnung derselben 
zu heben suchen , glauben andre zum nfimlichen Ziel zu ge- 
langen, indem sie aus den herakliteischen und skeptischen Thesen 
Aenesidems nicht verschiedene Seiten des gleichen Weltbiids, 
sondem Bekenntnisse aus verschiedenen Entwicklungsphasen des 
griechischen Denkers herauslesen. 

y. Saisset (a. a. O. S. 204 ff.) glaubt, Aenesidem sei vom Heraklitis- 
mus zum Skeptizismus gelangt, mit der Begrfindung: en general 
c’est une loi de 1’histoire de la philosophic, que le scepticisme s’y 
enchame au sensualisme , comme k un prindpe sa consequence 
inevitable. La conversion du sectateur d’Heraclite au pyrrhonisxne 
universel est un cas particulier de cette loi (S. 206). Die Stelle 
F. I, 210 sieht sich dann Saisset gezwungen, als die BemOhung 
Aenesidems zu deuten, seinen eigenen Meinungswechsel durch die 
Konstruktion eines logischen Bandes zwischen Herakliteismus und 
Skeptizismus schamvoll zu verschleiem (S. 208). Die Phasentheorie 
Saissets trifft mit der Vermutung St&udlins (a. a. O. I, S. 306) 
zusammen. Diese Anschauung hat mit P. I, 210, wo ausdrucklich 
der Skeptizismus als Weg zum Heraklitismus genannt wird, als der 
sch&rfsten Gegeninstanz zu rechnen, und ihre hegelianische Begriin- 
dung „par une loi des mieux etablies de rhistoire" (a. a. O. S. 206) 
befriedigt ebensowenig wie die gezwungene Deutung von P. I, 210. 
Will man also in philosophischen Entwicklungsphasen Aenesidems die 
Ldsung des R&tsels erblicken f so geht man sicherer, mit 
d. Haas (a. a. O. S. 44 f.) und Brochard (a. a. O. S. 28481) die 
herakliteische Periode auf die skeptische folgen zu lassen und so 
mit P. I, 210 in Einklang zu bleiben. Brochard versucht diese 
Entwicklung als eine stetige hinzustellen, bedingt durch die innere 
Verwandtschaft des negativen Dogmatismus Heraklits im Erkenntnis- 
problem und des Skeptizismus. Aber es gelingt ihm doch nur, 
die Verwandtschaft in der Anschauung von der Identity der Gegen- 
sfitze nachzuweisen. Haas h&ngt dagegen Saissets Ansicht an: die 
Konstruktion der inneren Verwandtschaft beider Lehren durch Aene- 
sidem (nach P. I, 210) ist blofi eine Verschleierung des eigenen Ab- 
falls vom Pyrrhonismus durch Dialektik. — Das schwerste Bedenken 
gegen die Phasentheorie ist zweifellos, dafi wir kein einziges posi- 
tives Dokument besitzen, das dieselbe irgend zu stQtzen gedgnet 
ware. Aber freilich leiden die dbrigen Ldsungen dieses Problems 
„du plus difficile de touts les problemes, que soul£ve Hiistoire 
du scepticisme ancien “ (Brochard a. a. O. S. 277) an dem gleichen 
Mangel. Ovikv 5 qI£cq. 



Anmerkungen zum ersten Kapitel. 


325 


146) Oben S. 16. 

147) Diog. IX, 1 16. Von Zeuxis wird ein Werk: n egl dmwv 
Xdycov (Diog. IX, 106) erw&hnt. Ober die Identitat dieser Persdnlich- 
keit mit anderweitig bekannten Mflnnem gleichen Namens, sowie fiber 
das Wenige und philosophisch vOllig Belanglose, das wir von den Qbrigen 
Skeptikem dieser Zeit auBer Agrippa und Sextus wissen, vgl. Zeller a. a. O. 
III b , S. 5 fT. , Brochard a. a. O. S. 236 ff. 309 ff. 

148) Sonst ist von diesem bedeutenden Geist leider nichts aut 
uns gekommen. Diog. IX, 116 nennt ihn nicht in der Liste der Schul- 
hSupter, sondern erwahnt ihn nur als Verfasser der fQnf Tropen (IX, 88), 
sowie als Adressat einer Schrift des Skeptikers Apelles (IX, 106). Seine 
Lebenszeit ist unbekannt Vgl. Zeller a. a. O. III b , S. 8 ; Brochard a. a. O. 
S. 300/301; Hirzel a. a. O. S. 13 1 ff.; Haas a. a. O. S. 84/85. Hirzel 
sieht in der Agrippaschen Richtung einen auf die Vereinigung mit der 
Akademie zusteuemden „Nebenspr6Bling des echten Pyrrhonismus" (a. a. O. 
S. 136). Aber mit Unrecht erblickt er in der Wiederaufnahme der Dia- 
lektik und nicht in der positivistischen Farbung das Wesentliche an der 
Lehre der letzten Pyrrhoniker (S. 130 ff.). 

149) So mit Sicherheit: Menodotus, Theodas, Sextus, Satuminus 
(Diog. IX, 1 16; Galen, Ther. meth. II, 7, nach Brochard a. a. O. S.311). 

1 50) Auch das Verhaltnis der Arzteschulen zur skeptischen Doktrin 
ist als problematisch Gegenstand wissenschaftlicher Kontroverse geworden. 
Soweit die Fragen rein historischer Natur sind — die systematische Ver- 
wandtschaft wird spater zu erdrtem sein — mOgen hier die hauptsach- 
lichen Streitpunkte Erwahnung finden: 

1. Wann beginnt und wer vollzog die Verschmelzung von 
medizinischem Empirismus und Skepsis in den methodo- 
logischen Grundfragen? 

Natorp (a. a. O. S. 154) meint: die Skeptiker hatten weniger 
von den Empirikem, als diese von jenen zu lemen gehabt Denn 
den Begriff der Erfahrung konnte die Skepsis schon bei den Sophisten 
vorfinden, vor allem bei dem Urheber des Erfahrungsbegriffs, bei 
Protagoras (S. 149 ff.). — Brochard (a.a. 0 . S. 313) verharrt mehr 
auf dem Boden der Tatsachen, wenn er Menodotus als denjenigen 
bezeichnet, der zuerst den medizinischen Empirismus mit dem Skep- 
tizismus verbunden hat; Menodotus ist vermutlich die Quelle, die 
Galen bei seiner Darstellung der empirischen Methode benutzt hat 
(in der Schrift: de subfiguratione empirica). Menodotus ist auch 
der erste, der mit vOlliger Sicherheit als Haupt sowohl der empi- 
rischen wie der skeptischen Schule bezeichnet werden kann. 

2. Wie weit berflhren sich skeptische und empiristische Er- 
kenntnistheorie? 



326 


Anmerkungen zum ersten Kapitd. 


Da Menodotus, Theodas und wahrscheinlich auch Sextus Haupter 
beider Schulen waren, so ist schon allein daraus zu entnehmen, dafi 
deren Lehren sich xm wesentlichen gedeckt haben werden. £ine 
nahere Veigleichung (siehe: die klare Entwicklung der methodologi- 
schen Grundsatze der empirischen Arzte nach Galen, de subfiguzatione 
und de seeds bei Brochard a. a. O. S. 364 ff.) bestatigt diese Vermutung 
auch vollkommen. — Daher vertreten Natorp (a. a. O. S. 157) und 
Brochard (a. a. O. S. 374) die Ansicht von der wesentlichen Iden- 
tity der skeptischen mit der empiristischen Methodologie gegen 
Fhilippson (DePhilodemi libro etc., Berlin 1881), der (a.a. 0 . S.52) 
die Skeptiker mit den Empirikem blofi in der Negation zusammen- 
gehen lafit, die positive Seite des Skeptizismus aber verkennt Aller- 
dings hat diese Auffassung einen Text des Sextus halb auf ihrer 
Seite, dessen Erwahnung aber schon hinfiberleitet zu: 

3. Welche Unterschiede bestanden zwischen den zweifellos 
sehr verwandten methodischen und empirischen Arzte- 
schulen, und welche Schule steht in ihren Prinzipien der 
Skepsis naher? 

P. I, 236 ff. nimmt Sextus selber zu der Frage Stellung: d 1 J 
xata ttjv faiQMtjv l/juieigia ij avxrj ion xfj 2 xhpu\ er gibt zu- 
nfichst als Unterschied an: sEteg tj Ijuneigla hedvt] Jiegi Trjs dxaza- 
Itjytfag xojv Adylcov diaf}ef}cuovTat, ovte tj airrf Ion xfj Sxhpu, 
und meint, dafi die methodische Arzteschule, die diese dogmatische 
Vexsicherung fiber die Unerfafibarkeit nicht abgabe, der skeptischen 
Denkweise naher stfinde. Von dieser Frage abgesehen, die keine 
methodologischen Lehren betrifift, welche uns allein bei den natur- 
wissenschaftlichen Richtungen der Zeit interessieren kfinnen, sind 
die methodologischen Prinzipien der Methodiker, die Sextus a. a. 0 . 
erwahnt, und als der Skepsis verwandt bezeichnet, die gleichen wie 
die der Empiriker (Natorp a.a.O. S. 155/56). Obrigens will Sextus, 
der fiber die Originalitat der Skepsis eifersfiditig wacht, auch diese 
Methode nur als die der skeptischen nachststehende, aber nicht 
durchaus mit dieser identische gelten lassen (P. I, 241). Welche 
Finessen der Methodologie nun aufier dem erwahnten Gesichtspunkt 
die Schule der Methodiker von der der Empiriker zugunsten der 
Skeptiker trennten, ist uns bei der vfilligen Unkenntnis fiber die naheren 
Besonderheiten des Method us leider unbekannt 
1 51) So schon Staudlin (a. a. O. I, S. 384), neuerdings Pappenheim 
(Lebensverhaltnisse des Sextus Empiricus, Programm des Kdlner Gym- 
nasiums, Berlin 1875), auch Zeller (a. a. O. III b , S. 10), Oberweg- 
Heinze (a. a. O. S. 327), Brochard (a. a. O. S. 315). Die Hauptanhalts- 
punkte for diese Datierung sind: die Erwahnung des Sextus durch Diogenes 
(IX, 87, 1 16) und die Bemerkung des Sextus (P. I, 65), die Stoiker (die 



Anmerkiugen zum ersten Kmpitel. 


327 


im 3. Jahrhdt. n. Chr. nicht mehr voll mitzfihlten) seien zu seiner Zeit 
die Hauptgegner der Skeptiker gewesen. DaB Galen, dessen Zeitgenosse 
Sextus nach obiger Annahme ist, denselben als Vorstand der empirischen 
Schule nicht erw&hnt, erkl&rt sich vermutlich daraus, dafi Sextus erst 
gegen Ende der Galenschen Wirksamkeit und nach Abfassung von dessen 
Hauptschrifien aufgetreten ist Eine andre Erklfirung daffir gibt Pappen- 
heim (a. a. O. S. 13). Die jfingste Arbeit fiber des Sextus Lebenszeit: 
Vollgraff, la vie de Sextus Empiricus, Revue de Philologie 1902, S. 195ft 
setzt Sextus in Hadrians Regierung. Vollgraffe Grfinde aber haben mich 
nicht fiberzeugt 

152) Adv. Math. I, 246 (vgl. P. I, 152, III, 21 1, 214). Die irrigen 
Angaben des Suidas, der ihn zum Lybier macht und mit Sextus aus 
Ch&ronea identifiziert, haben schon Menagius, Fabricius, Brucker, Stfiudlin 
u. a. zurfickgewiesen. 

153) Athen, Sextus, adv. Math. VIII, 145; P. II, 98; Alexandria, 
adv. Math. X, 15, 95; P. Ill, 221; Rom, P. I, 149, 152, 156. 

154) Sextus, adv. Math. I, 260. 

155) Diog. IX, 1 16; Sextus P. Ill, 120. 

156) Ffir seine Zugehtaigkeit zur empirischen Schule spricht: 

a) Sein Beiname, der aber — siehe Text — auch anders deutbar ist 

b) Das Zeugnis Pseudo-Galen, Isagog. 4. VoL XTV, p. 683, der ihn 
den empirischen Arzten zuzfihlt 

c) Die Obereinstimmung seiner Lehre mit den uns bekannten Grund- 
thesen der Empiriker. 

Gegeil seine Zugehfirigkeit zur empirischen Schule spricht: 

die oben (Anm. 150) angezogene Stelle P. I, 236 ff., wo Sextus eine 
grfiBere V erwandtschaft zwischen methodischer Denkweise und Skepsis 
als zwischen dieser und dem Empirismus behauptet 
Infolge dieser einander widersprechenden Angaben sind denn auch die 
Meinungen der Historiker geteilt: St&udlin (a. a. O. I, S. 386) giaubt trotz 
der grfifieren Obereinstimmung zwischen Methodus und Skepsis, Sextus 
sei empirischer Arzt gewesen; auch Saisset (a. a. O. S. 234/35 1 ), Zeller 
(a, a. O. III b , S. 50 1 ), Brochard (a. a. O. S. 316), Natorp (a. a. O. S. 157) 
halten an seiner Zugehfirigkeit zum Empirismus fest Pappenheim und 
Maccoll (a. a. O. S. 81) neigen mehr der Ansicht zu, Sextus sei metho- 
discher Arzt gewesen. Philippson (a. a. O.) macht darauf aufmerksam, 
dafi Sextus in den Schriften gegen die Logiker dem medizinischen Empi- 
rismus naher . stehe als in den Hypotyposen, in denen er sich von diesem 
Einflufi freier zeige und sich mehr der Schule der Methodiker anschliefie. 
Aber die von Philippson (und Zeller) behauptete Differenz in den An- 
gaben des Sextus (adv. Math. VIII, 191 und P. II f 236) fiber die Un- 
erfafibarkeit der Dinge bei Skeptikem und Empirikem ist nicht aufrecht- 
zuerhalten. Der Widerspruch Ifist sich, wie Natorp mit Recht bemerkt 


I 


328 Anmerknngen zum mien KapiteL 

durch die MOglichkeit : die These, r<k Sdrjla firj xat aiafifidreo&ai sowohl 
phenomenal wie dogmatisch zu verstehen; dieses hat P. I, 236, jenes 
adv. Math. VIII, 19 1 zu geschehen. 

157) Wie fast alles in der Geschichte des griechischen Skeptizis- 
mus, so ist auch die Reihenfolge unter den Werken des Sextus Gegen- 
stand gelehrter Diskussion geworden. Aller W ahrscheinlichkeit nach sind 
die Hypotyposen, auf die sich adv. Math, des dfteren berufen), das frQheste 
der Werke; so auch Zeller (a. a. O. III b , S. 51 Anm.) und Brochard (a.a. 0 . 
S. 318/19) gegen Pappenheim (De Sexti empirid librorum numero et 
ordine, Berlin 1874) und Philippson (a. a. O.). 

1 58) Ober noch andre Titel von Sextus Schriften und deren Iden- 
tity mit den genannten, so wie fiber die verlorenen Werke: iazgocd wro- 
pm/j flora (adv. Math. VII, 202), Ifuuigptd inofinljfiata (adv. Math. 1 , 61), 
jisqI ywx^S (adv. Math. VI, 55, X, 284) vgL Zeller a. a.O. III b , S. 50 ft, 
Brochard a. a. O. S. 319/20. 

159) Sehr treffend Brochard (a. a. O. S. 322): den de moins per- 
sonnel que ce livre: c’est l’oeuvre collective d’une ecole, c’est la somme 
de tout le sceptidsme (vgl. die schfine Charakteristik des Sextus als Histo- 
rikers, Polemikers, Denkers S. 32 1 — 327). Sehr ungerecht beurteOt Saisset 
(a. a. O. S. 226 ff.) die Bedeutung des Sextus. 

160) Zeller (a. a. O. III b , S. 52 Anm.) legt vor ailem auf Aenesidems, 
Brochard (a. a. O. S. 325/26) auf Menodots Werke als Quellen Gewidit 

161) Diog. IX, 1 16. Ober den im Anfang des 2. Jahrhdts. n. Chr. 
lebenden Literaten Favorinus, der sich zum Skeptizismus, man weifi 
nicht recht, ob zum pyrrhonischen oder akademischen, bekannte, ohne dafi 
irgend dn eigener Anteil des Mannes an der AusbHdung dieser Lehren 
sich feststellen lieBe, berichtet ausftlhrlich: Zeller a. a. O. III b S. 76 ff. 

162) Hierauf macht besonders Hirzel (a. a. O. S. 22 ffl) aufinerksam. 

163) Diog. IV, 28; Sextus, P. I, 220 u. a. 

164) Diog. IV, 28. 

1 65) Diog. IV, 44. 

166) Diog.. IV, 61. Die Angabe, dafi seine Blffte (Diog. IV, 45) 
um die 120. Olympiade gefallen sei, ist wohl mit Zeller (a. a. O. Ill*, 
S. 492 Anm.) fQr ein Versehen zu halten. 

167) Diog. IV, 29, 32. Sdne Lehrer waren Autolykus und Hip- 
ponikus. 

168) Diog. IV, 29. 

169) Diog. IV, 29. 

170) Diog. IV, 29. 

1 71) Diog. IV, 30. 

172) Diog. IV, 29. 

173) Dadurch entsteht wiederum ein dunkler Punkt in der Ge- 
schichte des griechischen Skeptizismus. Diog. IV, 33 sagt nur: dUd xai 



Anmerkungen sum ersten KapiteL 


329 


tov IIvQQWva xaxd xivag ItfjXc&xei; auch aus Eusebius, praep. evang. 
XIV, 5,12 geht fiber das tats&chliche Verhaltnis, in dem (nicht die Lehre 
des Arkesilaus, sondem) Arkesilaus selbst zu Pyrrho gestanden hat, nichts 
Bestimmtes hervor. Damit wild der Weg, auf dem Arkesilaus zu seinem 
Skeptizismus gelangt ist, d. h. der Ursprung der akademischen Skepsis 
zum wissenschaftlichen Problem, das durch rein historische Dokumente 
nicht zu ldsen ist Natfirlich sind, wie immer in ahnlichen Fallen, die 
entgegengesetztesten Hypothesen aufgetaucht und in gelehrten Kontro- 
versen hin und her erwogen worden. Sextus, P. I, 232 lafit Arkesilaus 
als Pyrrhoniker erscheinen und auch die fast wOrtliche Gbereinstimmung 
in der Formulierung der gleichen Lehren macht eine Abhangigkeit von 
Pyrrho wahrscheinlich; dagegen ist die Feindschaft des Timon gegen 
Arkesilaus so wie das Schweigen Ciceros tiber jede Verbindung von 
akademischer und pyrrhonischer Skepsis eine starke Gegeninstanz gegen 
die Annahme, Arkesilaus habe in erster Linie sich an Pyrrho ange- 
schlossen. Haas (a. a. O. Kap. XXI) lafit geschichtlich die akademische 
Skepsis lediglich aus dem Pyrrhonismus hervorgehen; dagegen betonen 
Brochard (a. a. O. S. 93 ff.) und Hirzel (a. a. O. S. 22 ft) eindringlich die 
dialektische Richtung der Akademie und der Megariker (gestfitzt auf 
Diog. IV, 33, sowie die Verse des Aristo auf Timon) als eigentliche 
Quelle der arkesilaischen Skepsis: „si Pyrrho n’eut pas exists, la nouvelle 
acad&mie aurait ete k peu pres ce qu’eile a et£“ (Brochard a. a. 0 . S, 97). 
Zeller schlagt einen Mittelweg ein und glaubt nicht, dafi Arkesilaus „ganz 
unabhangig von Pyrrho auf seine Ansichten gekommen sein k6nne“ (a. a. O. 
III a , S. 490 s ). Ober das systematische Verhaltnis beider Richtungen 
weiter unten noch ein paar Worte. 

174) Diog. iy, 32. 

175) IV > 28. 

176) Diog. IV, 37. 

177) Wenn wir uns bei der Charakterisdk der einzelnen Skeptiker 
langer aufhalten, als es der Zweck dieses Buches zu erfordern scheint, 
so ist zu erinnem: dafi gerade in Griechenland die skeptische Philosophic 
ihre tiefste Quelle im Innem der Persftnlichkeiten hat, die sie verktlnden; 
bei Pyrrho in einem gebrochenen Willens- und Geffihlsleben; bei Arkesilaus 
in einer fiberbeweglichen Geistesart Daher fOrdert ein Einblick in das 
Innere der skeptischen Charaktere das Verstandnis filr deren Anteil 
an der Ausbildung und feineren Verf&rbung der Lehre oft mehr als die 
Kenntnis der einen oder der andem These, die ihnen — meist nicht 
einmal einwandfrei — zugeschrieben wird. 

178) Diog. IV, 40. Auch von der Bekanntschaft mit dem FQrsten 
Antigonus (Diog. IV, 39). 

179) Nach Diog. IV, 40, 41 soil er Aristippischen Grundsatzen 
oflfen gehuldigt, mit zwei Hetaren zugleich verkehrt, auch die Knaben- 


A 


330 


Anmerkungen sum enten KapiteL 


liebe gepflegt haben usw. Verheiratet war er nicht (Diog. IV, 43). Dafi 
er im Rausch gestorben sei f berichtet Diog. IV, 45. 

180) Diog. IV, 31. 

181) Proben derselben Diog. IV, 30. 

182) Eine FtiUe davon Diog. IV, 34 — 36. 

183) Cicero, Acad. pr. 6, 16. De Orat. Ill, 18, 67. Dafi er 
mit seiner rhetorischen Begabung Effekte nicht nur erreichte, sondero 
auch suchte, zeigt Diog. IV, 41, der ihn als <ptl6do£og und tpQojlos 
bezeichnet, und in gieicher Weise schildem ihn die Timonischen Verse 
der Sillen. 

184) Numenius bei Eusebius, praep. evang. XIV, 6, 3. 

185) Diog. IV, 37. Vgl. 38; 32. 

186) Diog. VII, 1 7 1. Zur Feindschaft zwischen dem Stoiker Aristo 
und Arkesilaus vgl. Diog. VII, 162/63. 

187) Plutarch, de adulat et amic. XI, 55. In gteichem Sinne 
berichtet auch Diog. IV, 42. 

188) Diog. IV, 32. 

189) Diog. IV, 33. Dabei hielt Arkesilaus viel auf die gefellige 
Form seiner Lehren, ebenda 37. 

190) Cicero, Acad, post 12, 44; Numenius bei Eusebius, praep. 
evang. XIV, 6, 14 schildert anschaulich, wie Arkesilaus infolge seiner 
oben beschriebenen Gaben in dem Kampf mit der schwer&lligen Stoa, 
an deren Wiege die Grazien leider ausgeblieben waren (ij fiovoa yao 
amok 066k t6te jJv <pdoX6yog ovd' tgydue x a Q^ zcov ) stets das 
gewicht hatte. 

19 1) Sextus, adv. Math. VII, 150: of di tuqI t 6 v 'A^xsolAaov 71 got)- 
yovpkvcos fikv oidkv c&Qioav xgiTrjgiov. Die Hauptgrilnde des Arkesilaus 
gegen die stoische Lehre vom Wahrheitskriterium sind: 1. Die qtanaoia 
xazaXrjmtxtj wttrde beim Weisen eine wissenschaftliche Erkenntnis (bu- 
orjjfjiY]), beim Toren aber immer nur ungewisse Meinung (<Jd£a) sein (adv. 
Math. VII, 153). 2. Die <pavxao(a xaxakrjTiTixr} kann unmOglich existieren, 
weil a) die Zustimmung niemals zu einer Vorstellung ((panaoui), sondem 
nur zu einem Urteil (dftoyxa) statt hat; weil b) falsche Vorstellungen 
ebenso Qberzeugend sein kOnnen wie richtige (ebenda). 

192) Cicero, de orat III, 18, 67. 

193) Mit Metrodor (vgl. oben S. n) gegen Sokrates. Cicero, acad. 
post 12, 45: itaque Arcesilas negabat, esse quidquam, quod sciii posset; 
ne illud quidem ipsum, quod Socrates sibi reliquisset 

194) Sextus, adv. Math. VII, 155. 

195) Cicero, acad. pr. 24, 77. 

196) Sextus, adv. Math. VII, 158: <LU’ biA fietd xovto Ida xai 
tuqI xije tov (Mov diedaycoytjg £tyre* v, ijng 06 gcopk 1 xqoi]qIov nbpvxtf 



Anmerkungen zum ersten KapiteL 


331 


dnodldoo&ai, &<p* ov xal fj evdaifiovia, xovxlon xb xov ftfov xiXog, 
jjgrrjfibrjv l%ei xfjv Jiioriv, qnjalv 6 *Agxeotlaog, 8x1 6 negl jzdvxtov 
tni%<Dv xavoviet xdg aigioeig xal tpvydg xal xoiv&g xdg 
ngdgetg xtp eildycp, xaxd xovxd xs TtgoEQzdfievog xb xgtxrjgiov 
xaxogfcboei* xijv fib ydg eddatfiovlav negiylveo&ai did xfjg (pgovrj- 
oecog, tfjv di <pg6ytjaiv xivuo&ai b xolg xaxog&cbfiaoi, xb db xax- 
OQ&cDfia dvat Stieq Jigaydb eGioyov 1%bl xfjv dnokoylav . 6 tiqoo- 

i%€Ov ovv xco evk 6y<p xax ogftcboei xal eddaifiovljoei. Alles 
dreht sich hier um die Frage: was hat Arkesilaus unter dem edl oyov 
verstanden? Zeller (a. a. O. III a , S. 496) meint: die Wahrscheinlichkeit. 
Aber Hirzels scharfsinnige Analyse hat uns die Feinheiten dieses Begriffs 
(a. a. O. S. 1 50 ff.) besser verstehen gelehrt Indem Hirzel, gestfitzt auf 
die stoischen Definitionen (Diog. VII, 75. 76) dem Unterschied zwischen 
dem eSJLoyov und dem m&avdv nachspflrte, zeigt er, dafi beide ganz 
verschiedene Seiten an der „ Wahrscheinlichkeit “ hervorkehren, deren 
Ffirbung in den Motiven , aus denen wir zur Annahme eines Wahr- 
scheinlichen gelangen, ihre Ursache hat. Das m&avdv des Kameades 
nfimlich geht in letzter Linie auf eine aus der Evidenz der sinnlichen 
Wahmehmung geschOpfte Wahrscheinlichkeit (wie der belief Humes?), 
das edioyov des Arkesilaus auf eine aus V emunftgrfinden sich ergebende 
Wahrscheinlichkeit zurflck. Nun ist auch jene rfitselhafte Stelle des 
Nmnenius (bei Eusebius, praep. evang. XIV, 6, 5), wonach Arkesilaus 
das judavdv verworfen habe, und mit welcher Zeller nur fertig wird, in- 
dem er sie als „Mifiverst&ndnis“ hinwegerklfirt, aufgehellt Arkesilaus 
konnte sehr wohl das mftavdv verwerfen und das eSioyov anerkennen. 
Mit Recht schliefit Hirzel aus diesem Merkmal des eCJLoyor und der an 
der oben angezogenen Stelle immer wiederkehrenden <pg6vt)otg auf die 
grofie Rolle der vemfinftigen Erwfigungen in der Skepsis des Arkesilaus 
(a. a. O. S. 38 x ). Damit stimmt besonders gut, dafi Arkesilaus nizgends 
die dxagatla als Lebensziel aufstellt, was ausdrficklich von Sextus, P. 1 , 232 
best&tigt wird. Die sokratisch - platonische Tradition dieser Skepsis, so wie 
die EigentQmlichkeiten in der Geistesart ihres Stifters kommen in diesem 
negativen Zuge besonders trefifend zum Ausdruck. Auch Brochard 
(a. a. 0 . S. 1 10 ff.) teilt die Auffassung Hirzels vom eCJLoyov, schiefit aber 
ganz fiber das Ziel hinaus, wenn er dasselbe als das raisonable (aller- 
dings Unklarheiten bei Hirzel folgend) vom probable vfiUig abrfickt 
Der Gfiltigkeitsgxad des eSXoyov ist: Wahrscheinlichkeit, der Inhalt der- 
selben: Vernunfterwfigungen. Aber das Wesentliche ist doch bei diesem 
Zweifier, der seine Skepsis auf Sinne und Vermmft gleichm&fiig ausdehnte, 
dafi gewisse Vernunfterwfigungen Wahrscheinlichkeit genug erreichen, um 
unser praktisches Handeln auslfisen zu kfinnen. 

197) Ober eine versteckte dogmatische Geheimlehre des Arkesilaus 
liegen uns folgende Zeugnisse vor: 



Anmerkungen za m enten Kapitd. 




332 

1. Cicero spricht Acad. pr. 18, 60 von einer Wahrheit, die von den 
Akademikem als ein Mysterium verboxgen gehalten wfirde: restat 
Olud, quod dicun t, veri inveniundi causa contra omnia did oppor- 
tere et pro omnibus. Volo igitur videre, quid invenerint. Non sole- 
mus, inquit, ostendere. Quae sunt tandem ista mysteria? aut cor 
celatis, quasi turpe aliquid, sententiam vestram? ut, qui audient, 
inquit, ratione potius quam auctoritate ducantur. 

2. Diokles aus Knidus bei Numenius (Eusebius, praep. evang. XIV, t>, 6) 
meint, dafi Arkesilaus nur aus Furcht und um Ruhe zu haben vor 
den Angriffen der Anhflnger des Theodor und Bkm die totale 
Skepsis vertreten habe. Numenius fQgt gleich das Bekenntnis seines 
Unglaubens an diese Legende hinzu. 

3. Augustin, contra acad. Ill, 17, 38 deutet die Skepsis des Aikesflaus 
nur als polemische Taktik gegenflber dem stoisdien Dogmatismus; 
im geheimen habe Arkesilaus den unenthfillten Schatz der alten 
platonischen Weisheit ftkr sich behalten. 

4. Sextus, P. I, 234: d dk del xal role Jiegl avzov leyoperoiz 
yuaxeveiv, qxxolr, 8u xaxd pkv x 6 ngdxeiQov IIvQgwreiog hpahreio 
dvai, xaxd dk xrpr dlrj&etav doyftaxtx&g ijv. xal bid rear hcugcar 
dndneigav 11 Afifiave did trjg dnogrynxtjg el evqnxog fyavot xgog 
tip Avdhjynv xwv Tllaxwrixayr doyfx&xayr, d6£ai avrdv djiogtpnxdw 
dvai, rofe p&vTOi ye ev<pv£oi x&v halgatv xd IHdxcavog stagey^a- 
Qeiv m £r&ev xal t dv ’Agfoxaiva ebtdv neqi avzov 

TiQio&e nidzcov, Sm&ev UvQgayv, piooog Ai6da>gog (derselbe 
Vers: Diog. IV, 33; Eusebius, praep. evang. XIV, 5, 13). 

Von diesen Zeugnissen sind als geschichtliche Dokumente far den Dog* 
matismus des Arkesilaus relativ wertlos Nr. 3 wegen des Eingestandnisses 
Augustins, seine Darstellung beruhe blofi auf eigener Vennutung (vgl 
Hirzel a. a. O. S. 217 ff.); Nr. 2 wegen der inneren U n wahischeinlichkeit 
und dem Dementi des Numenius. Nr. 1 und 4 aber venndgen die gut 
beglaubigten Oberlieferungen, dafi Arkesilaus ein Skeptiker von reinem 
Wasser war, nicht zu erschflttem. Des Sextus Bericht von dem angeb* 
lichen platonischen Dogmatismus stOtzt sich nur auf die willkQrliche und 
gezwungene Deutung des Aristoschen Verses, bei dem das ng6o&e IlUxm 
wohl nur bedeuten wird, dafi er sich mit dem Munde zu Plato bekannte, 
den er bewunderte, und nach dessen Schule er sich nannte (Diog. IV, 32 ff.; 
Hirzel a. a. O. S. 221/22). Ciceros Zeugnis spricht wiederum nur von 
einer Geheimlehre, sagt aber nicht, dafi diese der Platonismus gewesen 
sei. So werden die beiden Zflge der Oberlieferung, dafi die Akademie 
eine Geheimlehre besessen, und dafi Arkesilaus Platoniker gewesen, ur- 
sprQnglich voneinander getrennt gedacht werden mdssen. Jeder Zug fill 
sich ist wohl verstandlich: die Geheimlehre bestand in den positiven 
Elementen des Probabilismus, zu denen man die Schfiler vielleicht nur 



Anmerkungen zum ersten KapiteL 


333 


allmflhlich vordringen liefi. Als Platoniker aber konnten sie erscheinen, 
a) wegen der methodologischen V erwandtschaf t , b) (nicht wegen des 
Platonismus ihrer Skepsis, sondero) wegen der Skepsis des Plato nach da- 
rn aliger Auffassung (Cicero, Acad, post 12, 46). Wie dann aus beiden for 
sich wohl verstandlichen Ztkgen als V erschmelznngsprodukt die Legende 
vom platonischen Dogmatismus als esoterische Geheimlehre erwachsen 
konnte, ist begreiflich. Man wild also mit Zeller (a. a. O. Ill*, S. 495), 
Hirzel (a. a. O. S. 160 s ), Brochard (a. a. O. S. 1 14 ff.) Front machen mfissen 
gegen die Auffrischung derselben durch Geffers (De nova academia etc. 
Gymnasial - Programm , Gottingen 1842, S. i8fif.). 

198) Sextus, P. I, 234. 

199) Ober ihn und die tibrigen Akademiker dieser Zeit vgL Brochard 
a. a. O. S. 120 — 122; Zeller a. a. O. III a , S. 497/98). Bei Diog. IV, 59 
bis 61 erscheint Lakydes voll einander widersprechender Zflge; einmal als 
Trunkenbold (61), dann wieder als strenger, rechtschaffener Mann (59). 

200) Diog. IV, 62; Cicero, Tuscul. IV, 3,5 u. a. 

201) Plutarch, quaest conv. VIII, 1, 2. 

202) Nach den Angaben Apollodors bei Diog. IV, 65, die von 
denen Ciceros, acad. pr. 6, 16 um fdnf Jahre abweichen. 

203) Cicero, Acad. pr. 30, 98. 

204) Diog. IV, 62. 

205) Sextus, P. I, 220. 

206) Cicero, Acad. pr. 45, 137 u. a. 

207) Diog. IV, 64. 

208) Diog. IV, 65. 

209) Diog. IV, 62. 

210) Diog. IV, 62. 63; Numenius bei Eusebius, praep. evang. 
XIV, 8, 9 ff. 

211) Diog. IV, 64. 

212) Ftkr die Erkenntnistheorie des Kameades kommen haupt- 
s&chlich von Ciceros Werken in Betracht: die Acad, pr., fOr die Reli- 
gionsphilosophie: de natura deorum; de fato; de divinatione, fUr die 
Ethik: de finibus bonorum et malorum. Aufierdem geben die religions- 
philosophischen Partien bei Sextus, P. Ill, 2ff; adv. Math. IX, I4ff ver- 
mutlich Kameadische Ansichten wieder. Ober die Aufhebung des Wahr- 
heitskriteriums durch Kameades berichtet Sextus, adv. Math. VII, I59ff; 
401 ff. Ober das W ahrscheinliche als Kriterium adv. Math. VII, i66ff; 
P. I, 227 ff. 

213) Cicero, Acad. pr. 13, 40 ff; Sextus, adv. Math. VII, 400 ff. 

214) Cicero, Acad. pr. 30, 95 ff; Sextus, adv. Math. VII, 4i6ff; 
Cicero, Acad. pr. 29, 92 ff Die Vemunfterkenntnis war aufierdem schon 
durch die sensuale Skepsis fQr Kameades gerichtet, da nach ihm (Sextus, 




334 Anmerkmigen sum enten Kapitel. 

adv. Math. VII, 165) alles Denken seinen Stoff nur aus der Wahmehmung 
empf&ngt. 

21 5) Wie die Darstellung der skeptischen ReligionsphDosophie 
zeigen wird. 

216) Cicero, Acad. pr. 34, 108. 

217) Sextus, adv. Math. VII, 166; Cicero, Acad. pr. 31, 99. 

218) Die Frage ist, ob Kameades, der (Cicero, de fin. V, 6, 16) 
alle znoralphilosophischen Grundpositionen aufe scharfsinnigste entwickelte, 
sich einer derselben zugeneigt babe. Sein Schfiler Klitomachus behauptet 
zwar (Cicero, Acad. pr. 45, 139), die wahre Meinung seines Masters 
hier nicht zu kennen; aber nach andem Angaben soil er (Cicero, Acad, 
pr. 45, 139) den ethischen Prinzipien des Kalliphon, welche (de fin. 
V, 8. 21) die voluptas cum honestate als hOchstes Gut anspiachen, zu- 
gestimmt, oder auch (de fin. II, 1 1, 35) die principia naturalia als hOchstes 
Gut angesehen haben. Eine ausfQhrliche Besprechung der Ethik des 
Kameades geben: Zeller a. a. O. Ill*, S. 517 — 521; Brochard a. a. 0 . 
S. I53ffl; Hirzel a. a. 0 . S. 181 ff. — Ein noch komplizierteres Problem 
rollt Hirzel auf, indem er aus den Quellen einen Widerspmch zwischen 
der Auffassung Metrodors und Philons auf der einen, des Klitomachus 
auf der andem Seite fiber die Kameadische Wahrscheinlichkeitslehre her- 
leitet Danach batten jene diese so aufgefafit, als ob durch den Proba- 
bOismus auch im theoretischen Erkennen ein Bevorzugen gewisser 
Vorstellungen, also ein Meinen erlaubt sei, wahrend die strengere Deutung 
des Klitomachus das m&av 6 v nur ffir das prakdsche Handeln gelten ge- 
lassen und also jede „Meinung“ verworfen habe. Hirzel selbst folgt der 
Auslegung Philos (a. a. O. S. 163 ff.). 

219) Diog. IV, 67: xal dtedi£axo xbv Kagredd tjv xal xd avrov 
ftdXioxa did x&v ovyyga/bi/Mhatv l(pdniaey, Avfjg Ir x die xgiob atgiam 
dumghpag, Sr xe xrji ’Axadtjfjucuxjj xal negutaxtjxixjj xal azafikjj. 

220) Das Nahere gehOrt nicht hierher. Philosophisch sind die 
Nachfolger des Kameades von keinem Interesse. AusfQhrliche Nadi- 
richten fiber sie findet man bei Brochard a.a.O. S. i86ff.; Zeller a. a. 0 . 
Ill* S. 523 ff. 

221) Sextus P. I, 220. Wieweit der dogmatische Eklektizismus 
Philos gegangen sei, ist eine schwierige, aber rein historisch - phflologische 
Streitfrage. Von welcher Art man sich auch Philos Standpunkt des 
Naheren zu denken habe, eine Bereicherung philosophisdier Einsicht 
liefert er nicht Grund genug, an dieser Stelle das Problem nicht an- 
zuschneiden, sondem nur zu bezeichnen. Die Frage ist, ob Philo schon, 
wie Augustin will, dem Zeller (a. a. O. Ill*, S. 594) folgt, den echten 
Platonismus wieder in die Akademie aufgenommen, oder nur in der 
Ethik einen partiellen Dogmatismus stoisierender Art (nadi Hirzel a. a. 0 . 
S. 230 ff.), in der Erkenntnistheorie dagegen blofi geringe Abweidiungen 



Anmerkuugen zum ersten Kapitel. 335 

vom Skeptizismus des Karneades gezeigt habe (ebenda S. 222; Brochard 
a. a. O. S. 192 fif.). 

222) Sextus, P. I, 220. In diesen Angaben fiber die philosophische 
Wirksamkeit des Antiochus stimmen die antiken Zeugnisse und die modemen 
Historiker fiberein. Sextus, P. I, 235 heifit es: dXkd xal 6 y AvTto%og xrjv 
oxodv fAextjyayev elg xijv 9 Axadtjpilav, <bg xal elgrja&at bz* avxcp, Sri 
iv ’Axa&rjpUq. <pdLoo<xpsi xd arcoXxd. bieiehcwe ydg, 8x1 Ttaqd Illdxam 
xetxai xd xwv oxa)Xxdrv ddyjuma, Ganz im Einklang damit Cicero, Acad, 
pr. 43, 132; die scharfen und scharfsinnigen Angriffe des Antiochus auf 
die Skepsis findet man in den Reden des Lucullus. 

223) Aenesidem im 1. Buch der IIvQQc&vetoi idyoi (Photius, Bibl.) 
wirft den Akademikem negativen und positiven Dogmatismus vor, der sie 
mit dem skeptischen Standpunkt in Widerspruch setze. Sextus, P. 1 , 22oflf. 
teilt im wesentlichen die Aenesidemsche Auffassung, die er im einzelnen 
ausffihrt und bereichert; er berichtet, manche h&tten die akademische 
und die pyrrhonische Philosophic ffir die gleiche erkl&rt und halt dieser 
Ansicht seine eigene von dem Unterschied beider Schulen entgegen, 
Diesen Unterschied setzt er: 

a) in den dogmatischen Negativismus der Akademie, die im Gegensatz 
zum Pyrrhonismus die Unerkennbarkeit der Dinge dogmatisch be- 
haupte, 

b) in den doppelten Probabilismus, der Anerkenntnis von wahrschein- 
lichen Einsichten fiber das Reich des Seienden und der Werte, 

c) in den aktiven Glauben der Akademiker an das Wahrscheinliche, 
der passiven Hingabe der Pyrrhoniker an die Erscheinungen, 

d) in die an dem Wahrscheinlichen orientierte Lebensffihrung der Aka* 
demiker, in dem Befolgen der Lebenssitten bei den Pyrrhonikem. 

Aber das alles, meint Sextus (P. I, 232), passe nicht auf den Stifter der 
mittleren Akademie, auf Arkesilaus, der daher den Pyrrhonikern sehr 
verwandt sei: 6 fiivroi *AQxeo(laog, Sv xtjg piofjg 9 Axadrjfi(ag 
l/Liyofiiev elvat nqoaxAxriv xal dq%i jy6v, n&v v fioi doxet xoTg 
IIvQQWvetoig xotvooveiv Idyotg, <bg fitav elvat o%e66v xt]v 
xax' aixbv dyoyi/v xal xijv Ijpexigav. DaB die Unterschiede 
zwischen akademischer und pyrrhonischer Skepsis eine „vetus quaestio et 
a multis scriptoribus graeds tractata u gewesen seien, berichtet Gellius, 
Noct. att XI, 5. 

224) Haas, de phil. scept success. S. 20; fihnlich schon Huet 
und Meiners (bei Stfiudlin a. a. O. I, S. 308); ebenso Hegel (Vorlesungen 
zur Geschichte der Philosophic, Werke XIV, Berlin 1842, S. 483, 455). 

225) Saisset a. a. O. S. 58 ff., der auch auf den Anm. 223) unter 
a) erwfihnten Unterschied das grfifite Gewicht legt (dagegen oben S.XIX/XX). 
Ahnlich wie Saisset urteilt Stfiudlin a. a. O. I, S. 306 ff. 

226) vgl. oben Anm. 173. 



336 


Anmerkungen sum zweiten Kapitel. 


227) Aus diesen Nachwirkungen des getrennten Ureprungs ent- 
wickelt besonders Hirzel die Unterschiede der Schulen; mit ihm stimmt 
im ganzen Brochard (a. a. 0 . S. 381 ff.) Q herein; wenn letzterer aber an 
dem Parallelismus zwischen dem modemen Phanomenalismus Humes und 
der Lehre der Pyrrhoniker, zwischen dem Kritizismus Kants und der Skepsia 
der Akademie die Differenzen der Schulen erlflutert (a. a. O. S. 391/9 2), s.< 
kann ich dabei die erste Vergleichung ebenso rtlcksichtslos unterschreiber, 
wie ich dem Vergleich zwischen Kritizismus und Probabilismus wider- 
sprechen mufi. Die nflhere Begrflndung wird die systematische Dar- 
stellung erbringen. 


Anmerkungen zum zweiten Kapitel. 

1) Sextus Empiricus befolgt in seinen beiden Werken eine andre 
Ordnung: in den Hypotyposen (P. I, 5/6) geht er von der „allgememen 
Besprechung" (xaddXov l 6 yog) aus, die Charakter, Begrifif, Prinzipiea 
Ziel usw. der Skepsis befafit (Buch I), und schreitet im zweiten Teil der 
„besonderen Besprechung" (ei&xAc Idyoc) (Buch II und III) zu der Zer- 
setzung der einzelnen philosophischen Disziplinen (nach damaliger Ein- 
teilung: der Logik, Physik, Ethik) fort In den Bflchem gegen die 
Mathematiker kridsiert er dagegen der Reihe nach die sSmtlichen Wissen- 
schaften seiner Zeit Fttr uns w&ren beide Dispositionen unangebrackt: 
denn sie sind, wie leicht ersichtlich, vom skeptischen Parteiinteresse, seiner 
programmatischen Seite in den H)rpotyposen 9 seiner polemischen in den 
gegen die Mathematiker gerichteten Bdchem verfafit Dagegen gliedem 
die drei Grundfragen Timons die skeptische Philosophic durchaus in 
systematischer Absicht Die Antwort auf die erste Frage b^reift die 
skeptische Erkenntnistheorie, diejenige auf die zweite und dritte Frage 
die praktische Philosophic der Skepsis. Erkenntnistheorie und Ethik 
aber sind die beiden einzigen philosophischen Disziplinen, von denen bei 
den antiken Skeptikem geredet werden kann. 

2) Kr. d. r. V., 2. Aufl. S. 833. 

3) Bei diesem Satze 1 st darauf zu achten, dafi er nur in der vor- 
liegenden Formulierung der Ansicht des griechischen Skeptikers entspricht. 
Besonders das „ich“ und das „kann 4< ist von Bedeutung. Statt des „ich~ 
darf nicht ein f ,man“, und statt des Prflsens kein andres Tempos gesetr. 
werden. Aus GrOnden, die durch die sp&teien AusfQhrungen sich ver- 
stehen (vgl. S. 95ff.)« 

4) Alles Originalbeispiele, z. T. oft wiederkehrende , der antiken 
Skeptiker, vgl. Sextus, P. I, 44; III, 12. 215; I, 108. 142. 



Anroerkungen zum zweiten Kapitel. 


337 


5) Zur dvvafug oxeJtuxrj als dem geschilderten andthetdschen VerT 
fahren, and zur hoa&beia als Eigebnis desselben vgl. Sextus, P. I, 8 — 10. 
31—34; Diog. IX, 78. 

6) Die Terminologie des Sextus auf diesem Punkt ist keine ein- 
deutige: a) einmal steht die Erscheinung xd (paivdfievov als der sub- 
jektive Bewufitseinszustand dem diesen Zustand veranlassenden Ding (an 
sich) gegenQber (so P. I, 19. 20. 23 u. a.); b) sodann aber gebraucht 
Sextus auch (paivdfieva identisch mit sinnlich Wahrgenommenem (afo&tjxd) 
und stellt in dieser Bedeutung die Fh&nomene den Vemunft- und Ver- 
standesbegriffen als den Noumenen (voovfieva, vor/xd) gegenaber (P. 1 , 8 — 9. 
31* 33)- Paivdfieva dk Xafifiavo/iev vvv xd aMhjxd, dtdneg ivudia - 
oxiXkofiev airtoTg xd von pd (P. I, 9. Nach Math. VIII, 216 stammt 
diese Terminologie von Aenesidem). Beide Bedeutungen gelangen hier 
keineswegs zur Deckung. Die Erscheinungen der Dinge nOmlich fallen 
far Sextus nicht etwa wie far die modeme Philosophic mit den sinn- 
lichen Anschauungen zusammen, sondem der Kreis der Erscheinungen 
ist ein viel weiterer; er umfafit vor allem auch das Gebiet der morali- 
schen, religidsen und flsthetischen Werte; auch was mir gut, schGn, 
fromm „erscheint“, ist ein (paivdfievov, das auf zugrunde liegende 
„ Dinge “ hinweist (P. I, 23). c) Offers steht endlich an dem (pcuvd- 
fievov weniger die Beziehung auf ein erscheinendes Objekt, als das 
ganz innerliche Merkmal der Klarheit und Deutlichkeit, das passsive 
Evidenzgefahl (vgl P. I, 19!) im Voidergrund. Dann ist das (pai- 
vdfievov gieichbedeutend mit TiQddrjXov und wird in diesem Sinne so- 
wohl von dem, was den Sinnen wie der Vemunft unmittelbar einleuchtet, 
gebraucht: xwv ngayfidxoov dirxtj tic fort xocxd xd dvoxxdxo) dta<pogd , 
xdd’ fjv xd fib fort ngddi yAa, xd dk SdijXcr xal Ttgddtfia fib xd 
a&xd&ev vnoTibtxovxa xaig xe aio&rfoeoi xal xfj 61 avolq., idyla 
dk xd fitf avxobv Ifjmd (Math. VIII, 14 1; P. II, 124). Darum ist 
zwar jede Erscheinung ein Jigddtjkov, aber nicht jedes TiQddrjlov ein 
(paivdfievov im Sinn einer auf Dinge an sich hinweisenden Erscheinung. 
So kommt es, dafi Sextus, wo er Ttgddrjlov und (paivdfievov gieich- 
bedeutend gebraucht, das (paivdfievov auch von Bewufitseinszustflnden 
aussagt, die auf keine Objekte, deren Erscheinungen sie sind, zurttek- 
weisen. Dieser Sinn des (paivdfievov tritt dann hauptsachlich in der 
Kritik der V emunfterkenntnisse auf, bei denen von der Frage nach einem 
Gegenstand, dessen Abbild sie wOren, nicht die Rede sein kann, dagegen 
das Merkmal des unmittelbar oder mittelbar Einleuchtenden eine groBe 
Rolle spiel t; so wird z. B. (P. II, 177) ein Beweis entweder „erschemend“ 
oder „ nicht offenbar" sein mOssen, d. h. unmittelbar oder mittelbar be- 
griffen werden (vgl. P. II, 88 — 94. 124 — 129, III, 266). Die drei Be- 
deutungen des (paivdfievov , welche bei Sextus oft stOrend durcheinander- 
laufen und besondeis dadurch Verwimmg anrichten, dafi sie sich weder 

Richter, Skeptinsnras. 22 



338 


Anmerkungen zum zweiten Kapitel. 


ganz zur Deckung bringen, noch ganz voneinander trennen lassen, weil 
ihre Spharen sich an einigen Punkten schneiden, werden am besten durch 
ihre logischen Gegens&tze eil&utert: dem <patv6/xevov als erecheinendem 
BewuBtseinsbild eines Objekts (auch eines ethischen, religi&sen) steht das 
Ding an sich xd vnoxtifMevov und seine Synonyma, dem qxuvifierof 
als aMhjtiv das vovfJLevov oder vorjxdv, und dem qxurAfttvor als tiqo- 
dtjlov das &dt}Aov oder Atpavig gegenflber. Die von uns an erster Stelle 
besprochene Anwendung tibersieht Pappenheim (ErUuterungen zu Sextus 
Empiricus, Skeptische Grundzttge, S. 4). Manchmal fflhrt die zweideutige 
Terminologie, welche, wie wir spater sehen werden, sehr tiefe sachliche 
Grande hat, zu einer direkten Quatemio terminorum — so z. B. P. I, 60, 
wo die UnmOglichkeit des Beweises dadurch daigetan wild, dafi der Be- 
weis als (paivAfievov (— TtoAArjkov) von der Unwahrheit aller tpairopeva. 
(— alo&rjTd) mitbetrofifen wird. — Noch eine Bemeikung zum Sprach- 
gebrauch in dieser Arbeit: wir nehmen den Ausdruck „Ding an sich“ 
im Sinne von Ding, Objekt als eine unabhangig vom Subjekt existierende 
Realitat Der modeme kritische Realist umgeht die Worte „Ding an 
sich" und sagt lieber schlechthin „Ding", urn die Kantsche Farbung 
eines aufier Raum und Zeit gelagerten mystischen Etwas zu vermeiden. 
Wir mOssen aber, urn uns im Rahmen der skeptischen Ausdrucksweise 
zu halten, den Terminus „Ding an sich" fOr den hier umschriebenen 
BegrifF verwenden. 

7) Von diesem Radikalismus ein Beispiel: der Skeptiker will gegen- 
einander ausspielen alofhjrd und vorjxA auf jedwede Weise (xa#’ dor 
drfjioxe t qStzov) und zwar in der Schroffheit, daB „auf jedwede Weise “ 
sowohl auf aldhjxA wie vorjxA (d. h. auf alle Kategorien derselben), als 
auch auf die Art des GegenUberstellens (d. h. die samtlichen Kombi- 
nationsmCglichkeiten darin) bezogen werden darf. Eine weitere Beziehung 
des xa& olov dtfnoxe xqAnov auf die dvva/uc oxenxixfj betrifft nur eine 
terminologische und keine sachliche Erweiterung (vgl. Sextus, P. I, 8/9). 

8) Sextus, P. I, 10 wird diese Auffassung vielmehr ausdrQckiich 
abgelehnt Die Avxtxdfievoi Xdyoi brauchen sich nicht wie Ja und Nein 
(<bi 6 <pacus — xaxA<paoig) zueinander zu verhalten, es genOgt, wenn sie 
niiteinander streiten (fiAxeo&ai). 

9) Neben den sachlichen Unterschieden zwischen der Kantischen 
und Pyrrhonischen Skepsis in den Objekten, auf die sich die Isosthenie 
bezieht, mag hier bereits erwahnt werden, daB Kants Handhabung 
dieses Prinzips insofem eine strengere ist, als bei ihm These und Anti- 
these in kontradiktorischem Verhaltnis stehen: die Welt hat einen An- 
fang, die Welt hat keinen Anfang usw. Soweit ist die GegenQberstelkmg 
qualitativ eine schflrfere als beim Pyrrhonismus; dafftr bCLfit die Anti- 
thetik, weil immer nur zwei kontradiktorische Satze im einzelnen Falle 
denkbar sind, an Quantitat, an Umfang und Ausdehnung ein. Kant 


Anmerkungen stun zweiten KspiteL 


339 


zeigt, dafi jedes „Ding an sich“ fllr unsre Erkenntnis wirklich seine zwei 
Seiten hat, wahrend ffcr die aiten Skeptiker die Anzahl dieser Seiten ins 
beliebige zu steigem ist 

10) Sextus, P. Ill, 66. 77. 

1 1) Der Skeptiker allerdings machte aus dieser Not noch eine be- 
sondere Tugend, indem er darauf eine neue Kategorie der Antithetik, in 
der Veigangenes, Gegenw&rtiges und Zukfinftiges einander gegenfibergestellt 
wird, aufbaute (Sextus, P. I, 33). 

12) Ob von dem der praktischen Handhabung dienenden Prinzip 
der Isosthenie bei den jfingeren Sophisten das gleiche Prinzip bei 
Protagoras (vgL oben S. 14) durch Ernst und Gewicht abzurficken sei, 
hangt davon ab, welche Erkenntnistheorie man dem Protagoras zu- 
weist DaB auch die jfingeren Eleaten hier Vorlaufer der Skepsis sind, 
siehe oben S. 9. 

13) Sextus, P. I, 1 2: ovoxdoecog di xrjg oxemacrjg laxly &Q%i) 
judiiaxa x 6 mvxl X 6 yq> Xdyov bov dvxtxefo&cu. 

14) Sextus, P. I, 18 (vgl. auch I, 204), wo unter den skeptischen 
Redensarten das navxl A 6 yq> bov liyov dan ixeia&ai nach Ansicht einiger 
als Aufforderung erklart wird, bei der nur statt des Imperativs der 
Infinitiv gesetzt sei „damit der Skeptiker nicht irgendwie von den Dog- 
matikem betrogen, der Untersuchung entsage“. Das Verhaltnis des Prin- 
zips der Isosthenie als Methode und Ergebnis erhellt auch daraus, dafi 
das Prinzip als Methode erst von den jfingeren Skeptikem auf den Schild 
erhoben, als Eigebnis aber schon von Pyrrho, der dem antithetischen 
Verfahren nichts weniger als hold war (Diog. IX, 69, oben S. 26), aus- 
gesprochen wurde. Auch Zeller (a. a. O. III b , S. 70) nennt das Prinzip 
der Isosthenie „das allgemeine Ergebnis des Skeptizismus“. Gegen diese 
Auffassung scheint allerdings der Umstand zu sprechen, dafi die Methode 
der Aenesidemschen Tropen bereits die antithetische ist, und diese 
Tropen auch von Sextus (P. I, 31. 35) als Verdeudichung des antitheti- 
schen Verfahrens gefafit werden. Danach ktinnte es aussehen, als wfirde 
die Isosthenie doch nicht durch die im Text angegebenen Grfinde (durch 
die in den Aenesidemschen Tropen nachgewiesene Unzuverl&ssigkeit der 
sinnlichen Wahmehmung und durch die zahlreichen Beweise gegen das 
vemtoftige Erkennen) gestdtzt, als wQrde sie vielmehr von diesen vor- 
ausgesetzt Dies ist nim aber tatsflchlich doch nicht der Fall. Denn 
die Tropen Aenesidems arbeiten zwar mit Gegenfiberstellungen der Sinnes- 
wahmehmungen fiber das gleiche Objekt; dafi diese Wahmehmungen aber 
in Ansehung ihrer Gfiltigkeit gleichkrfiftig sind, ist nicht Beweisstfick, 
sondem Beweisergebnis, ist erst eine Folgerung, die aus den Tropen 
gezogen wird und welche als der eigentliche philosophische Kempunkt 
•dieser Tropen bezeichnet werden mufi. Und so ist die Isosthenie dem- 

22* 



340 


Anmerirangen sum zwetan KapiteL 


nach wirkiich Resultat, nicht Voraussetzung und Methode der Tropen. 
Nicht in dem X 6 yq> X 6 yov dnrtix&o&cu besteht ihr Wert, sondera in der 
Erwflgung, daB diese Idyot loot Xoyot seien; eben in der Behauptung 
von der Gleichkraftigkeit widerstreitender Thesen und nicht vom blofien 
Widerstreit der Thesen besteht aber auch das Wesen der Isosthenie. 

15) Sextus (P. I, 3 1 ffl) und Diog. (IX, 79) stellen die zehn 
Tropen als Aufdeckung der WidersprQche sowohl zwischen den sum- 
lichen Wahrnehmungen wie den Vernunfteinsichten hin (dnoglai Kata 
roc avfjupwvlaQ t &y (paivopbov fj voovp£va)v). Aber mit Unrecht 
Nur der zehnte Tropus (in des Sextus Ordnung) trifft durdi seine all* 
gemeine Fassung alle Erkenntnisarten. Die abrigen Weisen haben es 
nur mit den Widersprflchen in der Sinneswahroehmung zu tun. Die 
Durchsetzung dieser Tropen mit der Anwendung der logischen Tropen 
des Agrippa ist spateres Einschiebsel und sch&digt das Verstandnis des 
grofizOgigen und eindeutigen erkenntnistheoretischen Problems, das den 
Inhalt der ursprOnglichen Tropen erschdpft Daher laBt auch die Dar- 
stellung im Text diese Partien aufier Betracht Oberliefert sind uns die 
Tropen: am ausfdhrlichsten von Sextus, P. I, 36 — 168, weniger ausfhhr- 
lich bei Diog. IX, 79 — 88, ganz mangelhaft von Aristokles bei Eusebius, 
praep. evang. XIV, 18, n; verloren gegangen sind die Darstellungen 
des Favorinus (Diog. IX, 87) und Plutarch. Was die ursprOngliche 
Zahl dieser Tropen anlangt, so halt wohl nur noch Pappenheim (Er- 
lauterungen zu des Sextus Pyrrh. Grdzg. Leizig 1881, S. 23/24) an 
den Angaben des Aristokles gegen Sextus (adv. Math. VIII, 345 und 
Diog. IX, 87) fest, dafi Aenesidem blofi neun Tropen gelehrt habe (vgL 
dagegen Hirzel a. a. O. S. 1 12 l ). — Die Ordnung der Tropen wird 
von Sextus, Diogenes, Favorinus vexschieden angegeben (Sextus, P. I, 36 fll; 
Diog. IX, 87). Den Gesichtspunkt far eine sinngemafie Reihenfolge, den 
Sextus (P. I, 38/39) aufwirft, hat er selbst nicht befolgt, namlich: die 
Tropen in subjektive, objektive, subjektiv-objektive zu scheiden (je nach- 
dem fQr die Uisache der Verschiedenheit in den Wahrnehmungen aber 
das gleiche Objekt in Verhaltnissen des Subjekts, Objekts oder beider zu 
suchen ist). Auch irrt Sextus, wenn er den zehnten Tropus den objek- 
tiven zuzahlt; mit der Bezeichnung der abrigen Tropen ist er dagegen 
im Recht (dafi Goebel, Programm des Bielefelder Gymn. r88o, S. 12 
den siebenten Tropus bei Sextus far einen subjektiv-objektiven statt for 
einen rein objektiven halt, beruht auf einem Mifiverstandnis der Sexd- 
schen Terminologie). Der zehnte Tropus aber ist entschieden, so wie 
ihn Sextus darstellt, subjektiver Natur. Die Differenzen in den Meinungen 
Ober Gutes und Schlechtes, Schickliches und Unschickliches usw. hangen 
nur ab von der ZugehOrigkeit des Subjekts zu einem bestimmten Lande, 
Volke, Philosophenschule usw. Daher schliefit sich bei Diogenes dieser 
Tropus als fanfter den ersten vier rein subjektiven Tropen an (warum 



Anmerkungen sum zweiten Kapitel. 


341 


gerade als ffinfter hat Hirzel a. a. O. S. 1 1 8 Anm. zu erklftren gesucht). Aber 
des Sextus Angabe, er sei den objektiven Tropen zuzuz&hlen, wird daraus 
verstandlich, dafi der Parallelismus mit den fibrigen vier subjektiven Tropen 
allerdings insofem durchbrochen scheint, als nicht, wie bei diesen, die 
Objekte sich einfach in den subjektiv bedingten Wahmehmungen der 
Individuen verschieden spiegeln, sondem durch die objektiven Media der 
Gesetze, Sitten , Gewohnheiten den Subjekten verschiedener Lander sich 
verschieden darstellen. Von dieser Seite gesehen wfirde der zehnte Tropus 
zwischen den subjektiven und objektiven gewissermafien in der Mitte 
schweben. Das Dazwischentreten dieses objektiven Faktors zwischen die 
Wertobjekte an sich und die Ansichten des Subjekts fiber dieselben und 
die damit gegebene Unsicherheit in der Klassifikadon dieses Tropus, die 
fiberdies durch die Aufnahme der Verschiedenheit in den dogmatischen 
Philosophemen, die sich doch auf a lie Erkenntnisse, subjektiv und ob- 
jektiv bedingte erstrecken, noch erhOht wird — all diese Verhaltnisse 
haben ihren Grand in der vOlligen Heterogenitat des zehnten Tropus 
von den fibrigen und der forcierten Einspannung desselben in die Be- 
griffspaare: subjektiv — objektiv, Erscheinung — Ding an sich, <pcuvo- 
fievov — inoxelpevov. Ob allerdings dieser Standpunkt der ursprttng- 
liche gewesen ist, ob nicht vielmehr der zehnte Tropus ursprfinglich 
weiter nichts besagen wollte, als: der Widersprach in den Ansichten 
fiber ethische, religiose und alle Probleme fiberhaupt lafit die Erkenntnis 
der Wahrheit als eine UnmOglichkeit erscheinen, und ob nicht erst Sextus 
oder sonst ein jfingerer Skeptiker den Parallelismus mit den fibrigen 
Tropen durch die Einspannung auch des zehnten Tropus in den Begrifis- 
gegensatz Erscheinung — Ding an sich vollzogen hat, mfichte ich dahin- 
gestellt lassen. Im Einklang damit trennte Agrippa den fraglichen 
Tropus von den fibrigen neun ab (die er in den einzigen Tropus szgdg 
r 1 zusammenschmolz) und nahm, wenn wir uns an die Darstellung des 
Sextus halten, das Verhaltnis von objektivem Ding an sich und sub- 
jektivem Erscheinungsbild nicht in ihn auf. Sondem der xq6tioq ttjg 
diatpcovlag wird wieder, was er wohl ursprfinglich gewesen sein mag, zu 
der einfachen, von den Kategorien des Subjektiven und Objektiven un- 
berflhrten Behauptung: „da8 wir fiber ein vorliegendes Problem stets 
einen unentscheidbaren Zwist sowohl im Leben als auch bei den Philo- 
sophen vorfinden, auf Grand dessen wir .... bei der Zurfickhaltung an- 
langen mfissen" (P. 1 , 165). Dies eigenartige Moment im Geiste des zehnten 
Tropus rechtfertigt die Anweisung an das Ende der Reihe, die ihm Sextus 
erteilt — Die vier ersten Tropen, die den subjektiven Gesichtspunkt in 
streng fortschreitender Entwicklung vom Allgemeinen zum Besonderen 
durchffihren, gehOren zweifellos eng zusammen. Dagegen lafit sich ffir 
die Reihenfolge in den fibrigen sechs Tropen kein zwingender Grand 
angeben. Nur dafi Diogenes den Tropus nq 6 g n ans Ende dieser sechs 


342 


Anmerkimgen ran xweiten KiipiteL 


Tropen stellt, scheint aus inneren Grfinden einzuleuchten; er zieht ja mit 
der These von der Relativist aller sinnlichen Wahmehmung die Summe 
der neun fibrigen Weisen; um so merkwttrdiger bieibt es, dafi dieser 
Tropus bei Diogenes gar nicht in diesem Licht eines Gattungsbegrifls 
fill die fibrigen Tropen, sondem nur als ein Spezialfall unter diesen auf- 
tritt, wahrend er bei Sextus, der sich (P. I, 136. 139) dieses Gattungs- 
charakters wohl bewufit ist, der Stellung nach als spezieller Tropus ein- 
geklemmt zwischen den Qbrigen seinen Platz findet Die Willkfiriichkeit 
in der Reihenfolge der noch fehlenden Tropen nimmt nicht wunder, 
wenn man bedenkt, dafi diese Tropen nicht a priori gefunden, sondem 
empirisch gesammelt worden sind. Alles in allem scheint die Anordnung 
des Favorinus (wenn wir Diog. IX, 87 glauben dfirfen), der von Sextus 
durch die Stellung des allgemeinen Relativitatstropus am Ende der reinen 
Wahmehmungstropen vorteilhaft abweicht, am sinngemflfiesten. Pappen- 
heims Versuch (Erltrg. S. 30 ff.), die Aristotelischen Kategorien als heu- 
ristisches Prinzip bei der Auffmdung der Tropen nachzuweisen, ist sehr 
gezwungen und wenig fiberzeugend. Im fibrigen vgL zu Zahl und Ord- 
nung der Tropen: Hirzcl a. a. O. S. 115 1 ; Brochard a. a. O. S. 259/60; 
Pappenheim, die Tropen der griech. Skeptiker und Erltrg. zu den pyrrho- 
nischen Grundzfigen; Natorp, Rhein. Mus. XXXVIII, S. 88 ff.; a. a. O. 
S. 300 ff; Gflbel, Programm des Bielefelder Gymnasiums. 1880. 

16) Sextus, P. I, 36. 

17) Beispiele, die den antiken Skeptikem nicht entlehnt sind, 
werden in der Regel durch einschliefiende Klammem kenntlich gemacht 

18) Sextus, P. I, 4X — 58. 

19) Sextus, P. I, 49. 

20) Sextus, P. I, 59 — 78. 

21) Der exakte Titel dieses Tropus ware also: Widerstreit der 
Sinneswahrnehmungen fiber das gleiche Objekt zwischen den verschie- 
denen Menschen (P. I, 79 — 89; Diog. IX, 80/81). Die Titel, die Sextus 
selbst von den einzelnen Tropen (P. I, 36/37), sowie im Veriauf der 
DaxsteUung gibt, sind unscharf und ungenau. 

22) Widerstreit in den Wahmehmungen der einzelnen Sinne fiber 
das gleiche Objekt im gleichen Subjekt (P. I, 90 — 99; Diog. IX, 81/82). 

23) Widerstreit in den Wahmehmungen des gleichen Sinns fiber 
das gleiche Objekt (P. I, 100 — 1 1 7 ; Diog. IX, 82). Ware der Fort- 
schritt in der stetigen Verengung des Gesichtsfelds ein ganz strenger, so 
mfifite dieser Tropus den Widerstreit der Wahmehmungen des gleichen 
Sinns im gleichen Subjekt zum Gegenstand haben. Denn den Wider- 
streit der Wahmehmungen des namlichen Sinns in verschiedenen Sub- 
jekten hatte schon Tropus II berfihrt; doch wurde allerdings auf die 
V erschiedenheit der Subjekte als Ursache der V erschiedenheit in den 
Wahmehmungen ausdrficklich reflektiert, wie in unserm Tropus von der 



Anmerkungen sum zweiten Kapitel. 


343 


subjektiven Verschiedenheit als Ursache ausdrilcklich abgesehen und nur 
auf den kausalen Einflufi der Umstande far die Differenz in den Aus- 
sagen Gewicht gelegt wird. Daher decken sich Tropus II und IV keines- 
wegs dem Sinne nach. Aber auch die ftufierliche partieUe Deckung konnte 
vermieden werden. Die einfache Gegentiberstellung lautet, vom Gesichts- 
punkt der Ursachen ftkr die Verschiedenheit der Wahmehmungen aus 
entworf en , in progressiver Verengerung und Zuspitzung: 

I. Mensch — Tier. 

II. Mensch A — Mensch B. 

III. Sinn A — Sinn B. 

IV. Sinn A — Sinn A. 

Sieht man aber nicht nur auf die Ursache far die V erschiedenheit der 
Aussagen, sondem auch auf diese Verschiedenheit als Tatsache und 
Ergebnis, so fellt, da die Menschen doch nur mit dem Sinn A, B usw. 
wahmehmen kftnnen, Tropus III und IV zum Teil mit II zusammen. 
Will man daher beide Gesichtspunkte in die beobachtete Architektonik 
aufnehmen und, unter Wahrung der SelbsULndigkeit der einzelnen Tropen 
die Gegentiberstellung zu einer vollstandigen machen, so mOfite das 
Schema lauten: 

I. Mensch — Tier. 

II. Mensch X — Mensch Y. 

III. Sinn A in Mensch X — Sinn B in Mensch X. 

IV. Sinn A in Mensch X — Sinn A in Mensch X. 

FOr I — III hat Sextus diesen Standpunkt auch gew&hlt, far IV aber 
nur das erste Schema befolgt; dennoch lassen sich alle seine Beispiele 
for Tropus IV ungezwungen auf Schema II anwenden. Man braucht 
nur die verschiedenen UmstOnde auf das gleiche Sinnesoigan desselben 
Subjekts zu verschiedenen Zeiten (statt auf verschiedene Subjekte zu 
gleicher Zeit) wirksam zu denken (wie der Fall mit den Lebensaltem 
P. I, 105 es ja gleichfalls tut). 

24) Widerstreit der Wahmehmungen aber das gleiche Objekt je nach 
Stellung und Abstand des Objekts vom Subjekt mid des Subjekts vom 
Objekt (subjektiv - objektiver Tropus) P. I, 118 — 123; Diog. IX, 85/86. 

25) Widerstreit der Wahmehmungen aber das gleiche Objekt je 
nach den Mischungsverhaltnissen desselben mit Elementen der Umgebung 
und des Subjekts (subjektiv - objektiver Tropus). P. I, 124 — 128; Diog. 
IX, 84/85. 

26) Widerstreit der Wahmehmungen aber das gleiche Objekt je 
nach den quantitativen Verbal tnissen desselben (rein objektiver Tropus). 
P. I, 129 — 134; Diog. IX, 86/87. 

27) Widerstreit der Wahmehmungen aber das gleiche Objekt je 
nach der seltenen oder haufigen Begegnung zwischen Objekt und Sub-r 
jekt, Subjekt und Objekt (subjektiv -objektiver Tropus). Diesen Tropus 



344 Amnerknngen sum zweiten KapiieL 

steJlt auch Favorinus an achte Stelle (Diog. IX, 87). P. I, 14 1 — 144; 
Diog. IX, 87. 

28) Widerstreit der Wahrnehmungen liber das gleiche Objekt wegen 
gfinzlicher Abhfingigkeit dersdben von subjektiven wie objektiven VerhJtft- 
nissen aus den in Trop. I — VIII entwickelten Grfinden. P. I, 135 — 140: 
Diog. IX, 87/88. 

29) Neben der aligemeinen Relativist als Summe der vorigen 
Tropen treten als neu hinzukommende Spezialfillle der Relativist anf: 
die Anschauungskorrelata: rechts — links, grofi — klein, oben — unten, 
die Begriflskorrelata : Vater — Mutter (Diogenes). Da aber diesdben 
ebensowenig wie die logischen Spielereien fiber die Notwendigkeit der 
Relativist P. I, 1378*. in eine Kritik der sinnlichen Erkenntnis gehdren, 
und die erstgenannten Beispiele auch nicht die unmittelbare Anschau- 
ung treffen, sind sie der Durchsichtigkeit halber im Text nicht mit auf- 
genommen worden. 

30) Sextus, P. I, 145 — 163; Diog. IX, 82 — 84. 

31) Sextus, P. I, 13: Myope* 6k pi] Soypaztteiv x or ox&mcor* 
06 hot* ixdvo r6 otjpmvdpevov t ov ddypaxog, xaft' 8 xol ddypa drat 
(pool urec xotvdxegov xd evdoxetv x tvt ngdypaxi (iofc ydg xccra 
<parxao£av xaxrjvayxaopkvotg Tidfteot ovyxaxaxt&exat 6 oxenuxdg ) .... 
P. I, 19: ol 6k Xiyovxeg , 8x1 dvatgovoi x a (patvdpevp of oxen- 
xtxol dvfjxooi pot 8 ox ova tv elvat xcdv nag* f]ptv Xeyopiv mr m 
xd ydg xaxd tpavxaotav Ttadrjxtxd dftovXJjxcog ijpag Syovxa 

elg ovyxaxddeotv ovx dvaxginopev xavxa 6£ loxt xd <pat- 

vdpeva. 

3 2) Sextus, P. I, 13: dXXd pi] doypaxSCetv Myopev, xafi* 8 ddypa 
dval tpaal xiveg xtjv xtvt ngdypaxi x&v xaxd tag intoxjjpag 
Crjx ovpivcov idrjXcov ovyxaxddeotv. ovdevl ydg xa>v ddyXwr 
ovyxaxaxt&exai 6 Ilvggcovetog. 

33) Sextus, P. I, 13. 

34) Sextus, P. I, 19/20. 

35) P. I, 19: tyxovpev d' 06 negl row <pacvop£vov, dXXd mot 
bcetvov, 8 Xiyexat negl xov <patvop£vov m xovxo 6k 6ta<p£get xov 
£f]xeiv Tiegl airtov xov <patvop£vov. 

36) Sextus, P. II, 219 — 228. 

37) Dies Beispiel ist ein frei gewfihltes. Die von Sextus erbrachten 
Beispiele, die in der allgemeinsten (stoischen) „Gattung“, dem „Was“ 
gipfeln, sind nur geeignet, das VersSndnis dieser Gedanken zu er- 
schweren. 

38) Hier folge ich der Konjektur Pappenheims (Erltrg. S. 149). 

39) Das lehrten bereits die Stoiker. P. II, 219 tut Sextus aber 
diese Ansicht ab, unter Berufung auf allgemeine Angriffe gegen die 
Existenz einer Seele und der Gedanken. 



Aomerkungen ram zweiten Kapitel. 


345 


40) Gegen die Funktion des Urteilens dagegen hat die antike 
Skepsis, soweit ich sehe, nur leichtes Geschatz aufgebracht (P. II, 107 
bis 109; adv. Math. VIII, 75 — 84). 

41) Sextus, P. 1 , 164 — 177; adv. Math. VIII, 367 ff.; Diog. IX, 88. 

42) Sextus, P. I, 174. Obersetzung nach Pappenheim. 

43) Sextus, P. II, 196. 

44) Sextus, adv. Math. VIII, 300: ^ x olvw &Ji 6 dei£ig xaxd pkr 
to yevog iazl X 6 yo$. 

45) Sextus, P. II, 134 ff.; adv. Math. VIII, 300 ff. Von den zahl- 
reichen logisch - formalen Spielereien zu dieser Materie, der ermUdenden, 
immer wieder von andem Seiten ausgehenden Anwendung der drei logi- 
schen Tropen ist im Text abgesehen worden. 

46) Sextus, adv. Math. VIII, 427. 

47) Bis auf Antipater, Sextus, adv. Math. VIII, 443. 

48) Sextus, P. II, 174. 

49) ebenda 178. 

50) Sextus, P. II, 205 — 212. 

51) Sextus, P. II, 204. Das Beispiel ist in Ermangeiung eines 
original -skeptischen gewflhlt. 

52) Sextus, P. I, 164 — 177; Diog. IX, 89/90. Zum Verh&ltnis 
der zehn Tropen Aenesidems zu den fQnf des Agrippa vgl. Hirzel a. a. O. 
S. n6ff. 

53) Sextus, P. I, 178/79; Diog. IX, 90. 

54) Sextus, P. II, 13 — **79; adv. Math. VII, 29 — 446. Die Skepsis 
kennt zwei Sorten Kriterien: das theoretische und das praktische (P. II, 14). 
Nur von ersterem ist jetzt die Rede. 

55) Sextus, P. II, 22 — 28 wird dieser Gedanke in der Art des 
Sextus breit ausgesponnen und 29 — 32 die „Unerfafibarkeit“ des Menschen 
aus der Unerfafibarkeit der Seele und des KOipers dargetan; Anwendung 
der drei logischen Tropen auf den Fall: 34 — 37. 

56) Sextus, P. II, 21. 47. 

57) Und wird von Sextus (P. II, 48 — 56) wOrtlich mit den gleichen 
Beispielen hier noch einmal dargetan. 

58) Dies Argument, das eigentliche Seitenstfick zu den Aenesidem- 
schen Tropen, konnte Sextus selbst an dieser Stelle nicht geltend machen, 
da die Untersuchung fiber das Kriterium dem Angriff auf die speziellen 
logischen Funktionen bei ihm vorhergeht 

59) Die uns ergreift oder von uns ergriffen wird. Zwischen dieser 
aktiven und passiven Bedeutung des xataXrjmtxdg scheint die Stoa hin- 
und hergeschwankt zu haben (vgl. P. Barth, Die Stoa, Frommans Klassiker, 
1903, S. 66/67). 

60) Sextus, P. I, 227 — 230; adv. Math. VII, 159 — 189. 401 ff. 

61) Sextus, adv. Math. VII, 405. 



346 


A nmt fam p n mm rw wtwi 


62) Sextus, P. 11,97 — 133; adv. Math. VIII, 14 1 — 299; Diog. 
IX, 90. 97. 

63) Die Stoa unterschied TtQddtjia (das dutch Sinne oder Verstand 
unmittelbar Einleuchtende) und drei Gruppen Sdrjla: xa& 6 jia£ &&T)la 
(das stets und grundsfitzlich Unerkennbaze, Zahl der Sterne); Tigde xaioov 
Sdrjla (das augenblicklich Unerkennbare, wie eine entfemte Stadt); tpvoei 
idi jla (das nie unmittelbar Erkennbare fflr unsre Natur: adv. Math. 
VIII, 145 ff. 318). Natfirlich ist die inhaltliche Erffillung dieser Begriffe 
bei Skeptikem und Dogmatikem sehr vexschieden: 71 g 6 drjla sind der 
Skepsis nur die passiven Erscheinungen, nie Dinge; Ttgdg xaiQor &df]ia 
augenblicklich unvorhandene Erscheinungen, nicht Dinge; qwaa SArjla 
= fbia£ idrji a: die wirkliche Natur der Dinge. Da sie die Ttgde xatgor 
&drjla nicht als <pvoei und tbia£ <Mi jia, vielmehr als erkennbar ansehen, 
wird dementsprechend auch das diese enthfillende Zeichen (das „erinnemde“) 
nicht abgelehnt Doch gehOrt seine Besprechung in den positiven Teil 
ihrer Lehre (vgl. S. 105). 

64) Wir haben im Text der Klarheit zuliebe sowohl das orjfi&ar 
wie die (pamaala xaxaXr)moar} nur in ihren Eigenschaften, indirektes oder 
direktes Kriterium einer objektiven Realitat zu sein, behandelt Von 
Stoa und Skepsis wird es gelegentlich auch zur Feststellung von blofi 
gedanklichen Beziehungen und Verhaltnissen benutzt oder bekampft; 
z. B. ob eine bestimmte Zahl viel oder wenig ist (Sextus, adv. Math. 

VII, 418 ff.). 

65) Sextus, P. II, 80 — 95. 

66) Sextus, adv. Math. VIII, 40 ff. 

67) ftber den positiven Wahrheitsbegriff Aenesidems werden wir 
anlafilich der zweiten pyrrhonischen Grundfrage zu berichten haben. 

68) Sextus, P. II, 86/87; a d v - Math. VIII, 32 — 36. 

69) Sextus, P. II, 185 — 192; adv. Math. VIII, 463 — 481. Das 
gleiche auf das orjfiefoy angewandt: P. II, 130 — 133; adv. Math. 

VIII, 278 ff. 

70) Bei einer rein monographischen Behandlung des antiken Skep- 
tizismus mtifiten die Argumente gegen die Grundlagen der Geometrie 
und Arithmetik besonders besprochen werden. Der Inhalt dersdben 
sei hier wenigstens in Kflrze aufgefOhrt: In dem Buche adversus Geo* 
metras (adv. Math. Ill) geht Sextus nach einer allgemeinen Bek&mpfimg 
des hypothetischen Verfahrens, dessen sich die Mathemadk bediene 
(1 — 17) dazu fiber, die Widersprfiche in den Grundbegriffen der Geo- 
metzie darzutun und zwar a) 22 — 28: die Widersprfiche, zu denen die 
Ausdehnungslosigkeit des Punktes ffihrt (der Punkt soil ausdeh- 
nungslos sein und dennoch eine ausgedehnte Linie erzeugen — wenn 
eine gerade linie urn ihren Anfangspunkt gedreht wird, beschreibt ihr 
ausdehnungsloser Endpunkt einen Kreis). b) 29 — 36: die Wideispifiche, 



Anmerltungen torn zwdten KapiteL 


347 


zu denen der Begriff der Linie als eines Compositum von Punktcn 
fQhrt (ein einziger Punkt kann ersichtlich keine Linie ausmachen; 
mehrere Punkte aber auch nicht: denn entweder beiQhren sie sich 
nicht; dann ware die Kontinuitat der Linie unterbrochen, oder sie 
berQhren sich mit ihren Teilen, was gegen die Ausdehnungslosigkeit der 
Punkte verstofit, oder endlich sie berQhren sich alle in ihrer ungeteilten 
Totalitat, und dann ware die linie ein Punkt), vgl. adv. Math. IX, 377 
bis 388. c) 37 — 64: die WidersprQche, zu denen der Begriff der Linie 
als einer GrOfie, die Lange aber keine Breite besitzt, fQhrt. (Sinn- 
lich ist solche GrOBe unvorstellbar, gedanklich aber ebenfalls. Denn alles 
Gedankliche muB irgendwie durch Bearbeitung des sinnlichcn Staffs her- 
vorgehen , durch Vergleichung djbioiamxabg, Zusammensetzung Imovy&ezi- 
xcbg, Vennehrung und Verminderung ivaXoyiaxixcbg ; auf keine dieser 
Weisen aber kann eine sinnlich gegebene Wesenseigenschaft, die sich 
Qberall findet, wo Langenvorstellung auftritt, eliminiert gedacht werden. 
— Linien als GrOfien ohne Breite kdnnen nicht, wie die Geometer wollen, 
die Begrenzung der Flache sein; denn sonst wffrden zwei Flachen 
aneinandergefQgt nur eine ausmachen, und also auch zwei Kdrper, da 
die KOrper aus Flachen bestehen, aneinandergefQgt, nur einen — . Das 
Beschreiben des Kreises mit einer Linie ware unmdglich, wenn die Linie 
der Breite entbehrte — . Alle Figuren, die selbst Breite besitzen, kdnnen 
sich dann nicht als Composita gerader Linien ansehen lassen, wie es die 
Geometrie verlangt) Vgl. adv. Math. IX, 390 — 430. d) 77 — 82: die 
WidersprQche, zu denen der Begriff der Flache ohne Tiefe fQhrt 
e) 83 — 91: die WidersprQche, zu denen der Begriff des KQrpers fQhrt 
(wie kOnnen die drei Dimensionen, deren jede fQr sich unkQrperlich ist, 
in ihrer Vereinigung einen KOrper ergeben?) vgl. P. Ill, 39 — 49; adv. 
Math. IX, 367 — 376. f) Nachdem durch diese allgemeinen Erwagungen 
auch die speziellen Satze der Geometrie als aufgehoben erklart sind (92 — 94), 
folgen noch ein paar unbedeutende Einwande gegen die Spezialdefinidonen 
der geraden Linie (95 — 99), des Winkels (96 — 106), des Kreises (107), 
gegen die MGglichkeit, einen Kreis, eine Linie bei Zugrundelegung der 
streng geometrischen Definitionen dieser Gebilde zu halbieren (108 bis 
SchluB). Samtliche Bedenken der Skepsis beruhen auf einer Verwechslung 
der reinen und angewandten Mathematik oder der Rolle, welche die 
willkQrliche Abstraktion im mathematischen Verfahren spielt, und sind 
von hier aus leicht zu heben. Weit schwacher sind die gegen die 
Arithmetiker (Buch IV) aufgebrachten EinwQrfe. Nach einem ein- 
leitenden Oberblick Qber pythagoreische und platonische Zahlenspeku- 
lationen (1 — 13) wird dialektisch der Widerspruch im Begriff der Ein- 
heit und der Zahl aufgedeckt; er soli darin bestehen, daB die Einheit 
weder abgesondert fQr sich noch auch an den Vielheiten, die an ihr 
teilhaben, vorgestellt werden kann (14 — 20); femer daB die andem 



348 


Anmerirangen sum zweiten Kapitel. 


Zahlen durch Operationen mit dcr Einheit nicht gebildet werden kdnnen 
(21 bis Schlufi); vgL P. Ill, 15 1 — 167; adv. Math. X, 248 — 309. 

71) Diog. IX, 97 — 99; Sextus, adv. Math. IX, 1958*., P. Ill, 138*. 
Von diesen drei Queilen sind bei weitem am ausfflhrlichsten und voll- 
stflndigsten die Partien in adv. Fhys. 

72) Sextus, P. I, 180. Vgl. dazu die Erltig. von Pappenheim. 

73) Sextus, P. Ill, 30 — 37. 

74) Sextus, P. Ill, 38 — 55; adv. Math. IX, 359 — 440 und die 
betreffenden Partien aus adv. Geom. 

75) Sextus, P. Ill, 56 — 62. 

76) Diog. IX, 100; P. Ill, 109 — 1 14. 

77) Sextus, P. Ill, 63 — 81; adv. Math. x, 37 — 168. 

78) Sextus, P. Ill, 119 — 150; adv. Math. X, 1 — 36. 169 — 247. 

79) Sextus, adv. Math. IX, 14 ffl; P. Ill, 2 — 12. Cicero, de natura 
deorum, III. Buch; de fato; de divinatione. 

80) Sextus, adv. Math. IX, 60 — 136. 

81) Ganz im Einklang dam it steht die Bemerkung bei Diogenes 
(IX, 78): ngdg dk tig b ralg oxhpeoiv iruftioeig Ttgoanodeoanmeg 
*a#’ odg r gdnovg nei&ei rd ngdyfiara, xatd ravg avrovg &rtj- 
qow rfjv Ttegl atnarv Tilonv. 

8 2) Cicero, de natura deorum, II, 22 (fibers, nach Kfihner). 

83) ebenda I, 62 — 63. 

84) Cicero, acad. pr. 38, 120. 

85) Cicero, de natura deorum III, 69 — 78. 

86) ebenda III, 26 — 28. 

87) Sextus, adv. Math. IX, 137 — 18 1; Cicero, de natura deorum 
III, 29—38. 

88) Sextus, P. Ill, 9 — 12. 

89) Cicero, de natura deorum III, 81 — 84. 

90) vgl. Cicero, de divinatione, von deren II. Buch die meisten 
neueren Forscher annehmen, dafi es wesentlich Kameadische Gedanken- 
gfinge wiedergibt 

91) Was man ausffihrlich bei Cicero (de natura deorum III) findet v 
was aber foglich hier ebenso fibexgangen werden mufi wie die Auflfisung 
der Mantik. 

92) Sextus, adv. Math. IX, 182 — 190; Cicero, de natura deorum 
III, 43. Dafi Karneades eine ganze Ffille soldier Soriten aufgestellt hat, 
beweist Vick (Hermes XXXVII, S. 245/46). Vick prfipariert die Ear- 
neadischen Elemente der religionsphilosophischen Partien bei Cicero und 
Sextus scharf heraus und weist die Ab&nderungen nach, die Cicero mit 
Kameadischen Gedanken voigenommen hat 

93) Sextus, P. Ill, 168 ff.; adv. Math. XI; Diog. IX, ioi. 



Anmerkungen <um zweilen Kapitel. 


349 


94) Sextus, P. Ill, 179. Dafi in diesem Gedanken, der einen 
naiven ethischen Realismus zur Voraussetzung hat, nflmlich den Glauben, 
als drtickten sich die „Werte an sich“ dem menschlichen Bewufitsein 
passiv ein, die Quintessenz der skeptisdien Ethik zu suchen ist, beweist 
adv. Math. XI, 69 — 71. 

95) Sextus, adv. Math. XI, 44. 

96) Nach Aenesidem, bei Sextus, adv. Math. XI, 42. 

97) Sextus, P. Ill, 198 ff.; vgl. I, 145 ft. 

98) Sextus, P. Ill, 232. 

99) Sextus, P. Ill, 1 81 ft*. 

100) Sextus, adv. Math. XI, 48 ft. 

101) Sextus, P. Ill, 173 — 176; adv. Math. 35 — 41. 

102) Sextus, P. Ill, 193 — 197; adv. Math. XI, 96 — 98. 

103) Sextus, adv. Math. XI, 99 — 109. 

104) vgl. auch Cicero, de finibus II, 109. 

105) vgl. oben S. 38. 

106) Sextus, P. I, 24. 

107) Sextus, P. I, 7; Diog. IX, 70. 

108) Diog. IX, 70. 

109) Sextus, P. I, 16/17. 

no) Sextus, P. I, 10. 

111) Sextus, P. I, 18. 

1 1 2) Sextus, P. I, 187 — 209; Diog. IX, 74 — 76; Eusebius, praep. 
evang. XIV, 18. 

1 13) Diog. IX, 74; Sextus, P.I, 14, 15, 187, 191, 193, 196, 197. 

1 14) Sextus, adv. Math. VIII, 479: ofkco xal Sxav Uyco/tev pt]- 
deydav elvai &Ji 6 dei£iv, xa#’ vne^algeaiv kiyofiev xov deixvvvx og Idyov, 
Sxi oix loxiv dnSdeifig* fidvog ydg ovxdg loxiv dn 6 det(tg. 

1 1 5) Sextus, P. I, 206; adv Math. VIII, 480; Diog. IX, 76. 

1 1 6) Sextus, adv. Math. VIII, 480. 

1 1 7) Sextus, adv. Math. VIII, 480. 

1 1 8) Vom n&mlichen Standpunkt verteidigte die Skepsis (Sextus, 
adv. Math. VII, 61 ff.) den Protagoreischen Satz vom Menschen als dem 
MaB aller Dinge gegen platonisch-demokriteische Einwande. 

1 19) Sextus, P. I, 22: xqix^qiov xolwv qxzjuiv elvai xtjg ox&m- 
xrjg dycoyrjg xd qxuvdjuevov . . . h nelaei ydg xdt d(IovMjxq> nd&et xei* 
ixhr\ dfyxrjxdg ioxiv. 

120) Sextus, P. I, 13. 

12 1) Sextus, P. I, 23. 

122) Daft die Skeptiker diese Autorit&ten tats&chlich als <pcuv 6 jbieva 
f aft ten, von denen sie sich willenlos ttberzeugt und fortgerissen fQhlten, 
beweisen deutlich die Worte des Sextus, P. I, 17: dxoXov&ovjuev ydg 
xivi 16 ycp xaxd xd (paivo/uevov vnoieixvvv xi fj/Luv xd £rjv nqdg xd 



350 


AnmerkuBgen zuxn zweiten Kapitel. 


TtdtQUX IHh] xal xovg vipovg xal xdg iycoydg xai xa otxeia Tt&th}. 
Ebenfalls P. I, 23: x dig (paivopivoig oftv nQOoixpvTtg xaxa xrjp fka>- 
xtxrjv n jQfjGiy &io£daxa>g (hovpev, btei pi] dwdpe&a dveyigyf]xoi 7 tar- 
x duzaaiv elvau Vgl die unmitteibar anschlieBenden Satze, sowie P.1,237: 
II, 246; femer adv. Math. VII, 29. 

123) Sextus, P. I, 23. 

124) Der Skeptiker kennt zweierlei Kriterien, ein theoretisches, nach 
dem fiber wahr und falsch, wirklich und nichtwirklich entschieden wird 
und von dem oben S. 72 ff. die Rede war, und ein praktisches, welches 
die Norm fQr das Handeln angibt Vgl. P. I, 21; adv. Math. VII, 29. 

125) Sextus, P. II, 11. 

126) Das tut vor allem Gottlob Ernst Schultze in seinem „ Aene- 
sidemus “ : „die Skeptiker sagten vielmehr stets(l), dafi sie den Skeptizis- 
mus eigentlich blofi dazu anwendeten , um ihrem Geist die Empfangiich- 
keit fQr die Erkenntnis der Wahrheit zu sichem und die Schw&chun* 

w 

der Augen ihrer Vemunft durch einen unbegrflndeten Dogmatismus zu 
verhindem “ (vgl. S. 24 ff.). Das trifft fOr die griechischen Skeptiker jeden- 
falls nicht zu; gesagt haben sie so etwas hOchst selten, und dann stets 
als Abwehr gegen den als Inkonsequenz empfundenen Vorwurf, dogma- 
tischen Negativismus zu betreiben, zugleich als dialektischen Trumpf gegen 
die positiven Dogmatiker. Inwieweit aber wissenschaftliche Forschung 
mit dem Standpunkt des antiken Skeptizismus vereinbar sei, ist nur 
unter sorgfal tiger Trennung der dabei obwaltenden Gesichtspunkte zu 
entscheiden. 1. Fragt man, ob wissenschaftliche Forschung von den 
Skeptikem mit ihrer Theorie far vereinbar gehalten wuide, indem man 
sich an ihre ernsthaften Auseinandersetzungen darQber und nicht an die 
Qbermfitigen Hiebe gegen die Dogmatiker halt, so kann man nur mit 
einem Nein darauf antworten. Denn mit Physik, Logik, Ethik — den 
philosophischen Grunddisziplinen nach damaliger Auffassung — beschif- 
tigten sie sich nur zu destruktiven Zwecken (P. I, 18), n&nlich zur 
Widerlegung der bisherigen Theorien, und selbst diese Beschaftigung 
glauben sie noch umstandlich gegen den Vorwurf der Inkonsequenz recht- 
fertigen zu mdssen (P. II, 1 ff.). 2. Will man wissen, ob wissenschaft- 

liche Forschung nach unsrer Auffassung mit der pyrrhonischen Theorie 
vereinbar sei, so mufi man sagen: bei starrem Festhalten an alien pyrrho- 
nischen Grunds&tzen: nein; bei leiser Lockerung einiger und in kraftiger 
Anlehnung an die letzten positivistischen Auslaufer der Lehre: ja. Die 
Anerkenntnis der Erscheinungen und des Wissens um — auch nicht 
gegenwartig gegebene — Erscheinungszusammenhange wfirde, gesetzt. 
dafi man die Zweifel in die Wahrheit der logischen Normen fallen liefie 
und die Lehre vom erinnemden Zeichen noch etwas mehr ausbaute. 
genfigen, um wissenschaftliche Forschung darauf zu grOnden. Aber aus- 
drQcklich hielt die Skepsis selbst daran fest, das Wesen der wissenschaft- 



Anmerkungen sum zweiten KapiteL 


351 


lichen Forschung bestehe in einer Erkenntnis objektiver Realit&t und 
objektiver Gesetzxnflfiigkeit, und wo sie von der Erkenntnis phanomenaler 
Zusammenh&nge redet, also gerade von dem Teil, auf dem sich eine 
ihren Anschauungen konfonne Wissenschaft hfitte grfinden kfinnen, sprechen 
sie nie von Ci^rtyoic, sondem nur von einer x Sx**!* 3 * Handelt es sich 

endlich darum, ob einige Skeptiker Wissenschaft getrieben haben, so 
ist dies zweifellos zu begahen. Wenn auch die grofien Stifter der Schule 
den forschenden Intellekt nur zur Erarbeitung der skeptischen Ergebnisse 
verwendeten , so haben doch von den jfingeren Skeptikem eine Menge 
eine systematischere Durchforschung der Wirklichkeit getrieben, als mit 
den philosophischen Ansichten dieser Manner logisch vereinbar war (vgl. 
die Kritik der skeptischen Lehre im Text). — Natorp (a.a. 0 . 8.90/91), 
der mit Recht be ton t, dafi die tfjxrjotg fQr den Skeptiker meist die Unter- 
suchung fiber das Jenseits der Erscheinungen betreffe, hebt hervor, dafi 
die Skepsis diese £rjxrjcng gerade gelehrt habe und folgert auf die Weise 
geschickt sogar die MOglichkeit einer skeptischen Metaphysik, was seiner 
Hypothese fiber den Herakliteismus Aenesidems sehr zugute kommt ( 1 1 7). 
Aber die vom Skeptiker gefibte tJjxrjotg — wie auch gerade aus den von 
N. angezogenen Stellen erhellt — betrifft doch nur die eine Frage: nach 
dem Verhfiltnis von Erscheinung und Ding an sich. Mit der 
skeptischen Antwort: das Verhfiltnis ist unerkennbar, ist ffir den Skep- 
tiker jede weitere Durchforschung der objektiven Realitfit logisch abge- 
schnitten, und auch der vorsichtige Zusatz, dafi die These fiber die Un- 
erkennbarkeit nicht dogma tisch gemeint sei, kann daran nichts findern. 
Denn „ nicht dogmadsch 11 bedeutet hier doch nur: nicht an sich noch for 
andre Individuen noch ffir andre Zeiten gfiltig. Nicht aber, dafi die An- 
sicht auch fQr den Skeptiker keine Geltung hat; ihm, dessen geisdgen 
Zustand sie kfindet, gilt sie durchaus als fiberzeugend ffir seine Person, 
und damit ist die Erforschung ffir ihn unerkennbarer Dinge ihm natur- 
gem&fi verschlossen. 

127) Hauptquellen des empiristischen Positivismus der Skepsis: 
Sextus, P. I, 236 — 241; II, 99 — 102; adv. Math. VIII, 143 — 158. 288 
bis 291. 

128) Sextus, P. I, 238. 

129) Sextus, P. II, 10. 

130) oben S. 76. 

13 1) Definition des endeiktischen Zeichens bei Sextus: t 6 brdetx- 
xtxbv tov ddrjXov/iirov ngdyfiaxog (adv. Math. VIII, 143); brdsixxixbv 
d£ im orjfieioY, dig (paoiv, 8 pij ov/bmaQaxrjQrj&hy rtp orjpeumcp id 
iragyelag, ill* lx xtjg Wag <pvoea>g xal xazaoxsvrjg oripafoet xd ov lari 
or) poor (P. II, 1 01). Das hypomnestische Zeichen wird definiert: xal 
vrtojunjorixdv fikv OYj)i£tor xaXovaiv 8 ovjjuiaQaTrjQtj&b xcp otjpaivo- 
p£r<p rep id ivagyelag Sipa xcp inoneaeiv, bttlvov ddrjkov/jh'ov , iyei 



352 


Anmerkungen zum rweiten Kapitel. 


fj/xag ek vndpvrjotv xov ov/junagaxtjgt^ivxog a$T€p, xal rvr ira^yovg 
fit! vnonlmovxog , <bg bd xov xanvov xal rov nvgdg (P. II, ioo); 
Xtyezai xoiwv x 6 orj/neTor diycog, xotv&g xe xal IdlaK 9 xo&gk pir xo 
doxovr xi Aylovv, xa &6 xal xd Jigbg dvavicoocr xov ovfmaQanjQTj&iv- 
x os avxcp ngdy/jiaxog ehoda/iev xaldv orjpdov (adv. Math. 

VIII, 143). Dementsprechend wird das endeiktische Zeidien als Idlcog 
Xeydfievov bezeichnet Der weitere Unterschied beider Zeichengruppen 
ist, daB das anzeigende Zeichen xA qwoei &Ai jla, das erinnemde id 
Tigdc xaiQ&v idrjla enthfillen soli (P. II, 99; adv. Math. VIII, 151). Die 
iogische Aktivitat endlich in der Anwendung des anzeigenden Zeichens 
im Gegensatz zu der Passivitat bei der Funktion des erinnemden Zeichens 
ist zwar nicht aus der Definition des ersteren direkt zu ersehen, urn so 
deutlicher aber aus alien Ausffihrungen fiber dasselbe. So erscheinen als 
die Hauptdifferenzpunkte beider Zeichenarten , philosophisch betrachtet: 
1. was man erkennt; durch das anzeigende Zeichen objektiv-reale, 
aus der inneren Natur der Dinge an sich fliefiende und daher not- 
wendige Zusammenhange; durch das erinnemde Zeichen: subjektiv- 
phanomenale, aus tatsfichlicher Verkettung der Vorstellungen fliefiende 
und daher nzufllllige 11 , d. h. nur bis jetzt regelmafiig stattgehabte Zu- 
sammenhange. 2. wie man erkennt; durch das anzeigende Zeichen a priori 
und aktiv, durch das erinnemde a posteriori und passiv. DaB dieser 
philosophische Kern durch historische Bezugnahmen auf die stoische und 
besonders auch die epikuraische Zeichenlehre verdunkelt wurde, erhellt 
besonders aus: Philippson, de Philodemi libro, qui est: oegi orjfieuov 
xal orifieu&oecav, I.-D. Berlin, 1882 und Natorp a. a. O. III. 

132) Sextus, P. II, 102. 

133) Sextus, P. II, 246. 

134) Sextus, adv. Math. VIII, 152. 

135) Sextus, adv. Math. VIII, 288. 

136) Sextus, P. I, 239. 

137) Sextus, P. I, 238. 240. 

138) oben Anm. 223 zu Kapitel I. 

139) Vgl. Galen: De seeds und de subfiguratione empirica; auch 
die meisterhafte Darstellung bei Brochard a. a. O. S. 364 ff. 

140) Humes Stellung zu den formalen Wissenschaften, der Mathe- 
matik und Logik ist, wie sich spater zeigen wird, vom Standpunkt der 
Skepsis ganz verschieden. 

14 1) Am deutlichsten Sextus, adv. Math. VIII, 291, wo behauptet 
wird, es gabe ein Tdidv xi &ed)Qr)/ua (Regel) xrjg h zoic qxuvofibov; 
axQEfpofjUrrjg xixyrjg mit der Bezeichnung: did ydg x&v nolXdxtg xexrjQT]- 
fUvwv fj laxoQfjjbiivcov nouixai xag xdrr &ea)Qtj judxxov ovoxdoets. 
Sogleich aber wird der vfillig passive, erlebte und damit individuell be- 
schrankte Charakter dieser systematischen Phanomenologie hervor- 



Anmerkungen zom zwciten Kapitel. 


353 


gehoben und betont: xd 6k noXXixig xrjQrj&ivxa xal loTOgrj'&SyTa X6i a 
xa&eioxrjxsi xa>v nlsioxdxig xrjQrjodvxcov, & 1 X* oi xoivd Ttdvxcov. 

14 2) Brochard a. a. O. S. 379 - 

143) Sextus, adv. Math. VIII, 8. Dazu Natorp a. a. 0 . S. 966*. 

144) Sextus, P. I, 226 — 231; adv. Math. VII, 166 — 189, sowie 
die betreffenden Partien in Ciceros Academica. 

145) In der adv. Math. VII, i66ff. angegebenen Rangordnung haben 
die Wahrscheinlichkeiten zweiter und dritter Ordnung ihre Steilen ver- 
tauscht 

146) Das ausfhhrliche Beispiel, das die Skepsis fQr die dritte Wahr- 
scheinlichkeitsstufe gab, der Sage von Admetus und Alkestis entnommen, 
ist unklar und mehr geeignet, das VerstiLndnis dieses Frobabilismus zu 
verwirren als zu klaren; ebenso dasjenige von Menelaus und Helena. Zu 
beiden vgL Pappenheim, Erltrg. a. a. 0 . S. 87 — 90. 

147) Sextus, adv. Math. VII, 167 — 175. 

148) Sextus, adv. Math. VII, 412 ft.; besonders 413, wo es von 
der Farbe und ihrem Wechsel unter bestimmten Umstanden heifit: wore 
xd [ikv ovxcog avxd noixtXXso&ai yivdxjxeiv ij/juxs, x6 6k x l ioxi xd xax 9 
Alrf&eiav iyvoeiv. 

149) Kritik der reinen Vemunft (Erdmannsche Ausgabe) S. 222. 

150) Sextus, P. I, 230. 

151) Sextus, P. I, 226: iya&bv ydg xi <paotv dvai of 9 ^£ca6tjfiaX~ 
xol xal xaxdv, ov% d>g rjpeig, iXXd fis xd xov Ttsnaa&ai, 8x1 nv&av6v 
ioxi fioilov 8 Xiyovoiv dvai dya&dv indQx&y f) xd ivavxlov. Dafi 
diese Anschauung von andem, antiken und modemen Darstellem als 
nicht authentisch bestritten wurde, ist Anm. 218 zum 1. Kap. bereits 
hervorgehoben. 

152) Sextus, adv. Math. VII, 184 — 189. 

153) vgl- S. 24 . 

154) Sextus, P. I, 25 — 30; III, 225 — 239; adv. Math. XI, no 
bis 166; Diog. IX, 108. 

155) Sextus, P. I, 10. 

156) Sextus, adv. Math. XI, 159/60. 

157) vgl. Anm. 75 zum 1. Kap. 

158) Sextus, P. I, 12. 

159) Sextus, P. I, 25. 

160) Sextus, P. I, 1 2. 

161) Sextus, P. I, 29. 


Richter, Skeptmunns. 


*3 



354 


Anmerkungen ran dritten Kapitel. 


Anmerkungen zum dritten Kapitel. 

1) Von diesen Kombinationen spielt die dritte: der Widerstreit 
zwischen Sinnlichem und Begrifflichem , so gut wie keine Rolle bei den 
Skeptikem. Obrigens kann streng genommen immer nur ein Widerstreit 
der zweiten Art, zwischen Begrifflichem und Begrifflichem statthaben; 
denn aQein an Aussagen haftet, wie wir spater sehen werden, das 
Wahrheits- oder Falschheitsgefahl, und nur zwischen Aussagen ist ein 
logischer Widerstreit mOglich. Sinneswahmehmungen als solche fahren 
ihn nie herbei; wohl aber kOnnen Aussagen fiber alcrOrfcd mit gieich- 
ardgen oder mit solchen fiber votpd, und diese untereinander dis- 
harmonieren. 

2) Ein Beispiel far viele: selbst der kridsche Kant, dem aber eine 
Pfeife Tabak des Morgens Bedfirfnis war, beweist (Werke, Hartenstein 
2. AufL Bd. VII, S. 473) den Nutzen des Rauchens. Wie ware die SteUe 
wohl ausgefallen, wenn Kant das Rauchen persOnlich ebenso unsym- 
pathisch wie das Biertrinken gewesen ware? 

3) Ob auch im Dienste des Glficks, des Nutzens far den Einzelnen 
und die Gesamtheit, des Staatswohls und der Gesundheit einer Rasse 
der unkridsche Dogmadsmus von Nachteil und das unbedingte Streben 
nach Wahrheit von Vorteil sei, kann faglich bezweifdt werden. 

4) Bacon, novum organum II, 12. 

5) Kuno Fischer, Geschichte der neueren Philosophic, Bd. X. 

6) Hegel, Werke, Bd. XIII (Berlin 1833), S. 50/51. 

7) Sextus, P. I, 32 ff. 

8) oben S. 46. 

9) Feinere Unterschiede, wie: dafi bei Kant in den ersten beiden 
Antinomien Thesen und Antithesen falsch sind, weil den Dingen an 
sich raumlich - zeitliche Eigenschaften dogmahsch abgesprochen werden, 
kfinnen erst bei Darlegung des Kantischen Skeptizismus abgehandelt werden. 

10) Siehe oben S. 47 — 57. 

1 1) Was von der Skepsis auch getan wurde; denn in ihrer Polemik 
gegen das vemfinftige Denken wird gleichfalls die Frage als unentscheid- 
bar aufgeworfen : welches Subjekt Richter fiber die Wahrheit sein solle. 
VgL oben S. 72. 

12) Schon de Lamettrie betonte in seinem Buche: I’homme machine 
die enge V erwandtschaf t zwischen Mensch und Tier mit aller Energie. 

13) oben S. 51/52. 

14) Sextus, P. I, 103 (fibers, nach Pappenheim). 

1 5) Diejenigen Kranken , welche Einsicht in ihre Krankheit haben und 
schon w ah rend des halluzinatorischen Zustandes nicht mehr an den ab- 
soluten Wirklichkeitswert ihrer Wahmehmungen glauben, weil sie durch das 



Anmerkungen zum dritten Kapitel. 


355 


Denken den Schein nicht zum Irrtum werden lassen, bieten kein erkenntnis- 
theoretisches Problem aus der Pathologie dar; ihre Halluzinationen haben 
erkenntnistheoretisch so viel oder so wenig zu bedeuten wie die soge- 
nannten Sinnestausch ungen , deren sich auch der Gesunde nicht erwehren, 
die er aber wohl durch das Urteil korrigieren, und als „Tauschungen“ 
aufdecken kann. 

1 6) Starring, Vorlesungen fiber Psychopathologie, Leipzig 1900, S. 93. 

17) Nicht aber macht etwa der Delirant die Erfahrung eines 
objektiven Geschehnisses, die unwiderlegbar ware. Dieses verbttrgen die 
Sinne als solche menials, sondern erst die logisch gedeuteten Sinneswahr- 
nehmungen. Die Kriterien far diese Ausdeutung sind: Lebhaftigkeit und 
kausaler Zusammenhang mit anderen Wahrnehmungen. In den meisten 
Fallen genQgt das eine oder das andere. In gewissen Krankheitszeiten 
aber versagt manchmal das erste Kriterium , und wer sich auf die 
Lebhaftigkeit allein verlafit, gelangt zu falschen Urteilen aber den Inhalt 
der Sinneswahmehmung. Dafl Wirklichkeit und Objektivitat sowohl im 
realistischen wie idealistischen Sinn hier noch beliebig gefafit werden 
kann, versteht sich von selbst 

18) Die AusdrUcke Ding, Gegenstand, Objekt werden zunachst 
in der weitestmCglichen Bedeutung, immer aber auf di$ sinnliche 
Wahmehmungsphare beschrankt, gebraucht; sie bezeichnen also nicht 
nur bewuBtseinunabhangige Daseinsarten, sondern umfassen gleichmafiig 
die Dingbegriffe der Realisten und Idealisten. Das gleiche gilt von den 
Worten wirklich-nichtwirklich, objektiv-subjektiv. Um Bewufit- 
seinunabhangigkeit oder -abhangigkeit auszudrQcken, stehen im folgenden 
immer Realitat, Idealitat und deren Derivate. Der Ausdruck Dinge 
an sich wird gleichbedeutend mit realen Dingen gebraucht, nicht etwa 
mit jenseits von Raum und Zeit lagemden Wesenheiten, die Kant als 
einzige Realitaten (nach unserer Terminologie) anerkannte. 

19) Doch sollte man auf diesem schwankenden Boden lieber keine 
philosophische Terminologie grtlnden. Von naivem, kritischem, reflek- 
tierendem Realismus zu sprechen ist bedenklich, weil nicht eindeutig. 
1. Es mflssen erkenntnistheoretische Positionen auch ihren Titel von dem 
logischen Standpunkt hemehmen, den sie vertreten. Dieser besteht im 
vorliegenden Fall darin, ob man sich fttr den extremen oder gemafiigten 
Realitats-, den extremen oder gemafiigten Idealitatswert der Sinnes- 
wahmehmungen entscheidet. Hier gibt es nur ein Entweder-Oder, 
und wenn die Begriffe Realitat, Idealitat festgelegt sind, ist ein Mifiver- 
standnis ausgeschlossen. 2. Die Ausdrflcke naiver, kritischer Realismus usw. 
fufien dagegen auf einem psychologischen Befund und weisen dem 
naiven, reflektierenden, kritischen Bewufitsein gewisse Standpunkte zu. 
Aber abgesehen da von, dafi naiv, reflektierend, kritisch selbst psycho- 
logisch doch ganz fliefiende Vorstellungen sind, ist durch diese Bestim- 

* 3 • 



I 


356 Anmerkungen sum dritten KapiteL 

mungen noch gar nicht ausgemacht, welchen Stand in der Gflltigkeitsfrage 
nun die jeweilige BewuBtseinsIage eigentlich einnehme. 3. Dazu kommt, 
daB diese schon an sich schwer festzulegenden psychologischen Be* 
griflfe noch durch Wertfarbungen getrQbt und beeintriichtigt zu werden 
pflegen, die von den verschiedenen Denkeigruppen wieder ganz ver- 
schieden verteilt werden. Ein Teil mOchte gem „naiv“, ein anderer 
„kritisch“ sein, und jeder sieht bereits in der Naivitat oder der Kritik 
eines Standpunktes eine Bfirgschaft Mr dessen Wahrheit Wo solche 
Motive mitwirken, ist stets die sachliche Verwirrung der Erfolg. 4. So 
sehen wir in der Tat die entgegengesetzten Positionen als naive und 
kritische getadelt und geiobt werden. Der extreme Idealismus z. B. 
rflhmt in seinen SchOpfem und deren Nachfolgem die ihm eigene Naivitat 
(Berkeley, Immanenzphilosophen), wirdabervon andem (Wundt) als ganz 
hypexreflektiert gekennzeichnet Der Idealrealismus der Naturwissen- 
schaft nennt sich kritischer Realismus, und glaubt durch Kritik zu ganz 
anderen Ergebnissen gelangen zu mfissen als der kritische Idealismus 
Kants. — Man sieht, eine solche Terminologie schafft nicht Klarung 
und Einigkeit, sondem nur heftigste Fehde, und von vomherein hier 
Partei zu ergreifen, wfirde eine terminologische petitio principii 
bedeuten, die fttr die Philosophic, wie man weifi, schon mehr als einmal 
verhangnisvoll geworden ist Welche Anschauung fiber Realitats- und 
Idealitatswert der Wahmehmungen dem naiven, welche dem kritischen 
BewuBtsein entspricht, ist kein Ausgangspunkt, sondem ein Problem, an 
dessen L&sung Erkenntnistheoretiker und Psychologen mit vereinten Kraften 
zu arbeiten haben. Ehe dasselbe nicht gelOst ist, darf auch die philo- 
sophischeSprachesichdieserAusdrfickenicht als eindeutig gegebener bedienen. 

20) Nicht der Standpunkt des vfillig Unbefangenen, dem Vor- 
stellung und Gegenstand in Eins zusammenfallen , wie Wundt (Ober kri- 
tischen und naiven Realismus, philos. Studien, Bd. XI) mit Recht be- 
merkt Aber der Durchschnittsmensch unserer Kultur ist nicht mehr 
unbefangen — eine wahre Berkeleysche These. 

21) Der Gedanke: die Variabilitat der Geffihle ffir die Unerkenn- 
barkeit der Objektseigenschaften auszunutzen, tritt in den Tropen oftmals 
auf; besonders deutlich in Tropus I (P. I, 55 ff.), in Tropus II (80 ff.), 
Tropus III (92 ff.), Tropus IV (100, 108, in), Tropus VII (133). 

22) VgL oben S. 55. 

23) DaB dies cum grano sails zu verstehen ist, d. h. mit An wen- 
dung des Begrifis Gegenstand nur auf r&umlkhe Objekte, nicht auf unab- 
hangig vom BewuBtsein existierende, zeigt S. 199. 

24) Dies ist in der Tat ein Einwand Berkeleys, der damit zwar 
nicht bezweckte, Geffihle zu realisieren, sondem die wahrgenommenen 
Objekte zu idealisieren; aber seine Beweisart kfinnte ebensogut dem 
einen wie dem andem dienen. Wenn bei Berfihrung eines heiBen Gegen- 



Anmerkuogen zom dritten KapiteL 


357 


standes — so schloB er — Schmerzgeffihl und Hitzeempfindung enlsteht, 
finden wir dann zwei verschiedene Vorstellungen oder einen einheitlichen 
Bewufitseinszustand vor? Wenn wir, wie es der Fall ist, einen ein- 
heitlichen Zustand dabei haben, wie dfirfen wir dann das eine Element 
(Hitze) als real vom andem (dem Schmerzgeffihl) als ideal abtrennen? 
Berkeley meint, beiden mfisse also ein gleicher Gfiltigkeitswert zukommen. 
(Berkeley, Drei Dialoge, fibers, von R. Richter, Leipzig 1900, S. i8ff.) 

25) In Wahrheit laufen beide Auffassungen von der Objektivitat 
der Geffthle bei der antiken Skepsis durcheinander. Dafi die Geffihle, als 
solche, Eigenschaften der Dinge seien, tritt in AuBerungen zutage, wie 
P. I, 92/93, wo es vom Honig heiBt, es sei unmOglich zu sagen, n&cegov 
fjdv ioriv eilixgivcog fj drjdig. Die Eigenschaft der bloBen Geffihls- 
erregung wird den Dingen zugesprochen, wenn P. I, 144 schlieBt, dafi 
man nicht wissen kfinne, ob das Meer, der Komet, das Erdbeben usw. 
ynXcvg IxnXrjxtixal seien. — Cbrigens finden sich auch bei Sextus 
Ansatze, die Geffihle auf die Empfindungen zu reduzieren; am 
bemerkenswertesten P. I, 58: el rd avrd rots jul£v lau drjdfj, rolg dk 
fjdla, xd di fjdv xal drjdig iv (pavraolq. xeitai, did<pogoi ylyvovxai 
toig £cooig dbtd raw inoxufiivwv cpayxaolai (vgl. P. I, 80). iHier 
scheinen Lust und Unlust als blofie Wirkungen der Empfindungen 
aufs Subjekt gefafit und nur auf qualitative Unterschiede in den Em- 
pfindungen zurfickgeffihrt zu sein; aber der vage Ausdruck rd ijdv xal 
drjdig £v (pavraolq. xmax lafit es noch ganz offen, ob die Geffihle blofi 
subjektive Reaktionen auf die EigentUmlichkeit der Empfindungsqualitaten, 
oder ob sie direkte Bestandteile der von den Dingen an sich bewirkten 
Sinneswahmehmungen selber sind, zu den Dingen an sich also in indirekter 
oder direkter Beziehung stehen. Cbrigens filllt beim 9. Tropus jeder 
Versuch, die Geffihlsdifferenzen auf Empfindungsunterschiede zurfick- 
zufhhren, hinweg. 

26) vgL oben S. 55. 

27) Siehe oben S. 49. Es beherrscht auch dieser uns heute so 
fern Hegende Standpunkt, zu dessen Berficksichtigung im Text nur dies 
eine Beispiel gewahlt wurde, die ganze Reihe der Tropen. P. I, 55 ff. 
heiBt es: das 6i nfitzt den Menschen, Wespen und Bienen tfitet es; 
Holzmaden bewirken bei den Menschen Obelkeiten und Leibschneiden; der 
Bar aber starkt sich, indem er diese hinunterleckt (fibers, nach Pappenheim). 
Besonders ergiebig werden die physiologisch - biologischen Wirkungen in 
ihrer Variabilitat und ffir die daraus gefolgerte Unerkennbarkeit heran- 
gezogen: P. I, 131 — 133 (auch P. I, 93). Dabei herrscht ein v&lliges 
Durcheinander der geffihlsmaBigen, willensmafiigen, physiologisch wert- 
mafiigen Eigenschaften der Dinge: xal xow wg dXloig ijdia, dXXoig lathe 
drjdfj xal epevxrd xal davdoipa (56); ahnlich Diog. IX, 79: hier 
wird die diatpogd r&v £(oa>v n gdg fjdovijv xal dlyrjdetav xal 


358 


Anmerkungen zum dritten Kapitel. 


pkdfirjir xal dxpiXi^ov an die Spitze des ersten Tropus gesetzt und 
dann folgt erst die Differenz der Sinnesempfindungen. Fur diese Ver- 
mengung der Gesichtspunkte sind die Beispiele bei Diog. a. a. O. sehr 
lehrreich; so wenn er in der Antithese eBbar - nichteBbar sowohl den 
angenehmen und unangenehmen Geschmack (GefOhl), wie das SOfie und 
Bittere (Empfindung), das BekOmmliche und NichtbekOmmliche (physiolog. 
Folge) begreift 

28) Dafi ein gemafiigter Realist wie Locke, dem das Objekt nur 
aus mathematisch - physikalischen Eigenschaften besteht, den erwahnten 
Elementen nicht objektive Goltigkeit zugesteht, ist selbstverstandlkh. 
Dagegen kCnnte es auf den ersten Blick fraglich erscheinen, ob die 
erkenntnistheoretischen Idealisten, wie Berkeley und Kant, die ihre 
Objekte doch ganz aus subjektiven Elementen aufbauen, nicht auch 
Geftihle auf sie Ubertragen hatten. Aber dem ist nicht so. Far Kant 
ist das Objekt der rSLumlich - zeitlich und kategorial bearbeitete Empfin- 
dungskomplex, die Geftihle aber sind die rein subjektive Innenseite an 
den Empfindungen. Berkeley beschreibt die sinnlichen wirklichen Dinge 
immer nur als Komplexe von Empfindungen, und stellt ihnen das wollende 
Ich als Trflger dieses Bewufitseinsinhalts gegenfiber. Die GefOhle sind dann 
nur die Wirkung des sinnlichen Inhalts auf diesen Trfiger. VgL Kritik 
der r. V. Originalpag. S. 44/45, wo sehr deutlich alle zum Objekt ge- 
hOrigen Bestandteile aufgezahlt werden; und Berkeley, Principles of human 
knowledge Sektion I — III. Dafi all diese Manner endlich die Beziehungen 
der Objekte zueinander und zum Willen des Subjekts (Werte) nicht 
objektivierten, versteht sich von selbst 

29) Diese beiden Punkte kdnnen durch das auf S. I2 7ff. aber sie 
gesagte als erledigt gelten. 

30) Sextus, P. I, 19. Das Dasein der Dinge an sich wird hier 
einmal ausdrQcklich zugegeben; andre ebenso deutliche Stellen wird man 
in der antikskeptischen Literatur schwerlich finden. Hatten die Skeptiker 
sich Ofters dazu geaufiert, so waren sie sich dieser These als einer Vor- 
aussetzung bewufit geworden und hatten sie kritisch gestatzt oder aberwunden. 

31) Oben S. 51. Immerhin hat sich die Skepsis in dieser Annahme 
einer quantitativen Differenz von Objekts- und Empfindungseigenschaften 
am weitesten von ihren eigentlichen extrem * realistischen Voraussetzungen 
entfemt; die Brficke zu andem Anschauungen hatte sich von hier aus 
am leichtesten schlagen lassen. Solche vorgeschritteneren Ansatze, wdehe 
die erkenntnistheoretischen Voraussetzungen des extremen Realismus durch* 
brechen oder wenigstens bezweifeln mOchten, finden sich noch: Sextus, 
P. I, 182, wo die Bemerkung Aenesidems zitiert wird, der Schlufi von 
der Erscheinung auf das Ding an sich sei als ein voreiliger zu vermeiden, 
mit der B^rfindung: rd^a per dfioUog xoiq (paivofiivotg x anr &qxxv&r 
ImreXov/Jiivcov, xd%a <J’ ov% tyolcos dXl r ldia£ 6 vxa)s; besonders auch 



Anmerkungen zum dritten Kapitel. 


359 


die Partien P. II, 7 2 — 76, wo die Ahnlichkeit zwischen den Em- 
pfindungen und den Dingen als fraglich hingestellt wird; femer P. I, 13; 
P. II, 49. Vgl. R. Richter, Die erkenntnistheoretischen Voraussetzungen 
des griechischen Skeptizismus, Wundts philosophische Studien, Bd. XX, 
S. 269 !) nnd *), S. 297 *). 

32) Vgl. Sextus, P. I, 19. 

33) Doch neigt sie im ganzen der stoisch-materialistischen Auf- 
fassung hier zu, und die Vorstellung der r vncoaig liegt eigen tlich latent 
alien Aenesidemschen Tropen zugrunde; ausdrficklich ausgesprochen 
P. I, 44 (zurfickgenommen P. II, 70). Ebenso zeigen die zahlreichen 
materialistischen Vergleiche fiber die Einwirkung der Dinge auf das 
Bewufitsein (P. I, 53 — 54) die Seite an, auf die die Skepsis sich neigte. 
Man vergleiche auch den 6. Tropus bei Sextus. 

34) Dafi wir die fibliche Definition der Wahrheit als „Oberein- 
stimmung einer Vorstellung mit ihrem Gegenstand “ aus doppelten Motiven 
ablehnen, versteht sich von selbst Denn einmal haftet das Evidenzgeffihl 
nur an Aussagen, nicht an Vorstellungen; femer ist die Annahme von 
dem Verhaltnis zwischen Vorstellungen und Gegenst&nden, das dieser 
Definition zugrunde liegt, entweder eine petitio prindpii, oder ein ent- 
ferates Resultat der Anwendung von Wahrheitskriterien und noch dazu 
ein von alien Idealisten angefochtenes — Eigen tfimlichkeiten, die gerade 
ffir eine Definition der Wahrheit vemichtend sind. 

35) Dies erkannte nach dem Vorgang des Aristoteles schon die 
antike Skepsis an, vgl. Sextus, P. I, 19/20 und die (Anmkg. 191 zum 
1. Kapitel) angezogene These des Arkesilaus. 

36) Die Beantwortung dieser Frage ist deshalb nicht ohne Schwierig- 
keit, weil auch zwischen den einzelnen Erkenntnistheoretikem gleicher 
Partei stets Unterschiede walten. Man dfirfte schwerlich zwei Manner 
finden, die hier in den Ergebnissen und den Beweisen vfillig fiberein- 
stimmten. Unsre summarische Darlegung bemfiht sich, indem sie das 
systematisch Wichtige betont, vor allem dem gemafiigten Realismus, 
wenn auch nicht dessen einzelnen Vertretem, Gerechtigkeit widerfahren 
zu lassen. Das Gleiche gilt von der S. 1786*. gebotenen Darlegung des 
Idealismus. 

37) Dieser Ausgangspunkt wird von den alteren Erkenntnistheore- 
tikem fiberhaupt nicht genau bestimmt; sie beginnen mit der Analyse 
eines komplizierten Tatbestandes, ohne denselben als bewuflten Ausgangs- 
punkt hinzustellen und naher zu beschreiben. Der modeme Positivismus 
mit seiner Forderung: vom erfahrungsmafiig rein Gegebenen auszugehen, 
hat hier klarend gewirkt Im fibrigen wird nun dieser Ausgangspunkt 
von den moderaen Vertretem des gemafiigten Realismus wieder ganz 
verschieden gewahlt. v. Hartmann und Volkelt nehmen als Ausgangs- 
punkt den Standort des extremen Idealismus und gewinnen durch Be- 



36 o 


Anmerkongen nun dritteo KapiteL 


richtigung desselben denjenigen des gemafiigten Realismus. Wundt geht 
vom extrem - realistischen Standpunkt des naiven Bewufitseins aus, und 
gelangt durch Kritik desselben zum gemafiigten Realismus, Sein Voibild 
hat im ganzen auch den Gang obiger Untersuchung bestimmt; es scheint 
angemessener, die Gruppen der realistischen und idealistischen Systems 
jede in sich geschlossen und sich aus sich selbst eutwickelnd, vor- 
zutragen, als beide durcheinander zu behandeln und auseinander ab- 
zuleiten (vgl E. v. Hartmann, Kritische Gnmdlegung des transzendentalen 
Realismus, Leipzig, 3. AufL, S. 5; Volkelt, Immanuel Kants Erkenntnis- 
theorie, Leipzig 1872, S. iff.; Wundt, Ober naiven und kridschen 
Realismus, a. a. O.: Bd. XI, S. 326. 

38) Noch einmal sei daran erinnert: dafi real immer unabhangig 
von einem Bewufitsein bestehend bedeutet 

39) Aus der Ffllle solcher ErwSgungen sind nur die sachlich be- 
deutendsten herausgenom men und solche, die dieWahrheit der rea- 
listischen Thesen beweisen wollen. Denn noch handelt es sich erst 
um logisch mOgliche Auswege aus dem extrem -realistischen Skeptizismus. 
Tritt ein skepdscher Standpunkt auf, der nicht, wie der andke, nodi 
jenseits von gemafiigtem Realismus und extremem Idealismus steht, sondera 
der die UnmOglichkeit auch dieser beiden Standpunkte kridsiert (was in 
Humes Skepsis der Fall sein wird), so werden Idealismus wie Realismus 
vertiefter, aber vorsichtiger vorzugehen haben, nflmlich als Positioned 
deren jede die logische Mdglichkeit der andem zugibt, keine sich 
als die allein wahre auf spiel t, sich auch nicht for beweisbar erkl&rt, 
und die eben dadurch gemeinsam den Skeptizismus Gberwinden, dafi sie 
an der M6glichkeit von Erkenntnis auf beiden Seiten festhalten, allein die 
absolute Gewifiheit von der Wahrheit der einen oder der andem Ge- 
samtanschauungsweise for grundsatzlich unerreichbar halten. Vgl. Dflrr, 
Ober die Grenzen der Gewifiheit, Leipzig. 1903. 

40) Ein Schlufi Lockes: Essai, IV, Kap. 4, §4. 

41) vgl. v. Hartmann, a.a. 0 .: S. 58/59. 

42) Das Zugestandnis von der Existenz andrer Geister ist dabei 
allerdings Voraussetzung; aber natttrlich eine von dem gem&fiigten Rea- 
listen angenommene: auf Grund der sinnlichen Wahmehmung andrer Leiber 
und der durch Analogieschlufi erreichten Annahme zugehdriger Geister. 

43) Das eigentliche Problem in der Lehre von den spezifischen 
Sinnesenergien wird hierdurch gar nicht berfihrt Denn das im Text 
Angeffihrte ist nicht problematisch, sondem Tatsache. Die augenblicklich 
die Wissenschaft bewegende Frage in dieser Ldire dreht sich um den 
Grad von Bedeutung, den die Art der Reize in normalen Fallen for die 
Ausl&ung der Nerventatigkeit beanspruchen kann. 

44) Die Skepsis behauptete in dem Beispiel von dem for das Auge 
dreidimensional, for das Getast fiSchenhaft erscheinenden Gessalde 



Amnerlnmgeo ram dritten Kapitel. 


36l 


(oben S. 50) das Gegenteil, n&mlich: dafi dasselbe Ding von den ver- 
schiedenen raumvermittelnden Sinnen auch verschieden wahrgenommen 
wQrde. Aber hier handelt es sich nur um eine partielle Sinnestauschung 
des optischen Wahrnehmungsteiles bei der Raumauffassung , deren Ur- 
sache als rein subjektiven Ursprungs nachzuweisen ist und nun keine 
Gegeninstanz mehr gegen die Erkenntnis der Flachenhaftigkeit des 
Gem&ldes bilden kann. Tast- und Gesichtsinn eigflnzen einander, und 
wo sie verschiedene Wahmehmungen erzeugen, fahren diese niemals zu 
logischen Widersprtlchen aber die Beschaffenheit des gleichen realen 
Objekts. Dafi aber Widersprflche zwischen den Wahmehmungen als 
sole hen aberhaupt nicht mOglich sind, sondem nur allenfalls auf Grand 
von Wahmehmungen in der Form von Urteilen gefolgert werden kOnnen, 
ist im Text wiederholt betont worden. 

45) Locke, a. a. O.: II, Kap.VIII, § 20. 

46) Um die Analogie vollst&ndig zu machen, mOfite das Phflnomen 
hinzugefagt werden: dafi Wasser die Tempeiatur zu wechseln scheint, je 
nach der Tempeiatur des Mediums, das meine Hand, welche die 
Wasserteraperatur empfinden soil, dabei zu passieren hat 

47) Auch bei den gewOhnlichen Wahmehmungen sind solche 
„ Tauschungen “ fast stets vorhanden und werden nur als zu unbedeutend 
meist abersehen. Die exakten Methoden des Messens und Wagens 
schaffen die geeigneten Bedingungen zur Ausschaltung von real ungttltigen 
Momenten in der Raumwahmehmung. 

48) Hier kdnnen die durch andre Lebewesen und andre mensch- 
liche Subjekte gesetzten Bedingungen for die Wahmehmung nach dem 
S. 1 28flf. Gesagten wohl als erledigt angesehen werden. Denn die aus 
diesen Bedingungen gefolgerte Verschiedenheit der Wahmehmungen fiber 
das gleiche Ding, am gleichen Ort, zur gleichen Zeit besteht far die 
Empfindungsqualitaten zwar in relativ grofiem Umfang, kann aber far 
die Unerkennbarkeit objektiv-realer Eigenschaften nicht mehr ins Feld 
geffihrt werden; filr die primaren Qualitaten lafit sie sich in den seltenen 
Fallen, wo sie besteht, restlos auf subjektive, im besonderen Fall waltende 
Ursachen (Blindheit, Astigmatismus, Kurzsichtigkeit, Femsichtigkeit) zu- 
rQckfflhren, welche, als solche aufgedeckt, die Erkenntnis des realen Ob- 
jekts nicht mehr kreuzen; oft genug kann sie nicht nur logisch, sondem 
auch sensuell — durch die gattungsmafiige Raumanschauung selbst, d. h. 
durch Beobachtung des Objekts unter andem Umstanden — aus der 
Beurteilung der Realitat eliminiert werden. Erst durch die Aufzeigung 
der Gesetze unsres Wahrheitsbewufitseins im Gebiete der 
Sinneswahrnehmungen, nach denen die aus logischen Er- 
wagungen auf Grund der Sinnesdata gefallten Urteile aber die 
wahrgenommenen Dinge, und nicht die Wahmehmungen selbst 
Wahrheit beanspruchen, wird die S. I28ff. behauptete Analogie 



362 


Anmerkungen zum dritten Kipitel. 


in den Aufierungen der sinnlichen Erkenntnis der einzelnenLebe- 
wesen verstfindlich. Inwieweit aber diese Aufierungen zu Schlfissen 
fiber die Existenz gleicher Erkenntnisse und eines gleichen Wahrheits- 
bewufitseins bei den andem Wesen bef&higen, wurde an obiger Steile 
ausffihrkch dargetan. 

49) Doch sind diese Namen zur Bezeichnung einer erkenntnis- 
theoretischen Grundrichtung hfichst unglficklich gewahlt. Was nennt sich 
z. B. nicht alies Positivismus, und kann sich mit Recht im Einklang 
mit der vagen Bedeutung dieses Terminus so nennen! Etwas eindeutiger 
scheint der Ausdruck Immanenzphilosophie; aber auch hier wird (ahnlich 
wie beim Positivismus) schon in den Titel die dogmatische Anmafiung 
gelegt, dafi die Grenze zwischen Immanenz und Transzendenz so laufe, 
wie es diese Richtung gerade annimmt Warum die Kantische Lehre 
hier noch keine Erw&hnung findet, siehe S. 209/210. 

50) Es sei noch einmal daran erinnert, dafi hier nicht die An- 
schauung eines einzelnen Idealisten geschildert wird, sondera die syste- 
matische Ansicht des Idealismus; sonst h&tte so wenig wie beim Rea- 
lismus ein bestimmter Ausgangspunkt angenommen werden dfirfen. 
Berkeley z. B. geht von logischen Erw&gungen aus (cf. Principles, die 
ersten Sektionen, Dialoge, die ersten Seiten von Dialog I); die modemen 
Immanenzler des 19. Jhd. nehmen vorzugsweise das „ naive Bewufitsein“ 
zum Ausgangspunkt. (Vgl. Avenarius, Kritik der reinen Erfahrung.) 

51) Diese Operation setzt natfirlich die Gfiltigkeit der Vemunft- 
axiome voraus, die von dem Skeptiker bestritten, im fibrigen seiner 
eigenen Bekampfung der sensualen Erkenntnis zugnmde gelegt, von uns 
aber erst bei der Kritik der rationalen Skepsis gesichert wird. (Vgl. 
S. 178 6ben und S. 333 ff.) Obrigens pflegt dieser Punkt, dafi der kon- 
sequente Idealist sich durchaus nicht nur auf die reine Erfahrung zu 
berufen brauche, sondem auch auf die logisch gedeutete Erfahrung 
stfitzen dfirfe, oft fibersehen zu werden. Und doch hat schon Berkeley 
in vollem Umfang „die Folgerungen aus Vemunftschlfissen von dem un- 
mittelbar Erkannten“ als durchaus gleichberechtigte Instanz hingestellt 
mit dem unmittelbar Gegebenen ffir die Beurteilung der Wirklichkeit in 
unsern erkenntnistheoretischen Ansichten. (Dialoge, a. a. O.: S. 79). Es 
benutzt also der Idealist — um mit Volkelt zu reden — sowohl das 
positivistische wie das rationalistische Erkenntnisprinzip, nur leugnet er, 
dafi die Anwendung des letzteren, die auch ihn zu Annahmen fiber 
die unmittelbare Erfahrung hinaus ffihrt, die Annahme realer, bewuBt- 
seinunabh&ngiger Objekte nfitig mache. (Dies gegen Volkelt, Kants 
Erkenntnistheorie, Leipzig 1879, S. i6off., der zwar: Erfahrung und 
Denken, Leipzig, 1886, S. 1 16 die Berechtigung, von der logischen Me- 
thode Gebrauch zu machen auch dem Idealisten zuspricht, aber ohne 
die Konsequenzen daraus zu ziehen. 



Anmerkungen zum dritten Kapitel. 


363 


5 2) Die These tnufite so allgemein formuliert werden, um die 
verschiedenen metaphysischen Anschauungen (Existenz der Dinge im 
gftttlichen oder GesamtbewuBtsein) aus dem Spiel zu lassen, denen die 
meisten idealistischen Erkenntnistheoretiker verfallen. 

53) Die Ausdrficke gesetzmaBig, notwendig, allgemeingfiltig usw. 
stehen hier jenseits der Alternative: absolut, relativ notwendig usw. 
Es handelt sich ja nur darum, die Gleichheit in den Wahraehmungen, 
soweit sie besteht, zu erklaren. 

54) Einige Idealisten nehmen sogar Urbilder im allgemeinen Geist 
an, die den sinnlichen Dingwahmehmungen der Menschen sehr ahnlich 
sind. (Berkeley, Dialoge, a. a. O.: S. 112.) 

55) Noch einmal sei an unsre Terminologie erinnert, nach der die 
Worte wirklich, nichtwirklich auch ffir diejenigen Unterschiede gelten, 
die zwischen beiden Begriffen innerhalb des BewuBtseins bestehen; rein 
bewufitseintranszendente, rein bewufitseinimmanente GrCfien sind stets 
durch die Worte real, ideal bezeichnet. 

56) Trotzdem die atomistische Hypo these von den Idealisten meist 
bekampft worden ist, halte ich hier an ihr fest, um den verschiedenen 
erkenntnistheoretischen Positionen die nam lichen naturwissenschaftlichen 
Anschauungen zur Erklarung vorzulegen. 

57) Das ist im Interesse des erkenntnistheoretischen extremen 
Idealisten hinzuzuffigen, da unwillkfirliche BewuBtseinszustande fflr 
diesen ja die objektive Wirklichkeit ersdidpfen. 

58) Der Ausdruck „ Reduktion“ steht hier wie im folgenden nicht 
in der von manchen Logikem (Sigwart, Logikll, S. 25off.) angenommenen 
Bedeutung der ZurfickfQhrung eines anderweitig als wahr erkannten Satzes 
auf mdgliche Pramissen; vielmehr bedeutet er hier: ZurfickfUhrung pro- 
blematischer auf unproblematische, nicht aber unproblematischer auf 
problematische Satze. Er wurde nur gewahlt, weil ffir die skeptische 
Logik das Beweisen der Wahrheit eines strittigen Satzes auf Grund 
andrer wahrer Satze der Punkt ist, an dem sie einsetzt; nicht 
aber die Ableitung oder Deduktion eines problematischen Satzes aus 
unproblematischen. 

59 ) v gl- dazu meine Studie fiber die „ erkenntnistheoretischen Vor- 
aussetzungen des griechischen Skeptizismus“. 

60) Sextus, P. I, 163. 

61) Sextus, P. Ill, 179, 182, 190 u. a. 

62) Sextus, P. Ill, 266. 

63) Sextus, P. Ill, I98ff. 

64) In den „ erkenntnistheoretischen Voraussetzungen" habe ich 
nachzuweisen gesucht, daB die Skepsis hier nicht eindeutig gewesen ist. 
Was die Existenz sittlicher Werte anlangt, so wird dieselbe a) an 
manchen Stellen ausdrficklich angenommen (Sextus, P. I, 145 flf.) , b) an 



3 6 4 Amjj^knogen aim dritten KqM. 

anderen bezweifelt (P. Ill, 278 u. a.), c) an noch andem gcleugnet 
(adv. Math. XI, 185 u. a.). Das letztere scheint Aenesidem getan zu 
haben: er Idste das gute und schlechte in subjektiv- individuelle Be- 
stimmungen auf und setzte das Gute dem jeweiligen Willensziel des Ein- 
zelnen gleich, verfuhr also hierin wie manche der jQngeren Sophisten in 
ihrer negativ-dogmatischen Ethik. (vgl. a. a. O.: S. 295 1 ). Am wei- 
testen entfemt zeigt sich die Skepsis von der AufTassung, dafi, wenn es 
Werte gSLbe, diese starre Realitaten fQr sich seien, in der Analyse des 
„ Erstrebenswerten “ (Sextus, P. Ill, 184SI; adv. Math. XI, 83 — 86). 

DaB Qbrigens auf ethisdiem Gebiete die realistischen Voraussetzungen der 
Skepsis abgeschwacht erscheinen im Verhaltnis zur Theorie der sinn- 
lichen Wahmehmung, ist eigentlich zu erwarten und trifft auch zu. (vgl. 
Phil. Studien XX, S. 2908!) 

65) Sextus, P. Ill, 233/234. 

66) DaB und wie das einzige positive Beiwort „zetetisch“ cum grano 
salis zu verstehen ist, siehe S. 350/51. 

67) Diese Verdammnis zur Untatigkeit als Konsequenz der skep- 
tischen Theorie erkannte schon Aristokles in seiner berQhmten Kritik 
der Skepsis bei Eusebius, praep. evang. XIV, 18. Aber die GrQnde dafftr 
erkannte er nicht, und die er angibt, sind falsch; denn sie beruhen auf 
der VemachlSssigung der positivistischen Phanomenologie im antiken Skep- 
tizismus. Die Argumente des Aristokles finden ihre Erledigung durch 
Diog. IX, 103 — 105; 107/108; aber in der Sache behalt er recht. 

68) Sextus, P. I, 22/23. 

69) Vorbildlich von Cicero vertreten: de finibus II, 80/81. 

70) Sextus, P. II, 246. 

71) Sextus, P: I, 102. 

72) Mach, Analyse der Empfindungen 1. Aufl. S. V u. S. 145. 

73) a. a. O.: I, 112. 

74) vgl. besonders Sextus, Math. VII, 30. 

75) Daher sind auch die jQngeren Skeptiker nicht etwa immanente 
Dogmatiker und nur transzendente Skeptiker im Sinne der in der Ein- 
leitung gegebenen Erkarungen. 

76) Das Reich der „ Matter" ist ja nur eine poetische Ausdrucks- 
weise fUr das Reich der Dinge an sich. 

77 ) vgl. S. 314, Anmkg. 75. 

78) Dies gegen Waddington, a.a.O.: S. 671 und Saisset, a. a. O.: 
S. 195 ff. 

79) So schon Staudlin a. a. O. 

80) So gleichfalls schon Staudlin; ein Beweis mehr, wie sehr auf 
diesem Punkte der Ausgang des 18. und 19. Jhd. einander gleichen.